Mittwoch, 1. November 2017

The Deuce - David Simons neue Serie fordert Geduld

Man soll es nicht tun. Nämlich Serien daran zu messen, was der oder die Showrunner zuvor gemacht haben. Aber man tut es. David Simon, der zusammen mit Ed Burns „The Wire“ kreiert hat, erzählt nun zusammen mit George Pelecanos in „The Deuce“ von der Erfindung der Pornoindustrie in den frühen 1970er Jahren. Eine interessante Geschichte, eine gute erste Staffel – „The Wire“ wird aber nicht vom Thron gestoßen.

Die Geschichte mit den Pornos kommt später, sie schleicht sich langsam an. „The Deuce“ erzählt überwiegend von Prostituierten und ihren Zuhältern. Das Zeitkolorit der 1970er Jahre fängt die Serie dabei visuell überzeugend ein. Der Times Square: dreckige Straßen, auf denen Unrat liegt und sich Penner in den Kellereingängen durch die Nacht bringen. Vergammelte Häuser, Neppläden für Touristen, Striptease-Bars und die nicht sonderlich einladenden Kinos auf dem Strip, in denen Bertoluccis “The Conformist“ oder „The Omega Man“ gezeigt werden. Sie warten förmlich darauf, dass bald ganz andere Filme über die Leinwand laufen werden. Und wer das Herz des Broadways so kennt, wie heute aussieht, wird es zu schätzen wissen, dass „The Deuce“ die Spuren des Niedergangs dieses legendären New Yorker Künstlerviertels so naturalistisch in Bilder fasst. Wohin das führt, kann man ahnen, wenn Curtis Mayfield im Main Title „Don’t worry. If there’s a hell below, we’re all going to go“ singt.



Gelegentlich sprunghaft und auch nicht einfach

Rund um diesen Times Square ist die Geschichte angesiedelt. The Deuce – das ist die 42. Street zwischen Broadway und 8th Avenue, durchgeschüttelt von der Depression, in der viele Theater dichtmachten und es danach bis in die 1980er Jahre nur noch bergab ging. Und wie immer bei David Simon gibt es eine Menge Figuren, an die man sich gewöhnen muss. Zuhälter, Nutten, Cops und Gambler, einen gewitzten Barkeeper und seinen durchgeknallten Zwillingsbruder, beide souverän verkörpert von James Franco, dem man wirklich abnimmt, dass er das ‚Live by Night‘ auf dem Strip und in den überfüllten und lauten Bars wie kein anderer verkörpert. Männer wie er gehen nicht einmal schlafen, wenn im Morgengrauen die letzten Gäste gehen und die Müllabfuhr die schwarzen Säcke in die Müllwagen wirft.

Und da ist noch die Mafia, die schnell wittert, wo das nächste Geschäft zu machen ist. Natürlich erzählt die neue HBO-Serie auch von Frauen, nicht nur jenen, die auf der Straße ihr Geld verdienen, sondern auch von solchen, die etwas von den Nutten wissen wollen – etwa von der farbigen Journalistin Sandra (Natalie Paul), die sich mal als Anthropologin, dann als Schriftstellerin ausgibt, tatsächlich aber im Milieu recherchiert, um Korruption aufzudecken. Auch sie muss für die Gespräche mit den Frauen auf dem Strip zahlen, denn Zeit ist Geld und wenig Geld kann für die Frauen auf dem Strich eine Tracht Prügel bedeuten. Die Zuhälter sind überall.
Diese Frauenfiguren sollen in der neuen HBO-Serie nicht nur das brutale Geschäft mit dem Sex in all seinen Facetten ausleuchten, sondern auch das erzählerische Vehikel für die Durchleuchtung der ökonomischen Strukturen sein, die vom Straßenstrich in die Pornostudios führen. Wer verdient? Das ist eine Frage. Wer verdient nicht, wer bleibt auf der Strecke? Das ist die andere Frage.

Beantwortet wird so etwas bei David Simon erst dann, wenn er sein analytisches Netz vollständig ausgeworfen hat. Da kann es schon einige Staffeln dauern, bis man eine Figur und ihre Funktion in der Geschichte endgültig verstanden hat. In „The Deuce“ gelingt dies in der letzten Episode „Au Reservoir“ sehr kunstvoll, aber man muss warten und Geduld haben mit der neuen Serie.

David Simon und George Pelecanos, der bereits für Simons „Treme“ einige Bücher schrieb, haben versucht, ihre sprunghafte Erzählstruktur ein wenig zu zügeln. Dies erledigt James Franco, der sowohl den erfolgreichen und cleveren Barkeeper Vincent Martino als auch seinen windigen Bruder Frankie verkörpert. Vince besitzt das unnachahmliche Talent, eine Bar auf Vordermann zu bringen. Dazu gehören Ideen und Menschenkenntnis, wobei letztere garantiert nicht aus Illusionen besteht. Im Cold Open des Piloten wird er überfallen, kleine Ganoven wollen ihm die Tageskasse abnehmen. Sie kommen zu spät und Vince regt die Attacke nicht einmal sonderlich auf. James Franco ist mit seiner Doppelrolle so etwas wie das Bindeglied der Story, in seiner Bar laufen viele der lockeren Erzählfäden zusammen.

Was Vince an Kohle reinholt, verliert Frankie bei Sportwetten. Und schon ist die Mafia ante portas: Vince soll für die Schulden seines Bruders aufkommen. Dies verlangt nach intelligenten Lösungen, aber auch wenn Frankie nervt, lässt ihn Vince nicht fallen. Am Ende werden Vince, Frankie und ihr Schwager Bobby (Chris Bauer war auch „The Wire“ mit dabei) tief darin verstrickt sein, die legalen Geschäfte der Gambino-Familie zu führen: Bars, als Massagesalons getarnte Bordelle, aber auch Pornokabinen mit Münzautomaten, die nonchalant The Mastubatory genannt werden.
Frankie ist die Wiedergeburt von „Johnny Boy“ aus Martin Scorseses „Mean Streets“ (1973), ein Film, der keinen geringen Einfluss auf „The Deuce“ hat. Während Scorsese Film eine Skizze der Kultur in Little Italy war, ist Simons Serie ein soziologisches Traktat über den Niedergang eines Stadtteils, in dem die agierenden Menschen irgendwie an den Strippen einer Subkultur hängen, in der es fast darwinistisch um käuflichen Sex geht und auch darum, dass man beim Versuch, maximalen Profit aus der menschlichen Libido zu ziehen, nicht sang- und klanglos untergeht.


Die Fäden laufen am Ende zusammen

Natürlich soll auch „The Deuce“ Geld heranschaffen. HBO ist nach wie vor auf der Suche nach einem Zugpferd. Aber so viel sei schon gesagt: Simons reflexives Zeitportrait wird bestimmt nicht der Nachfolger von „Games of Thrones“ werden. Dazu ist die Serie – mal wieder – zu komplex. Und – man muss es sagen – auch zu gut.

Das war auch bei „The Wire“ nicht anders. Die Serie streifte in ihren besten Zeiten bei Metacritic die 100%-Prozent-Marke. Die Nielsen-Ratings spiegelten diese Anerkennung nicht einmal ansatzweise wider. Die Serie stand zwischendurch vor dem Aus, die 5. Staffel war sozusagen ein Giveaway. Mittlerweile zum Mythos geworden, schwärmen heute wohl auch smarte Partygänger von „The Wire“, obwohl sie keine einzige Folge gesehen haben.

Die ersten drei Episoden von „The Deuce“ blieben im Nielsen-Rating mit Werten von 0.8 – 0.9. knapp unter der Millionengrenze. Geändert hat sich bis zum Schluss daran nichts. Das ist nicht schlimm, denn dass Simons raffiniert konstruiertes, aber auch am Anfang nicht leicht zu verstehendes Narrativ, ein Spätzünder werden kann, ist nicht ausgeschlossen. Um das zu erfahren, müssen die Entscheider bei HBO aber Geduld haben. Das scheint der Fall zu sein, denn bereits nach dem Piloten bestellte HBO die zweite Staffel. 
„HBO is a serious outfit. And they don‘t scare“, kommentierte David Simon diese Entscheidung.

Ob die Zuschauer noch auf den fahrenden Zug aufspringen? Warum soll trotz der mangelnden Resonanz „The Deuce“ eine gute Serie sein?

Das liegt an ihren Mängeln, die erst später zeigen, dass sie keine sind. Am Anfang von David Simons Serie muss man sich an die vielen Figuren gewöhnen, danach hat man im Mittelteil das Gefühl, das der Main Plot nicht vorankommt, und wenn schließlich die achte Episode „Au Reservoir“ enormes Tempo aufnimmt, dann bedauert man, dass alles vorbei ist.
Irriatationen entstehen anfänglich auch deshalb, weil sich David Simon einfach nicht an die Dramaturgie der meisten TV-Serien anpassen will. Bereits In „The Wire“ war der Pilot anfangs unübersichtlich. Das änderte sich spätestens in Staffel 3, und wenn man alles gesehen hatte und sich das epochale Meisterwerk zum zweiten Mal anschaute, ergab alles plötzlich einen Sinn.


Ob das heute noch funktioniert, ist fraglich. In Zeiten des sogenannten Peek TV stehen die Zuschauer vor einer massiven Überfütterung. Häufig entscheidet der Pilot, ob man dabeibleibt. Aber David Simon und George Pelecanos erzählen eben keine Geschichte, die sich am Anfang an einer klar definierten Hauptfigur entlanghangelt und schrittweise das übrige Personal in den Plot einfügt. Stattdessen wirft „Pilot“, so heißt die erste 85-minütige Episode tatsächlich, den Zuschauer in eine unübersichtliche Abfolge von episodisch aneinandergereihten kleinen Geschichten, in denen nicht wenige Szenen kaum länger als zwei Minuten sind, bevor die Kamera zur nächsten Figur springt.


Das wäre vertretbar, wenn auch die Nebenfiguren Interesse erwecken würden. Die meisten kommen aber nicht an den charismatischen Cast von „The Wire“ heran. Das gelingt weder Gary Carr als Zuhälter C.C., hinter dessen Charme sich ein kaltblütiger Killer verbirgt, noch Gbenga Akinnagbe als harter, verschlossener Zuhälter Larry Brown. Deutlich interessanter ist da schon die Rolle des farbigen Cops Chris Alston (Larry Gilliard JR. spielte in „The Wire“ den Drogengangster D’Angelo Barksdale). Alston ist ein Moralist auf leisen Sohlen, der genau beobachtet, wie seine Kollegen auf dem Strip Schutzgelder kassieren. Er wird später die Journalistin Sandra mit Insiderinformationen versorgen.

Ihnen stiehlt allerdings Maggie Gyllenhaal als Eileen „Candy“ Merrell die Show, eine selbstbewusste Prostituierte, die keinen Zuhälter an sich heranlässt und intelligent genug ist, um zu ahnen, dass die mickerige Pornofilm-Branche auf dem Sprung ist, zu einem Riesengeschäft zu werden.
Wie bei allen anderen Figuren schaut David Simon auch hier nicht in das Innenleben seiner Figuren, sondern verdeutlicht ihr psychologische Movens anhand ihrer Taten und Entscheidungen. Das gilt auch für Eileen, die den Sprung von der Straße in das kleine Pornostudio von Harvey Wasserman (David Krumholtz) schafft und schließlich als Regisseurin so viel Talent offenbart, dass Wasserman darüber staunt, wie sie Bumsen vor und mit der Kamera „erzählt“, statt platt abzufilmen.
Zwei spannende Figuren. Eileens Bruder, dass erfährt man zum Schluss, wurde vom tyrannischen Vater wegen seiner Homosexualität in eine Spezialklinik verfrachtet und dort mit Elektroschocks traktiert – man sollte lieber nicht glauben, dass die 1970er Jahre ein Hort der Aufklärung waren. Und Wasserman erkennt staunend in Eileens Kameraregie Momente von Hitchcock und Truffaut. Was Eileen auf die Straße und Wasserman hinter die Pornokamera gebracht hat, erfährt man in der ersten Staffel von „The Deuce“ allerdings nicht. Trotzdem laufen am Ende die Fäden zusammen.
„Candy“ sieht die Veränderungen mit großem Staunen, dann analysiert sie und begreift nach einigen eigenen Erfahrungen, dass das richtige Geld beim Pornodrehen nicht vor der Kamera zu holen ist, sondern hinter ihr. Zu wissen, warum ein Geschäft funktionieren wird und zu lernen, wie man Filme produziert, sind kluge Schritte. Allerdings bedeutet die Kontrolle über die Produktionsmittel nicht, dass man auch die Gewinne kontrolliert. Und schon ist man beim Hauptthema von „The Deuce“.


Sex ist in „The Deuce“ meistens langweilig und harte Arbeit

„Blue Films“ waren in den USA streng verboten. Das galt nicht nur für die Produktion, sondern auch für das Betrachten. „The Deuce“ erzählt von dem Zeitfenster, das sich nach der Einführung des 8-mm-Films und der Super 8-Kameras und vor dem Durchbruch der Schmuddelfilme im Jahre 1972 öffnete. Die neuen mobilen Techniken erlaubten es auch Amateuren erotische Filme zu drehen. Mit der Legalisierung des Pornofilms folgten die Amerikaner mit einiger Verspätung den liberalen Europäern. 1972 sorgte „Deep Throat“ für entsprechendes Aufsehen.

Auch davon erzählt „The Deuce“. Und davon, dass ein cleverer Zeitgenosse notgeilen Männern für 50 Dollar Tickets für das Zuschauen beim Pornodreh verkauft - dabei ist gar kein Film in der Kamera. Trotzdem ist der Saal voll und die Kerle zahlen gerne mehr als für einen Blowjob auf dem Strip. Sex und Phantasie gehören zusammen, und die Phantasie mit ihren unendlichen Abgründen ist machtvoll. Später werden die Gesetze in N.Y. liberaler. Hardcore-Pornos laufen in den großen Kinos und ein schwuler Akteur bekommt plötzlich eine Kritik in „Variety“.

Für die Huren und ihre Zuhälter beginnt ein schleichender Prozess der Veränderung. Zunächst vermieten die Zuhälter ihre Damen an intime Massage-Salons der Gambino-Familie, dann stellen sie fest, dass sie tagsüber nichts mehr zu tun haben und kurz davorstehen, überflüssig zu werden. Und dann begreifen sie, dass Sex nicht handfest sein muss. Kopfkino tut es auch, erst recht, wenn man diskret in einer Kabine seinen erotischen Phantasien nachjagen kann, ohne dabei beobachtet zu werden. Trotzdem bestehen die Zuhälter, die sich tagsüber mit Gesprächen die Zeit vertreiben, darauf, dass sie auch vom Wandel des Sex-Business nicht fortgespült werden. Doch ihr Revier zwischen Broadway und 8th Avenue löst sich auf. Die Politik will das alte Künstlerviertel wieder tauglich für seriöse Touristen machen. Die Ökonomie wird C.C. und seine Kollegen schon bald verdrängen.

Das Ökonomische wird in der Serie langsam aufgebröselt und „The Deuce“ erzählt dies fast unter Verzicht auf eine erkennbare Spannungsdramaturgie. Das Manko: Man erfährt nichts oder nur wenig von der Aufteilung des Geldes. Einmal bekommt ein Mädchen eine Nachzahlung, ansonsten scheint das Geld in die Hände der Zuhälter zu wandern. Etwas wenig für eine Serie, die über ökonomische Verwerfungen erzählen will. Und gelegentlich tritt „The Deuce“ mit ihrem impressionistisch-episodischen Rhythmus auf der Stelle und verliert sich in wunderbaren kleinen Milieustudien und skurrilen Charakteren, etwa wenn ein farbiger Mitarbeiter einen gewalttätigen Zuhälter fast beiläufig erschießt und die Polizei anruft: „Kommen sie vorbei. Ich habe gerade einen Neger erschossen.“

Nein, „The Deuce“ hat zwar ein Thema, aber keine grell ausgeleuchtete Botschaft. David Simon und George Pelecanos erzählen von den Anfängen der Pornoindustrie trotz unzähliger sehr expliziter Sexszenen fast diskret. Das Sammelsurium kleiner Geschichten zeichnet im Detail die großen Verwerfungen nach, ohne die Illusion zu fördern, dass das Geschäft mit dem Sex trotz der bereits selbstbewussten LGBT-Szene in N.Y. am Ende in ein liberales Zeitalter führen wird. Nein, das Geschäft ist dreckig, es basiert auf Ausbeutung. Wenn in der letzten Episode die Premiere von „Deep Throat“ gezeigt wird, wird zuvor auch der Schwule gezeigt, der dank seiner ‚Behandlung’ zitternd in der Nervenklinik sitzt. Das ist keine Erfindung, das war bis in die 1970er Jahre grausame Realität in den USA.

Nein, spannend ist das trotz viel nacktem Fleisch nicht, man braucht Geduld mit dieser beinahe antiquierten Serie. Spannung entsteht, wenn man gut recherchierte soziologische Studien mag. Wer sich „The Deuce“ auf diese Weise anschaut, sieht eine der besten Serien des Jahres. Und trotzdem sehnt man sich mitunter nach Stringer Bell und Omar. Und man fragt sich, ob man all dies so genau wissen muss: dass käuflicher Sex eigentlich völlig unerotisch ist und die Arbeit vor der Kamera mit vielen Dingen zu tun hat, allerdings nichts mit der Lust. Die ist vermutlich im Kopfkino besser aufgehoben.

Note: BigDoc= 2

The Deuce – Serie (8 Episoden – HBO 2017 – Showrunner: David Simon und George Pelecanos – D.: James Franco, Maggie Gyllenhaal, Gbenga Akinnagbe, Chris Bauer, Gary Carr, Larry Gilliard Jr., Michael Rispoli u.a.