Sonntag, 7. April 2024

„Charité“ - mit der vierten Staffel geht die Erfolgsserie zu Ende (TV-Kritik)

2017 fesselte die ARD-Serie „Charité“ über 8 Mio. Zuschauer. Der Marktanteil war mit 25% eine Sensation. Die beiden folgenden Staffeln sackten etwas ab, konnten aber immer noch Quoten um die fünf Millionen erzielen, obwohl die dritte Staffel nur noch aus drei Episoden bestand.

Mit der vierten Staffel geht das Erfolgsmodell zu Ende. Neu ist, dass nicht mehr die Medizingeschichte im Mittelpunkt steht, sondern die mögliche Entwicklung des mythischen Krankenhauses. Die Geschichte der Charité spielt nämlich im Jahr 2049.

Eine Reise in die Zukunft war nicht nötig, …

… denn die Gegenwart ist schlimm genug. Jahrzehntelang wurde in Deutschland die Notwendigkeit einer Reform unseres Gesundheitssystems von unterschiedlichen Regierungen konsequent negiert. Die Corona-Pandemie konfrontierte uns prompt mit einigen unbequemen Einsichten. Die Angst vor einem Kollaps des Systems war groß. Statt nun Vergangenheitsbewältigung zu betreiben, könnte man konstruktive Lösungen für kommende Pandemien entwickeln und das Gesundheitssystem generell von den gewinnorientierten Marktmechanismen abkoppeln. Ganz einfach, um es in den Dienst der Bürger zu stellen.

Das wird aber nicht geschehen. Tristesse überkommt einen, wenn man sieht, dass der reformbereite Bundes-Gesundheitsminister misstrauisch beobachtet wird. Kassenärztliche Vereinigungen tun dies, auch Pharma-Lobbyisten und andere, zum Teil informelle Interessenvereinigungen, kleben am alten System, obwohl ihre Presseabteilungen vollmundig das Gegenteil behaupten. Schwächstes Glied der Scharade ist dabei der Patient, der sich mit Wartezeiten von sechs bis neun Monaten anfreunden muss, um einen Facharzttermin zu bekommen. Oder in ländlichen Regionen permanente Mangel- und Unterversorgung erlebt.

Spannend war daher die Frage, was die letzte Staffel des ARD-Serienhits „Charité“ anbieten würde, wenn man die Handlung ins Jahr 2049 verlagert. Die ersten drei Staffeln waren Artefakte der Medizingeschichte, eingebettet in besonders fatale Phasen unserer Geschichte. Eine hoffnungsvollere Perspektive versprachen nun die Regisseurin Esther Bialas und ihre Autorinnen Tanja Bubbel (seit 2020 „Biohackers“) und Rebecca Martin. Und ein gewisser Optimismus ist durchaus zu entdecken, wenn man sieht, welche fiktiven Fortschritte die Neurobiologie im Jahr 2049 gemacht hat. Operationen werden mit Hilfe KI-gestützter Roboter durchgeführt. Krebs kann durch Impfung verhindert werden.

Fortschritt mit technologischen Innovationen gleichzusetzen war allerdings immer ein Problem, denn das Ganze kostet schließlich einiges. Und prompt wird der Zuschauer in „Charité“ mit der Kehrseite der Medaille konfrontiert: die aktuelle Bundesregierung in Gestalt des Gesundheitsministers Thomas Nguyen (Hyun Wanner) hat eine kostensparende Reform durchgedrückt - operiert wird nur noch derjenige, der in den zurückliegenden Jahrzehnten die Präventionsangebote des Gesundheitssystem angenommen hat. Hat man die erforderlichen Scorer-Punkte nicht angespart, ist man so gut wie tot. Armut, Bildungsdefizite, Ängste und Vorurteile verzeiht das System nicht. Und so toben die Betroffenen vor der Charité, um ihre Wut zu artikulieren.

Realistische Einschätzung der kommenden Jahre

„Charité“ hat als Serie mehrere Probleme zu bewältigen. Zunächst erwartet man von einer Reise in die Zukunft eine glaubwürdige und einigermaßen realistische Erzählung. Andererseits soll der technologische Fortschritt der Medizin spannend und utopisch dargestellt werden. Beides gelingt der Serie meistens. Ein Punktesystem für Kassenpatienten halten einige Mediziner für wahrscheinlich. Und angesichts der Antibiotikaresistenzen ist der Einsatz unbekannter Bakterien (der Kernplot der Serie) keineswegs unwahrscheinlich. Das wurde gut recherchiert und führt in der ARD-Serie zu überwiegend gut geerdeten Zukunftsvisionen, aber auch zu schönen Bildern, etwa wenn der Neurobiologe Ferhat Williamson (Timur Isik) mit seinen Locked-In-Patienten in einem Cyberspace am Meer motorische Trainingseinheiten durchführt. Auf dieses Enhencement wird man wohl etwas länger warten müssen.

Last but not least müssen die sozialen Probleme einer Reform, die an das chinesische Punktesystem erinnert, im inneren Kreis der Ärzte, Pfleger und der Krankenhausleitung reflektiert werden, ohne dass die Geschichte an Tempo verliert und nur noch aus Dialogszenen besteht. Man muss zudem medizinische Notfälle in die Handlung einbauen, um Stärken und Schwächen der Gesundheitsreform zu zeigen oder auch die Innovationen für den Zuschauer greifbarer zu machen, aber man darf es dabei mit den üblichen Erzählfloskeln einer Arztserie nicht übertreiben. Ein schwieriger Balanceakt.

Das alles unter einen Hut zu bekommen, ist der ARD-Serie nicht ganz gelungen. Das liegt nicht an der formelhaften Diversität der Drehbücher, in denen die Hauptfiguren überwiegend von Frauen gespielt werden. Auch nicht daran, dass dem Zuschauer ein breites Repertoire völlig neuartiger sexueller Beziehungen gezeigt wird, die durchaus phantasievoll sind, aber garantiert auch viele entsetzen werden.
Das mag ja alles trotzdem Teil unserer Zukunft sein. Das eigentliche Problem ist, dass das Autorinnen-Team bei der Plot- und Figurenentwicklung einfach nicht das Niveau erreichte, das man – sorry – in US-amerikanischen, britischen und französischen Serien regelmäßig zu sehen bekommt. „Charité“ kann daher nur selten den Spannungslevel bieten, der durch ambivalente, widersprüchliche Figuren entsteht, deren Krisen ihnen nicht formelhaft angedichtet werden. Ein Cast mit charismatischen Darstellern wäre auch hilfreich. Stattdessen sieht man eine Klinik-Chefin (Jenny Schily), die ziemlich klischeehaft als karrierebesessene Egomanin auftritt, und einen Gesundheitsminister, der seinen Job empathielos erledigt. Systemaffine Figuren halt.

Am Ende ein durchschnittliches Vergnügen

Das Dilemma zeigt sich auch beim Hauptplot. Ins „Charité“ werden zwei Patienten eingeliefert, die mit bislang völlig unbekannten Bakterien infiziert wurden. Die ist eine Aufgabe für die Mikrobiologin Dr. Maral Safadi (Sesede Terzian), die erst vor wenigen Wochen mit ihrer Lebenspartnerin, der Gynäkologin Julia Kowalczyk (Angelina Häntsch), nach Berlin zurückgekehrt ist, um die Leitung des Instituts für Mikrobiologie zu übernehmen.
Maral Safadi entdeckt, dass das Bakterium viele tausend Jahre im Permafrost Grönlands überdauert hat, nun aber aufgrund der Klimakrise aufgetaut und in die Nordsee gespült wurde. Natürlich will
Gesundheitsminister Thomas Nguyen nicht dauerhaft die Badestrände schließen (gut, das kennen wir zur Genüge aus „Der weiße Hai“), weil es danach zu keinen Infektionen mehr kommt (Präventionsparadox). Allerdings häuft sich die Zahl der Infizierten in anderen europäischen Ländern und alles wird zu einem Wettlauf mit der Uhr.

Sesede Terzian spielt die Mikrobiologin ziemlich überzeugend als gradlinige Wissenschaftlerin mit einem vorbildlichen moralischen Kompass. Am Ende wird ihre Figur mit einem spektakulären Selbstversuch gegen alle Widerstände beweisen, dass das Bakterium in hoher Dosierung zur Heilung der unterschiedlichsten Krankheiten verwendet werden kann. Aber erst, nachdem das System sie wegen ihres unkonventionellen Vorgehens ausgespuckt und beinahe vollständig zerstört hat.
Das hätte allein schon für ausreichend viel Drama sorgen können, aber leider wird der Figur noch eine Beziehungskrise angedichtet und da Marals Mutter, die Chirurgin Seda Safadi (Adriana Altaras), auch in der „Charité“ arbeitet, können zusätzlich alte Familientraumata mitsamt Hass-Liebe von Mutter und Tochter ausgelebt werden. Das wirkt überkonstruiert.

Unterm Strich ist das aber kein erzählerisches Desaster, aber eine originelle Storyline sieht anders aus. Gelungen ist immerhin die Geschichte von Seda Safadi, die in einem alten Flügel der „Charité“ ein Schattenreich etabliert hat, in dem Patienten heimlich von ihr operiert werden.

Die ARD-Serie ist am Ende ein eher durchschnittliches Vergnügen. Man spürt, dass zu den vielen Plot Twists acht statt sechs Episoden besser gepasst hätten. Aber auch das hätte nicht verhindert, dass in der Serie vieles zu floskelhaft bleibt und die meisten Figuren den Zuschauer nicht wirklich mitnehmen können in eine Zukunft der Medizin, die endlich einmal alles besser macht. Technologische Gimmicks helfen da nur wenig.

Schade ist es auch, dass man in Deutschland keinen Drehort mit den passenden Settings gefunden hat. Gedreht wurde die Geschichte des berühmten Berliner Krankenhauses im Lissaboner Pankreas-Zentrum. Und das hat durchaus eine allegorische Bedeutung.


Noten: BigDoc = 3


Charité – ARD und ARTE 2024 – 6 Episoden – Regie: Esther Bialas – Drehbuch: Tanja Bubbel (seit 2020 „Biohackers“) und Rebecca Martin – D.: Sesede Terzian, Angelina Häntsch, Adriana Altaras, Timur Isik, Hyun Wanner.