Mittwoch, 1. Juli 2009

Chiko

Deutschland 2007 - Regie: Özgür Yildirim - Darsteller: Denis Moschitto, Volkan Özcan, Moritz Bleibtreu, Fahri Ogün Yardim, Reyhan Sahin, Lilay Huser, Philipp Baltus, Hans Löw, Lucas Gregorowicz - Prädikat: wertvoll - FSK: ab 16 - Länge: 92 min.

Chiko ist ein türkischer Kleindealer, der im Hamburger Kiez lebt, also in einer anderen Welt als der spießig-bürgerliche Schreiber dieser Zeilen, der „Chiko“ deshalb am liebsten dem Science-Fiction-Genre zuordnen möchte. Chiko fährt mit seinen Jungs um den Block. Im Auto hämmert Suburban Hip Hop und die Typen quatschen sich mit „Alder“ und „Digger“ an, was irgendwie schon komödiantisch wirkt. Aber wir sind nicht in „Kebab Connection“, es wird daher auch nicht besonders lustig, denn Chiko (Denis Moschitto) meint es ziemlich ernst. Er will nach oben. Als er einen anderen Dealer ‚abzieht’, gerät Chiko mit dessen Boss aneinander: Brownie (Moritz Bleibtreu) ist als Kiez-Größe ein anderes Kaliber als Chiko und sein Freund Tibet. Aber Chiko hat Glück. Er kann Brownie davon überzeugen, ihn anstelle des verprügelten Zuträgers einzustellen. Nun kann es nach oben gehen.

Zum Score des Films gehört ein Titel von KWA (Kanaken wollen alles) aus ‚Hammerbrooklyn’, und der beginnt mit „Du erkennst kaum dein eigenes Spiegelbild. Du bist zum Scheitern verdammt, bevor das Spiel beginnt.“
Özgür Yildirim, der bislang einige preisgekrönte Kurzfilme gedreht, gelingt in seinem von Fatih Akıns und Klaus Maecks Produktionsfirma Corazón International produziertem Erstling von Anfang an, diese bedrohliche Möglichkeit des Scheiterns am Horizont aufziehen zu lassen, ohne dabei elegisches Noir wie in einem der klassischen französischen Gangsterfilme à la Melville zu zelebrieren. Yildirims Helden sind ungebildet und roh, aber raffiniert und innerhalb ihres Machismos anfällig für Sentimentalitäten. Das sind gute Zutaten für eine dichte, zupackende Gangsterballade. Seine Vitalität bezieht „Chiko“ aus fast dokumentarisch wirkenden Alltags- und Familienszenen, andererseits aus einem rhythmischen Erzähltempo, das nicht nur durch den Score, sondern auch durch einen unruhig machenden, aber keineswegs hektischen Schnitt, langsam, aber unerbittlich gesteigert wird, bis allen, dem Zuschauer und den Protagonisten, keine Luft zum Atmen bleibt.
Das große Vorbild „Mean Streets“ von Martin Scorcese schaut ständig um die Ecke, aber Yildirim zitiert nicht, sondern transportiert das Thema in ein anderes Milieu und liest es neu aus: wie Charlie (Harvey Keitel) kann Chiko aufsteigen und er tut es auch eine Weile und wie Charlies Alter Ego Johnny Boy (Robert de Niro) hat auch Chiko einen Klotz am Bein, seinen Freund Tibet (Volkan Özcan), der heimlich in die eigene Tasche wirtschaftet und danach von Brownie zum Krüppel gefoltert wird und fürderhin als finsterer Todesengel auf Rache sinnt. Wie Charlie hat auch Chiko ‚seine’ Liebe – Meryem, eine Nutte (Lady Bitch Ray alias Reyhan Şahin).
Während in Scorseses Little Italy die katholischen Obsessionen die Sexualität deformieren, geht es bei Yildirim deutlich ungezwungener zu. Aber auch in dieser Parallelwelt geht es wie bei Scorsese um Religion: die Helden gehen in die Moschee und Chiko ist überzeugt seinen Freund Tibet gleich am Anfang davon, dass sein Gott ihm helfen wird, wenn er ihn von seinem Glauben überzeugen kann. Mit solchen kleinen Details erzeugt Yildirim eine enorme atmosphärische Präsenz, die es ihm auch erlaubt, neben dem Kernplot gleichzeitig auch ziemlich souverän das Gender-Problem im deutsch-türkischen Sub-Proletariat abzuhandeln (ziemlich überzeugend dabei: Reyhan Şahin als emanzipierte türkische Nutte).
Chikos Talfahrt beginnt, als er ganz oben angekommen ist: er erinnert an wenig an den dämlichen Henry Hill (Ray Liotta) in „Good Fellas“: großer Schlitten, eigenes Restaurant, Koks und viel Kohle, aber keine Strategie. Aber da ist auch ein Schuss James Cagney in Chiko und das ist dessen virulente Gewaltbereitschaft, die ohne Hoffnung auf Impulssteuerung förmlich explodiert. Tibet schießt auf Brownie, ohne Erfolg, und Chiko soll seinen längst fallengelassenen Freund aus dem Verkehr ziehen. Natürlich endet dies böse und am Ende wissen wir, dass wir lange darauf warten müssen, bis uns der gute alte „Tatort“ so schlimme Geschichten erzählt. Trotzdem rate ich davon ab, den Film ohne echte Milieukenntnisse als realistische Großstadtstudie zu komsumieren. "Chiko" ist wie viele Erstlinge zuerst Stil, also Form, und erst danach Inhalt, wenngleich das Echo des Wirklichen ziemlich laut dröhnt. Und als stilistische Fingerübung stellt "Chiko" locker das Meiste in den Schatten, was hierzulande mit Filmförderungsmitteln in die Kinos gespült wird.

Noten: Mr. Mendez, Melonie, BigDoc = alle 2. Damit hat sich „Chiko“ auf dem geteilten 2. Platz der Halbjahresliste platziert.
Neben diversen Auszeichnungen wurde Chiko für den Deutschen Filmpreis in den Kategorien Bester Spielfilm, Hauptdarsteller (Denis Moschitto), Drehbuch und Schnitt nominiert. Drehbuchautor Yıldırım und Cutter Sebastian Thümler gewannen den Preis.

Pressespiegel:
"Es gibt zwei Möglichkeiten „Chiko“ zu sehen: Als realitätsnahes Abbild dieser Parallelgesellschaft, oder als Gangster-Genrefilm. Liest man ihn als Soziogramm, dann könnte Roland Koch damit die beste Propaganda für die allerhärteste Ausländer-Abschiebe-Politik aller Zeiten machen. Denn ganz ehrlich: Diese Typen sind so widerwärtig, dass der menschenfreundlichste Hippie zum Immigranten-Feind wird. In Interviews ist zu lesen, dass Yildirim vorschwebte einen Gangster-Streifen zu drehen, womöglich im Geiste großer Genre-Meister wie Scorsese, aber dazu fehlt seiner Hauptfigur jene moralische Zerissenheit, die diese Genre-Helden ausmacht. „Chico“ hat weder eine Fallhöhe, noch steckt er in einem moralischen Dilemma, er ist einfach nur ein dummer, skrupelloser Typ, der über Leichen geht" (Sandra Vogell, Bayern 3).

"Chiko wurde just zu dem Zeitpunkt erstaufgeführt, als die polemisch geführte Debatte um kriminelle Jugendliche „mit Migrationshintergrund“ auf ihrem Höhepunkt war. Vor diesem Hintergrund ist es nicht unproblematisch, dass der Film als „authentisch“ beworben wird. Denn so genau und kenntnisreich der Film Milieu und Slang seiner Helden zeigt, so wenig erfährt man über deren Welt als konkreten historischen und sozialen Ort. „Ghetto“ und „Unterwelt“ bleiben hermetische, zeitlose Räume, die immer so waren und immer so bleiben. Und die wenigen Plätze und Menschen außerhalb dieses Kosmos – Chikos Ex-Freundin und ihre gemeinsame Tochter, eine islamische Gemeinde, die den flüchtigen Tibet aufnimmt – stehen fast bezugslos zum Rest des Films... Wenn er Pech hat, nützt er so denen als Anschauungsmaterial, die junge Männer mit Migrationshintergrund für die naturgemäß „gefährlichste Spezies der Welt“ (Der Spiegel) halten" (Maurice Lahde auf critic.de).

"Trotz der Anlehnung an große Vorbilder ist Yildirim etwas ganz Eigenes gelungen. Ein schnörkelloser Genrefilm mit der Wucht eines antiken Dramas. Denn in dem Moment, als Brownie Tibet misshandelt, weiß Chiko, dass er sich irgendwann gegen Brownie stellen muss, der ihn auf der Erfolgsleiter höhersteigen lässt und mit dessen Geld er und seine neue Freundin, die Prostituierte, sich eine schicke Wohnung leisten. Und den Lowrider" (Rudolf Worschech in epd-film).

"So erzählt "Chiko" nebenbei von den schlingernden Grenzverläufen im leicht-, halb- und schwerkriminellen Milieu. Der Film spielt zwar auch in Teestuben und Moscheen, aber eben auch in den Bungalows und Restaurants des neuen freien deutschen Unternehmertums. Anders als der spekulative Kiez-Schocker "Knallhart", mit dem Detlev Buck vor zwei Jahren billiges Futter für die Jugendgewaltdebatte lieferte, lässt sich "Chiko" deshalb weder von Sozialpädagogen noch von Islam-Kritikern instrumentalisieren.
Stattdessen behält Özgür Yildirim bei allem Sinn für Melodramatik einen klaren Blick für die Widersprüche seines Viertels. Denn Hamburg-Dulsberg ist natürlich gar kein richtiger Hexenkessel – es ist nur höllisch unübersichtlich. Glücklich, wem da beim Koksen nicht der Riecher kaputtgegangen ist" (Christian Buß in DER SPIEGEL).