Mittwoch, 11. November 2020

Motherless Brooklyn - gelungener Noir-Film von Edward Norton

Ein neues „Chinatown“ sei der Film von Edward Norton nicht, schrieb ein deutscher Kritiker. Das sollte er auch nicht werden. Der Verfilmung des gleichnamigen Erfolgsromans von Jonathan Letham fehlt der eisige Zynismus der Hauptfigur in Roman Polanskis Noir-Klassiker.
Norton hat in seiner zweiten Regiearbeit auch die Hauptrolle übernommen und spielt das Privat Eye stattdessen als zerbrechliche Person, die sich mit einem Tourette-Syndrom herumschlagen muss. Wer Geduld mitbringt, wird mit einem außergewöhnlichen Film belohnt.


Beherrscht von Worten und Zwängen

„Motherless Brooklyn“ ist ein stiltreuer Noir-Film, aber Edward Norton (Fight Club, Birdman), der das Private Eye in der Verfilmung des preisgekrönten Romans von Jonathan Lethem spielt, ist kein Noir-Held. Eher einer, dessen Figur Lionel Essrog in einem typischen Noir-Film der 1940er Jahre in der dritten Reihe hinter Humphrey Bogart spielen würde. Etwa einen traurigen Loser wie Elisha Cook Jr. ihn in Howard Hawks „The Big Sleep“ (1946) gespielt hat. Von seinen Kollegen wird Lionel „Freakshow“ genannt. Denn er leidet am Tourette-Syndrom, jener Epilepsie der Worte, die das Gehirn anfallartig produziert, ohne dass man es kontrollieren kann. So eine Figur stirbt dann meistens in der Mitte des Films auf traurige Weise. Und so einer gehört erst recht nicht zu den Siegern.
Nortons zweite Regiearbeit nach „Keeping the Faith“ (2000, dts. Glauben ist alles!) beginnt mit einem spektakulären Tod, denn der Auftritt von Bruce Willis ist denkbar kurz. Frank Minna (Bruce Willis), der in Brooklyn ein Detektiv-Büro leitet, muss zu einem Treffen mit einem Mann namens Max Liebermann (Josh Pais), seinem Auftraggeber, für den er in einem mysteriösen Fall ermittelt. Minnas Mitarbeiter Lionel und Gilbert Coney (Ethan Suplee) sollen das Gespräch heimlich abhören und zur Stelle sein, wenn es aus dem Ruder läuft. So kommt es auch, dann aber anders. Frank wird gezwungen, seinem Auftraggeber einige offenbar brisante Originaldokumente zu übergeben, Lionel und Gilbert kommen nach einer hektischen Autoverfolgungsjagd zu spät. Frank hat eine Kugel im Bauch, keiner weiß, ob das ein Unfall oder ein Mordversuch war. Frank stirbt im Krankenhaus und flüstert Lionel noch ein Wort zu. Aber das treibt Lionel in die Verzweiflung.

Von der Wortüberflutung, die diese Figur in Jonathan Lethems Roman beherrscht und den Roman wortwörtlich an die Sprachgrenzen treibt, kann ein Film nur eingeschränkt berichten. Aber wie Lionel dann Franks letzte Worte „For Moses“ einer fast zwanghaften Analyse unterzieht, so als seien sie ein Anagramm, das man nur richtig zusammenpuzzeln muss, damit es seinen Sinn verrät, das verrät über die Hauptfigur des Films eine Menge. Denn Lionel möchte die Sprache beherrschen, weil sie ihn beherrscht. Immer wieder brechen Flüche, aber auch bizarr erfundene Worte aus ihm heraus und es vergeht kein Gespräch, in dem er nicht seine Krankheit erklären muss, die auch sich darin ausdrückt, dass er zwanghaft Personen berühren muss. Das macht einsam.

„Motherless Brooklyn“ ist auch deshalb kein metaphorischer Filmtitel. Frank Minna hat Lionel diesen Spitznamen verpasst, als er ihn und seine Freunde Gilbert, Danny (Dallas Roberts) und Tony (Bobby Cannavale) aus einem Waisenhaus holte und sie zu Schnüfflern ausbildete: Minna’s Men. Und Lionel, der nicht nur ein fotografisches Gedächtnis hat, sondern auch – wen wundert’s – Worte nicht vergisst, macht es sich zur moralischen Pflicht, die Verantwortlichen für Franks Tod zur Rechenschaft zu ziehen.
Es dauert lange, bis er herausfindet, dass mit „For Moses“ der mächtigste Baumogul der Stadt gemeint war. Den gibt Alec Baldwin als Light-Version von Machiavelli und es ist sicher auch eine Anspielung auf den umstrittenen Stadtplaner Robert Moses. Baldwin spielt diese Figur nicht als narzisstischen Egoshooter, aber auf pragmatische Weise machtbesessen und skrupellos. Und dieser Moses Randolph hat auch die Mittel und die Männer, um dirty jobs erledigen zu lassen. Gerade zum Baudezernenten von New York ernannt, lässt er keinen Zweifel daran, dass er die Politiker in der Tasche hat. Bürgermeister inklusive. Und da „Motherless Brooklyn“ in den 1940er Jahren spielt und ein Noir-Film ist, gibt es neben Korruption und Totalversagen der politischen Administration eine Menge guten Jazz in Edward Nortons Film zu hören. Und ein Geheimnis, das den mächtigen Erbauer zahlreicher Brücken zu Fall bringen könnte.

Der Film erinnert an ein düsteres Kapitel der Stadtgeschichte

Natürlich hat Edward Nortons Film wie jeder verschachtelte Noir-Film gleich mehrere Themen. Zunächst erzählt er von der Geschichte der Stadtsanierung in N.Y. So bewahrt der Film wenigstens in groben Zügen ein Stück Historie, die womöglich längst vergessen ist. Norton zeigt, welche Folgen der 1934 erlassene National Housing Act hatte. Dessen neue Fassung führte im Jahre 1949 dazu, dass Städte zwei Drittel der Kosten für den Grunderwerb in vermeintlichen Sanierungsgebieten von der Bundesregierung erhielten. Diese führte zu einer brutalen Form der Gentrifizierung, denn das sogenannte Redlining erlaubte es, gewachsene Stadtviertel als Sanierungsgebiet auszuweisen, sie abzureißen und an ihrer neue Wohnblöcke mit höheren Mieten zu bauen. Den rücksichtslos vertriebenen Bewohnern wurde einiges versprochen, eingehalten wurde wenig. Ein Millionengeschäft.

Es dauert eine Zeitlang, bis Lionel zu verstehen beginnt, welche Strippenzieher sich eine goldene Nase verdienen zu wollen. Immer wieder wird er bedroht und zusammengeschlagen, aber er findet hartnäckig heraus, dass Frank sich besonders mit einer jungen farbigen Frau beschäftigte, Laura Rose (Gugu Mbatha-Raw, u.a. „Jupiter Asending“, 2015), die in einem Komitee zur Verhinderung der Stadtsanierung mitarbeitet.
Lionel gibt sich als Reporter aus und versucht von Laura Informationen über Moses Randolph zu erhalten, aber er will auch etwas über einen gewissen Paul (Willem Dafoe) erfahren, der Randolph auf einer öffentlichen Veranstaltung lautstark angreift. Als Lionel herausfindet, dass Paul tatsächlich Moses Randolphs Bruder ist, führt ihn seine Ermittlung, und das ist das andere Thema des Films, nicht etwa zu den Strippenziehern des Bauskandals, sondern zu einem gut gehüteten Geheimnis, das bis in die Jugendjahre von Moses und Paul zurückführt. Die wahre Amoralität versteckt sich nicht in der Stadtsanierung, sondern in einer Melange aus Sex und Vergewaltigung, die ohne den allgegenwärtigen Rassismus nicht diesen Bedrohungsgrad für Moses Randolph
besitzen würde. Und Lionel wird klar, dass Laura genau aus diesen Gründen umgebracht werden soll.

Wunderbare Bilder, mitreißende Musik

„Motherless Brooklyn“ ist an der Kasse gefloppt. Die US-Kritiker reagierten verhalten bis positiv auf Nortons Films. Während A.O. Scott in der New York Times von einem „smart movie“ sprach, „bristling with ideas about history, politics, art and urban planning“, schrieb Chris Tilly auf IGN, dass Nortons Film zu häufig in Sackgassen landen würde und enorme Probleme mit dem Pacing habe.

Tatsächlich ist „Motherless Brooklyn“ nicht einfach zu bewerten. Man spürt, dass dieses Projekt für Edward Norton, der neben der Regiearbeit auch die Romanvorlage eigenhändig adaptierte, eine Herzensangelegenheit gewesen ist. Aber Norton, an dessen Figur sich die Geschichte permanent entlanghangelt und der daher auch in fast jeder Szene zu sehen ist, findet in einem exzellent zusammengestellten Cast die richtige Balance zwischen seiner Dauerpräsenz und dem Potential, das die anderen Darsteller besitzen. Allein die Ambivalenz der Hassliebe zu seinem Bruder, die Willem Dafoe überragend verkörpert, macht den Film sehenswert. Auch Michael K. Wlliams („The Wire“, „Boardwalk Empire“ und aktuell in „Lovecraft Country“ zu sehen) verwandelt die Nebenrolle eines namenlosen Jazztrompeters in eine coole Power-Performance. Der Dialog zwischen ihm und Lionel über die Verwirrungen in ihren Köpfen, die der Musiker wenigstens mit seiner Trompete bändigen kann, zeigt, dass Norton auch als Scriptwriter ein Gefühl für starke Nebenrollen hat.

„Motherless Brooklyn“ ist zudem exzellent gefilmt. Es war nicht leicht, passende Locations für den Film zu finden, den Norton und sein Team jahrelang akribisch planten. Dick Popes Kamera (Pope zeigte bereits in „Mr. Turner“ Mike Leighs meisterlichen Film über den britischen Maler William Turner sein überragendes Stilgefühl und wurde für diese Leistung für den Oscar nominiert) lässt dieses New York wieder auferstehen, jede Einstellung ist ausgetüftelt. Nortons Film ist dank dieser ausdrucksstarken Bilder nicht nur stylisch, was den Noir-Look betrifft, sondern auch visuell voller Gefühl für eine längst vergessene Dekade, in der die Viertel der Armen von Bulldozern plattgemacht wurden, um die Monumente einer neuen Epoche aus den Trümmern herauswachsen zu lassen.
Der atmosphärisch überragende Original-Soundtrack wurde von Daniel Pemberton komponiert. Dazu gehören auch Tracks des bekannten Jazztrompeters Wynton Marsalis, darunter
„Daily Battles“, auch ein Song des Radiohead-Sängers Thom York. Marsalis arrangierte auf Nortons Wunsch das Stück im typischen Balladenstil, wie ihn Miles Davis in den 1950er Jahren pflegte. Der Soundtrack wurde bei den Golden Globe Awards 2020 als Best Original Score nominiert.


Ästhetisch spielt „Motherless Brooklyn“ also in der ersten Liga. Und das Tempo? Der 145 Minuten lange Film macht es dem Zuschauern nicht einfach. Wenn man in den endlos vor sich hin mäandernden Szenen manchmal verzweifelt „Cut“ ruft, spiegelt das die Gewöhnung an einen immer effizienter werdenden Filmschnitt wider, dem lange Szenen zuwider sind. Möglicherweise hat man sich auch an einen Montagerhythmus gewöhnt, der in regelmäßigen Abständen und fast obsessiv seine Actionszenen als Production Values präsentiert. Norton nimmt sich dagegen endlos Zeit für seine Figuren. Eine Szene in einer Bar endete erst, als zwei komplette Jazzstücke vollständig ausgespielt wurden und nur nebenbei auch ein wenig Handlung stattfindet. Vielleicht war der Regisseur in die Musik verliebt. Im Film dauert das über 10 Minuten
Aber je länger man dieser Detailverliebtheit zuschaut, desto intensiver stellt sich ein Feeling für den Film ein, das man sophisticated nennen kann. Zusammen mit Norton lässt man sich dann gerne gehen und taucht ab in einen atmosphärischen Film, der in den 1970er Jahren von den Kritikern besser verstanden worden wäre.
Heute ist das anders. Eine „unnötig aufgeblähte, überambitionierte Enttäuschung“ erlebte ein Filmstarts-Redakteur und meinte damit auch die lange Jazzszene, aber auch vermeintliche Anspielungen auf Donald Trump. Aber die sind nur zu erkennen, wenn man den Knochen zum Hund trägt. Oder wenn man Alec Baldwins Figur auf die Trump-Persiflage des Darstellers in „Saturday Night Live“ herunterbricht.
Das ist traurig, denn Norton hat sehr viel zu erzählen, und das meiste verdient es erzählt zu werden. Und dazu gehört auch eine schöne und wundersame Liebesgeschichte zwischen zwei zerbrechlichen Menschen, die auch nicht davon aufgehalten wird, dass Lionel Essrog in sensiblen Szenen immer wieder eine Unflätigkeit zum Himmel schreit. Susan Vahabzadeh hat das in der „Süddeutschen“ treffsicher auf den Punkt gebracht: „Motherless Brooklyn ist eine Herausforderung, man muss Norton schon aufmerksam zuhören, um ihm überallhin folgen zu können.“

Note: BigDoc = 1,5


Motherless Brooklyn - USA 2019 – Laufzeit: 145 Minuten. Drehbuch und Regie: Edward Norton. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Jonathan Lethem. Kamera: Dick Pope. Musik: Daniel Pemberton. D,: Edward Norton, Gugu Mbatha-Raw, Alec Baldwin, Willem Dafoe. Warner, Bruce Willis.