Freitag, 3. November 2017

Verleugnung

Gibt es geschichtliche Fakten, die sich einer Debatte entziehen, obwohl sie hieb- und stichfest bewiesen worden sind? Oder gehört es zu den postfaktischen Zeiten, dass alles neu verhandelt werden kann, auch wenn dabei gelogen wird, dass sich die Balken biegen? Mick Jackson und David Hare rekonstruieren in „Verleugnung“ den Prozess gegen die Historikerin Deborah Lipstadt, der 1996 in London mit der Niederlage des Klägers endet. Der hieß David Irving. Er ist bis heute einer der bekanntesten Holocaust-Leugner der Zeitgeschichte geblieben.

In dem amerikanisch-britischen Spielfilm „Verleugnung“ (Originaltitel: Denial) wird Deborah Lipstadt (Oscar-Preisträgerin Rachel Weisz), eine US-amerikanische Professorin für Holocaust-Studien, mit einer Verleumdungsklage konfrontiert, die der bekannte Holocaust-Leugner David Irving (Timothy Spall) in England gegen sie anstrengt. Der Grund: Die Historikerin hatte den zum Zeitpunkt des Prozesses 58-jährigen Buchautor in ihrem Buch Denying the Holocaust – The Growing Assault on Truth and Memory als Geschichtsrevisionisten und als Lügner bezeichnet und damit angeblich seine berufliche Reputation beschädigt. Nach britischem Recht liegt in einem Verleumdungsfall die Beweislast allerdings beim Angeklagten. Nicht David Irving muss seine Thesen untermauern, nein, Lipstadt musste dem Richter Sir Charles Gray beweisen, dass es den Holocaust gegeben hat.



Wahrheit oder Forensik?

Der 74-jährigen Regieveteran Mick Jackson (bekannt durch „Bodyguard“ mit Kevin Costner und Whitney Houston) folgt in „Verleugnung“ minuziös den Protokollen der 32 Verhandlungstage. Sie sollten 1996 vor dem Londoner High Court die Frage klären, ob in Auschwitz tatsächlich Juden vergast wurden und ob diese Frage überhaupt diskutabel ist. Dies mag angesichts zahlloser Auschwitz-Prozesse absurd erscheinen, da die bisherigen Verfahren einschließlich der Tondokumente und der Geständnisse einiger Angeklagter u.a. vom Fritz-Bauer-Institut und der UNESCO im Internet frei zugänglich gemacht wurden. In „Verleugnung“ müssen Deborah Lipstadt und ihre Anwälte allerdings diese Sachverhalte erneut aufrollen. Denn im Kern geht es um die Frage, ob David Irvings Bücher in einem zumutbaren Maß durch die Meinungsfreiheit abgedeckt sind und, obwohl schwer erträglich, Teil der akademischen Debatte sein können.

Jackson stellt dabei routiniert eine Balance zwischen der Dramaturgie des Courtroom-Dramas, dem Spannungspotential dieses Genres und der historischen Bedeutung des Themas her. Und wie immer in diesem Genre werden nicht nur die Akteure, sondern auch die Zuschauer damit konfrontiert, dass die formalen Aspekte eines Gerichtsverfahrens nicht immer mit dem intuitiven Gerechtigkeitsempfinden übereinstimmen. So wird Deborah Lipstadt ziemlich schnell mit der Erkenntnis konfrontiert, dass moralische Wahrheit und juristische Beweisführungen keine Synonyme sind.
Sie selbst soll auf Anraten ihrer Anwälte auf einen Auftritt vor Gericht verzichten, auch Überlebende des Holocaust werden nicht geladen, um sie nicht der destruktiven Rhetorik David Irvings auszusetzen – für die Beklagte moralisch eine schwer zu ertragende Strategie, will sie doch den Opfern eine Stimme geben.

Andrew Scott als Anthony Julius und der wieder einmal exzellente Tom Wilkinson als Richard Rampton verkörpern in „Verleugnung“ Deborah Lipstadts Anwälte. Julius ist der intellektuell brillante Stratege im Hintergrund, Rampton der Verteidiger, der vor Gericht das Gefecht mit David Irving führen soll. Besonders Rampton ist eine Herausforderung für die amerikanische Professorin. Die von Tom Wilkinson sehr wuchtig gespielte emotionale Distanz und das Desinteresse des Verteidigers an Nebenkriegsschauplätzen wirken auf die von Rachel Weisz möglicherweise eine Spur zu emotional gespielte Akademikerin wie ein Affront. Ein gemeinsamer Besuch des Lagers Auschwitz zeigt, dass Rampton einen Tatort besichtigt, während Lipstadt das KZ als Mahnmal wahrnimmt. Die langsame Annäherung zwischen Deborah Lipstadt und und ihrem Anwalt erzählt Mick Jackson nicht nur psychologisch, sondern auch aus methodischer Sicht sehr spannend und differenziert.

Den Verleumdungsprozess inszenieren Mick Jackson und sein Autor David Hare („Der Vorleser“) dagegen denkbar prosaisch. Vermutlich wird sich der eine oder andere Zuschauer fragen, warum vor dem High Court nicht umstandslos die Untersuchungen und Ergebnisse der bereits abgeschlossenen deutschen Auschwitz-Prozesse als Beweismittel verwendet wurden. Stattdessen beginnt die Beweisführung wieder von vorne. Irvings Thesen und auch seine Quellen und Rechercheergebnisse
werden haarklein analysiert, Experten sagen als Zeugen aus und Fakten mit bereits erwiesener Evidenz werden erneut unter die Lupe genommen. Eine kleinteilige Herkulesarbeit.

Dabei konzentrieren sich Jackson und Hare besonders auf ein Prozessthema: War es bautechnisch möglich, Zyklon B in die Gaskammern einzuleiten? Gab es Öffnungen im Dach der Gaskammern, die ausschließlich diesem Zweck dienten. Oder hatte Irving Grund zu der Annahme, dass in Auschwitz-Birkenau lediglich Entlausungsmaßnahmen vorgenommen oder Kleider gereinigt wurden, aber zu keinem Zeitpunkt Juden vergast worden sind?
„No hole, no holocaust“, argumentiert Irvings sarkastisch seinen Standpunkt. Mit anderen Worten: Vor dem Prozess findet eine forensische Beweisermittlung in verfallenen Ruinen statt, deren Fortsetzung während des Prozesses emotional sehr irritierend wirkt. „Verleugnung“ erzählt eine beinahe absurd wirkende Geschichte, die den Eindruck vermittelt, als würde der High Court den Prozess gegen Galileo Galilei erneut aufrollen wollen. Dreht sich die Sonne vielleicht doch um die Erde?
Das vermeintlich Absurde erweist sich aber als Stärke des auf einer autonomen Beweisführung beharrenden britischen Rechtssystems. Historische Gewissheiten werden geprüft, bis sie bewiesen sind. Und insgeheim fagt man sich, ob deutsche Geschichtslehrer ohne gründliche Vorbereitung ihren Schülern den Genozid an den europäischen Juden beweisen könnten, wo es doch keine Filme gibt, die das Geschehen in den Gaskammern dokumentieren. Dies ist dann auch genau der Angriffspunkt, den Geschichtsrevisionisten wie David Irving argumentativ nutzen.

Mick Jackson scheint dennoch, und das überrascht ein wenig, am Ende weder seinem Film noch den zahllosen Quellen zu trauen. Die letzten Bilder des Films zeigen tatsächlich die ominösen Löcher im Bauschutt der verfallenen Dächer. Allerdings kann der Zuschauer nicht wissen, ob dies Studioaufnahmen sind oder reale Aufnahmen, die vor Ort entstanden. Solche Beweise hat das Kino allerdings nicht nötig. Auch „Verleugnung“ braucht keinen Kamerabeweis, in dem der Regisseur auf seine Deutungshoheit hinweist. Erst recht nicht, wenn es Gründe geben sollte, die Authentizität dieser Aufnahmen anzuzweifeln. 


Die Urteilsbegründung ist lehrreicher als der Film

David Irving verteidigt sich in dem Verfahren selbst und inszeniert vor den Medien geschickt einen David gegen Goliath-Konflikt. Keine leichte Rolle für Timothy Spall, der zu den auffälligsten Charakterdarstellern der Gegenwart gehört. Seine Darstellung des britischen Landschaftsmalers William Turner machte aus Mick Leighs Biopic „Mr. Turner“ (2014) ein Meisterwerk.

In „Verleugnung“ gelingt es Spall, eine Dämonisierung von David Irving zu vermeiden. Den selbsternannten Historiker spielt Spall als manipulativen Agitator, dekonstruiert dabei aber auch den spießigen Fanatiker, dem es letztendlich darum geht, um jeden Preis einen Platz in der akademischen Fachwelt zu erhalten. Dies wird ihm verwehrt, Irvings Thesen werden von den Gutachtern gnadenlos zerpflückt. Er verliert. Und die Anwälte der Gegenseite geben ihm nach Prozessende nicht einmal die Hand.

Aber auch Spall gelingt es nicht, die erkennbare Eindimensionalität des Drehbuchs bei seiner Figurenzeichnung zu überwinden. Mick Jackson soll Irving als „Monster“ bezeichnet haben. Das bezeugt zumindest ein gewisses Desinteresse. Was Irving tatsächlich antrieb, warum er bereits in den frühen 1960er Jahren in seinem Buch „Der Untergang Dresdens“ die Opferzahlen nach oben korrigierte und Quellen fälschte oder zumindest in seinem Sinne umdeutete, bleibt psychologisch im Nebel. Auch dass Irving bis heute ein integraler Bestandteil der kulturellen Blase geblieben ist, in der sich Neo-Nazis und Antisemiten jedweder Couleur bewegen, hätte Erwähnung verdient – immerhin organisierte der Brite noch vor einigen Jahren trotz wütender Proteste für seine Anhänger eine Vortragsreise, bei der auch das KZ Treblinka besucht wurde.

Trotz dieser Schwächen ist „Verleugnung“ ein wichtiges Stück Kino. Dies liegt zu großen Teilen an der historischen Bedeutung des Prozesses, nicht immer an den Qualitäten des Films. Über die historische Relevanz erfährt man einiges in „History on Trial“, dem Buch, das Deborah Lipstadt über den Prozess geschrieben hat. Allerdings auch im Britischen Nationalarchiv. Dort wurde die Urteilsbegründung online eingestellt – ein Dokument, das über 240 Seiten umfasst und sich auch sehr detailliert mit Irvings Thesen über die Bombardierung Dresdens auseinandersetzt. Die akribische Arbeit des Richters Charles Gray darf als exemplarisch bezeichnet werden – sie ist lehrreicher als Film.

Diese Quellen zeigen die schwer zu vermeidenden Limitierungen des Mediums Film auf, das auch in „Verleugnung“ zu einer extremen dramatischen Fokussierung gezwungen ist. 


In Jacksons Film gelingt allerdings - zumindest für den aufmerksamen Zuschauer – die Vermittlung des komplizierten Kernthemas. Es ging in dem Prozess nur vordergründig darum, den Holocaust zu beweisen, sondern vielmehr um die Klärung der Grenzen, die zwischen einer legitimen Diskussion über Quellen und deren betrügerischer Fälschung gezogen werden müssen. 
Auch im Film steht deshalb die Frage des Richters Charles Gray im Fokus: Kann jemand, der an seine Lügen glaubt, als Lügner bezeichnet werden?
Gray gab eine Antwort: In der Urteilsbegründung wurde Irving als Rassist, Antisemit und Neo-Nazi bezeichnet – und was entscheidend ist: er log mit Vorsatz. 
Nach dem Prozess erklärte Irving seinen Anhängern, dass eigentlich er gewonnen habe. Alternative Fakten, die Beklemmung auslösen.
Erst recht, weil sie wieder sehr aktuell sind. 2015 wurde vom OLG Naumburg unter Verweis auf das „Interesse der Meinungsfreiheit“ ein NPD-Politiker nach der Veröffentlichung eines Gedichts in zweiter Instanz freigesprochen. Seine Holocaust-Leugnung bezeichnete das OLG als „Beteiligung an einer Diskussion“. Die Urteilsbegründung liest sich wie eine hermeneutische Textauslegung. „Ein Skandalurteil erster Klasse“ nannte dies die „Frankfurter Allgemeine“ (s. Quelle). Charles Gray wäre das garantiert nicht passiert.


Der Film ist seit August 2017 auf Bluray und DVD erhältlich.

Noten: BigDoc = 1,5, Klawer, Melonie = 2


Verleugnung – Originaltitel: Denial – GB, USA 2016 – Regie: Mick Jackson – Buch – David Hare – nach dem Buch „History on Trial: My Day in Court with a Holocaust Denier“ von Deborah Lipstadt – Länge: 110 Minuten – FSK: ab 12 Jahren – D.: Rachel Weisz, Tom Wilkinson, Timothy Spall, Andrew Scott, Alex Jennings

 

Quelle