Freitag, 16. Oktober 2020

Les Misérables (Die Wütenden) - Gewalt in den Banlieues

Ladj Ly hat keine Filmhochschule besucht. Der farbige Regisseur ist in den Banlieues nahe Paris aufgewachsen, er ist Autodidakt und seine große Liebe ist die Kamera. Mit seiner ersten Regiearbeit erzielte er nicht nur den Durchbruch, sondern wurde über Nacht zum Shooting-Star der französischen Filmszene.
Der Film beginnt mit Bildern des Triumphes: auf den Straßen feiern die Menschen den Sieg der französischen Fußballmannschaft bei der WM 2018. Ladj Ly hat diese Bilder spontan eingefangen, er ist einfach mit der Kamera losgezogen. Das Material hat er im Prolog seines Films verwendet, man sieht überwiegend glückliche schwarze Kids. Aber die Gemeinschaft ist trügerisch: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit scheint es nur noch im Fußball zu geben. Für die Dauer eines Spiels“, interpretiert Ly die Bilder. Danach beginnt ein Film, der mit dieser Illusion endgültig aufräumen will.


„Les Misérables“ erzählt mit eindringlichen Bildern die Geschichte eines Tages. Eine Spezialeinheit der französischen Polizei nimmt einen Neuling mit auf die täglich Reise in die Banlieues von Montfermeil, einem Vorort von Paris. Stéphane heißt der Neue und was er sieht, hat mit Polizeiarbeit nur noch wenig zu tun. Die gewaltgeladene und brutale Polizeiarbeit endet mit einer Katastrophe. „Les Misérables“ erzählt dies mit einem wuchtigen Realismus, der unter die Haut geht.

Gesindel und Abschaum

Stéphane (Damien Bonnard) hat sich aus familiären Gründen in die Anti-Crime-Squad von Montfermeil versetzen lassen. Seine Kollegen Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djebril Zonga) ziehen den Rookie auf ihrer ersten gemeinsamen Tour durch den Pariser Vorort auf und verpassen ihm als Erstes einen lächerlichen Spitznamen. Besonders der aggressive Chris lässt nicht locker, er ätzt und stänkert. Was wie eine Initiation wirkt, spiegelt eher die zynische Arroganz des Cops wider: die Squad will der Herrscher im Viertel sein und bleiben, man steht über dem Gesetz, wie Rambos gehen die Cops auch gegen Kinder und Jugendliche vor, schikanieren und bedrohen sie, zerstören bei Kontrollen Handys, wenn sie bei ihrer Arbeit gefilmt werden. Neulinge in der Squad haben sich dieser Willkür anzupassen. Sie müssen mitziehen, sonst gehören sie nicht dazu. Während sich Gwada offenbar an seinen hysterischen Kollegen gewöhnt hat, macht Stéphane gleich am ersten Tag Erfahrungen, die nichts mit seiner Ausbildung zu tun haben.

Montfermeil, das wissen auch die Cops, ist der Ort, den Victor Hugo 1862 in seinem berühmten Roman „Les Misérables“ beschrieben hat. Es ist ein Ort für die Verlorenen der Gesellschaft, ein Ort, der im 20. Jh. auf dramatische Weise das Scheitern der französischen Migrationspolitik demonstriert. Hochhäuser in Plattenbauweise, verdreckte Straßen, Verfall, systemische Armut – hier lebt nicht mehr Jean Valjean, der zum Scheitern verurteilte Held aus Hugos Roman, hier lebt seit den 1970er Jahren eine Parallelgesellschaft mit überwiegend muslimischen Einwanderern aus dem Maghreb und Schwarzafrika, die sich selbst organisiert und stattlicher Autorität misstraut. Nur die Muslimbrüder versuchen noch, den Kindern und Jugendlichen Respekt und Selbstachtung und die Verhaltensregeln des Islam beizubringen. Nicht immer erfolgreich. 

Montfermeil war auch der Ort, in dem im Jahre 2006 auf den Straßen Riots, also gewalttätige Randale, ausbrachen. Sie waren die Fortsetzung der berüchtigten Unruhen in Frankreich, die 2005 in den Banlieues aufflammten und mit dem Tod zweier Jugendlicher begannen. Diese waren bei einer Personenkontrolle aus Angst vor der Polizei geflohen. Bei einem Unfall kamen sie ums Leben. Der verantwortliche Innenminister Nicolas Sarkozy bezeichnete die Opfer später als „Gesindel“ und „Abschaum“. Später erwiesen sich die Verdachtsmomente gegen die ums Leben Gekommenen als haltlos.

An der Schwelle des Zivilisationsverlustes

Dass Montfermeil ein Ort der Hoffnungslosen ist, erinnert nicht nur an Victor Hugos Roman, sondern auch an die Macht der Sprache. „Les Misérables“ bedeutet „Die Elenden“ und Hugo verwendete dabei häufig die französische Gossensprache „Argot“, eine Geheimsprache der Bettler und Kriminellen. 
So artifiziell ist der Soziolekt der in Montfermeil lebenden Menschen in Lys Film nicht. Ihre Sprache ist stattdessen voller Wut, hasserfüllt und obszön. Auch belanglose Dialoge enden mit Flüchen und Beleidigungen, in Krisen regieren nur noch die F-Words. Die unmittelbar bevorstehende Anarchie in Montfermeil wird durch die Primitivität (im Sinne von Schlichtheit) der Sprache vorweggenommen. Sie ist auch etwas anderes, nämlich die Ritualisierung der Ablehnung von Regeln und Moral.

Dies gilt auch für die Cops. Auch für sie ist diese Sprache ein Gewaltersatz, die letzte Warnung, bis sich ihre Gewalt beinahe naturgesetzlich entlädt. In Montfermeil befinden sich die meisten Menschen, besonders die Männer, daher an der Schwelle des Zivilisationsverlustes. Die Cops tun es auch. Denn vor diesem Hintergrund sind auch Chris und der zurückhaltende Gwada nicht nur Täter, sondern auch Opfer, und als diese sind sie die Produkte eines Assimilationsprozesses, der sie sozio-kulturell zugerichtet hat. Nach 20 Jahren auf den Straßen von Montfermeil sind sie moralisch vollständig kontaminiert, sie verstehen ihre Klientel, weil sie längst genauso denken. Der Rookie Stéphane wirkt dagegen mit seiner gutbürgerlichen Sprache und seiner ausgesuchten Höflichkeit auf seine Kollegen regelrecht obszön. Wenn Sprache das Denken prägt und vice versa, dann ist es Ladj Ly in seinem Film gelungen, diesen Kontext ohne großes Theoretisieren punktgenau mit grandiosen Bildern zu erzählen. Sie erinnerten mch an die Energie, mit der Spike Lee 1988 die Eskalation der Gewalt in „Do the Right Thing“ inszenierte.

In Lys Film eskaliert die Gewalt, als ein Löwenbaby aus dem Zirkus der Sintis gestohlen wird. Die wütenden Zirkusleute fordern den selbsternannten Bürgermeister (Steve Tientcheu) ultimativ auf, den Fall aufzuklären, die Cops wollen dies auch, weil sie sonst ihren Kontrollverlust befürchten.
Der Schuldige ist schnell gefunden: es ist der junge Issa (Issa Perica), der dumm genug war, sich mit Little Johnny, dem Löwen, fotografieren zu lassen. Das Foto landet auf Instagram, die Jagd kann beginnen. 
Als die Cops Issa auf einem Spielplatz entdecken, läuft die Festnahme aus dem Ruder. Issas Freunde wehren sich gewalttätig gegen die Festnahme, Gwada verliert in dem Tumult die Nerven und schießt Issa aus nächster Nähe mit einem Gummigeschoss ins Gesicht. Allerdings hat der junge Buzz (Al-Hassan Ly), dessen Lieblingsspielzeug eine Drohne ist, den Vorfall aus großer Höhe gefilmt und das Video wird nun für die Cops lebensgefährlich. Während Buzz verzweifelt Schutz bei Salah (Almamy Kanoute), einem Mitglied der Muslimbrüder sucht, wollen der „Bürgermeister“ und seine Gang diesen Beweis für Polizeiwillkür in ihren Besitz bringen, um die Cops unter seine Kontrolle zu bringen. Doch bei denen kippt kippt die Hierarchie. Stéphane ist empört, dass seine Kollegen kein Interesse daran haben, Issa ins Krankenhaus zu bringen, Der Neue in der Einheit stellt sich offen gegen Chris und wird später die Buzz‘ Speicherkarte in seinen Besitz bringen. Der Supergau ist vorprogrammiert.

Von der Anschauung ins Kino

„365 Days in Clicy-Montfermeil“ hieß die Dokumentation, die Ladj Ly als Ergebnis einer unmittelbaren Anschauung 2005 drehte und 2007 online stellte. Die Unruhen des Jahres 2005 fanden nämlich direkt vor seiner Haustür statt: „The riots erupted, right at the bottom of my building, and since I was always fiming, I had about 100 hours of rushes. I had offers from the media to buy my images as they were the only ones with an insider’s point.“

Als Achtjähriger lernte der 1978 in Mali geborene Ly den späteren Regisseur und Autor und zwei Jahre jüngeren Kim Chapiron in einem Freizeitzentrum kennen. Zum Film kam er, als Chapiron als Fünfzehnjähriger das Filmkollektiv Kourtrajmé gründete und Ly seine erste Digitalkamera kaufte. 2008 entstand der Kurzfilm „Go Fast Connection“, 2014 der Dokumentarfilm „365 jours au Mali.“ Nach „Infrarouge, À voix haut“, einer weiteren Doku, die 2017 entstand, versuchte sich Ly erneut an einem Projekt über seine unmittelbare Nachbarschaft: „Chroniques de Clichy-Montfermeil“. „Les Misérables“ war dann Lys erstes fiktionales Sujet, das 2019 u.a. in Cannes für die Goldene Palme nominiert wurde und am Ende den Preis der Jury gewann. 2020 folgte die Auszeichnung als Bester fremdsprachiger Film bei den Golden Globe Awards. Es folgten weitere Auszeichnungen, u.a. 2020 als Bester Film beim „César“.

„Les Misérables“ basiert in Teilen auf der 2007 online veröffentlichen Langzeitdoku, aber auch auf einem gleichnamigen Kurzfilm, den es im Bonusmaterial der im Mai dieses Jahres veröffentlichten Bluray/DVD des französischen Oscar-Beitrags 2020 zu sehen gibt. 2008 filmte Ladj Ly zudem auch einen brutalen Polizeieinsatz. Die verantwortlichen Polizisten wurden aufgrund der Bilder verurteilt.
Es hat viel Zeit erfordert, um aus den jahrelang aufgestauten Erfahrungen Filme zu machen. Für „Les Misérables“ wichtig, das betont Ladj Ly nachdrücklich, war das gute Team für das gute Ergebnis verantwortlich. Mit der Cutterin Flora Volpelièr arbeitet Ly seit längerer Zeit zusammen. Neu war der Kameramann Julien Poupard, der Ly gleich im ersten Gespräch überzeugte und zu jeder Szene kreative Ideen beisteuerte, so auch zur aufwändigen Schlussszene, in der sich die vermummten Kids um Issa mit den Cops eine brutale Schlacht in einem engen Treppenhaus liefern.
„Les Misérables“ ist so zu einem Film geworden, in dem nicht nur der Cast auf Laien- und Profidarstellern immer authentisch wirkt, sondern auch Rhythmus der Bildmontage enorm viel Drive freisetzt, ohne zu überpacen. Dem früheren Autodidakten Ly ist es auch gelungen, aus seiner Beobachtung der Realität zu einer Bildersprache zu finden, die nicht nur von der Story geleitet wird, sondern auch von den intimen Kenntnissen des Milieus, in dem sich Ly seit seiner Jugend bewegt. Und sei es nur eine kurze Szene, in der sich afrikanische Frauen an einem Tisch große Geldbündel zuschieben. Sie nutzen ein privat organisiertes Bank- und Kreditsystem, das dem Zuschauer fremd bleibt, bis es hilfsweise über einen Dialog erklärt wird. Diese Beobachtungen am Rande skizzieren ein Milieu, in dem die Menschen zwischen Islam, Kriminalität, Sozialleistungen, Drogenhandel und Gangs eine komplizierte Lebenswelt gestalten müssen.

Kein Realismus ohne Deutung

Auch Ladj Ly ist in diesem Mikrokosmos kein unbeschriebenes Blatt geblieben. Er wurde mehrfach verurteilt, nicht nur für Beamtenbeleidigung, sondern auch für Beihilfe zur Entführung und Freiheitsberaubung. Seine Biografie ist also kaum weniger ambivalent als die seiner Figuren und ihren realen Vorbildern. Was Ly von ihnen unterscheidet, das ist die Sprache der Bilder, die Grammatik des Films. Damit spricht „Les Misérables“ aber nicht mehr die Sprache des Milieus, sondern ihr elaboriertes Gegenstück. Auch wenn Ly in seinem Film viele Laiendarsteller eingesetzt hat, ist dies eine fast unsichtbare, aber immer noch sichtbare Trennlinie zwischen dem Filmemacher, seinem Sujet und der Realität auf den Straßen. Sie ist notwendig, denn sie trennt auch einen plumpen Naturalismus von dem, was immer wieder Debatten über filmischen Realismus und seine Wirksamkeit auslöst. Nämlich die Interpretation des Materials, und auch wenn seine Intentionen von Ly als unparteiisch beschrieben werden, können sie es fast zwangsläufig nicht sein. Das ist die Kraft der Fakten, die jedes Sozialdrama besitzt.
Emmanuel Macron hat den Film gesehen, er soll begeistert gewesen sein. An den Zuständen in den Banlieues hat dies wenig geändert. Ly zieht selber eine ernüchternde Bilanz. Nach den Unruhen von 2005 habe es zwar ein Programme de Rénovation Urbaine gegeben, zu dem die Schaffung neuer Wohnungen und neue öffentliche Dienstleistungen gehören sollten, aber Ly kommt zu dem Schluss, dass sich die Lage verschlechtert hat: „Das sind nur schöne Sätze.“ Fast alle Freizeiteinrichtungen seien mittlerweile geschlossen worden, für Kultur gäbe es keine Mittel und die Bildungssituation sei eine Katastrophe, beschrieb Ly das Leben in Montfermeil. Und tatsächlich durchstreifen die Kids in seinem Film tagsüber das Viertel, ohne dass man in Lys Film eine Schule sieht.

Am Ende werden es die Kids sein, sie sich mit ungeheurer Brutalität und einer beinahe militärischen Logistik an den Cops für die schweren Verletzungen Issas rächen wollen. Der kämpft mit entstelltem Gesicht an vorderster Front mit und das Ende des Films ist ein genialer Twist, der zwar nicht ganz neu, aber auf keinen Fall eine ästhetisch Spielerei ist.

Wem „Les Misérables“ am Ende nutzen wird, bleibt offen. Denn etwas dürfte klar sein: der Film wird polarisieren. Er wird die die bürgerlichen Zuschauer, die eine Affinität für „Law and Order“ besitzen, aufscheuchen und alle Vorurteile über Migranten und Migration an sich bestätigen. Für die als verblendete Gutmenschen verunglimpften Linken wird Lys Film die Gnadenlosigkeit eines Systems beweisen, das nicht gewillt ist, die sozialen Brennpunkte zu entschärfen. Depressive Hobby-Metaphysiker werden sich angesichts der Gewalt, die im Viertel herrscht, Gedanken über die Natur des Menschen machen, der schon immer schlecht war, ohne beweisen zu können, dass sich das Niederträchtige ohne Zutun der ökonomischen Verhältnisse dauerhaft reproduzieren kann.
Schlimm genug, dass alle ein wenig Recht haben. Migration hat ihre Grenzen, kulturelle Dissonanzen gibt es tatsächlich. Die Menschen von Montfermeil sind daher auch keine edlen Wilden, aber das sind die Upper-Class-Yuppies, die in noblen Wohnviertel wohnen, auch nicht, auch wenn sie sich verständlicherweise davor ängstigen, dass der Mob irgendwann vor ihrer Haustür steht.
Aber all dies bedeutet aber nicht, dass man soziale Probleme kaum lösen, sondern nur deckeln kann. Es wäre zu wünschen, „Les Misérables“ so differenziert zu sehen, wie es der Film verdient hat. Allerdings kenne ich außer Philippe Liorets „Welcome“ (2009) nur wenige Filme, die es geschafft haben, ein wenig an den Verhältnissen zu rütteln.

 

Noten: BigDoc = 1


Les Misérables (dts. Die Wütenden) – Regie: Ladj Ly – Buch: Ladj Ly, Alexis Manenti, Giordano Gederlini – Laufzeit: 105 Minuten – Kamera: Julien Poupard – Schnitt: Flora Volpelière – FSK: ab 16 Jahren – D.: Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djibril Zonga, Issa Perica, Al-Hassan Ly, Steve Tientcheu, Almamy Kanoute u.a.