Mittwoch, 13. Juli 2022

Matrix - Die Revolte der Batterien

Bei dem folgenden Text handelt es sich um ein Essay aus dem Jahre 2003, der 2022 überarbeitet wurde. Als nächster Beitrag folgt eine Kritik über Matrix Resurrections“.

Vor zehn Jahren revolutionierte ein Film das Kino: „The Matrix“ von Andy und Larry Wachowski definierte die Standards des Sci-Fi-Genres neu. Noch nie gesehene Effekte und ein mit philosophischen, religiösen und spirituellen Metaphern aufgeladener Plot machten aus der „Matrix“ einen Kultfilm, ohne dass sich die meisten Kinogänger so recht erklären konnten, was denn nun eigentlich den Kultstatus ausmacht.
Ein Kunstgriff war mit Sicherheit dafür verantwortlich: Neben den Filmen ließen die Wachowskis eine eigene Welt entstehen, in der Anime-Kurzfilme, Video- und Online-Spiele einiges über die Matrix enthüllten und vieles vernebelten. Die geschlossene Kunstform Kinofilm wurde also gesprengt. „The Matrix“ funktionierte wie ein offenes System, das sich geradezu aufreizend lässig unschiedlichsten Deutungen öffnete, ohne andere, entgegengesetzte Sichtweisen, völlig auszuschließen. Aber auch ohne dieses ausgeklügelte Konzept prägten die Wachowskis eine ganze Generation von Filmemachern. Von den „Bullet Time“-Effekten bis zu den Martial Arts-Szenarien - nach 1999 konnte man entweder dieses Niveau halten oder man wurde in die B-Movie-Ecke geschoben.

Raffiniertes Spiel mit verschiedenen Deutungsebenen

Der epistemologische Überbau wurde nach anfänglich sich überschlagenden Beiträgen in den Folgejahren von den Fans nicht mehr ernst genommen oder ganz einfach vergessen, was auch daran zu erkennen war, dass sich niemand mehr an ein ähnlich post-modernes Projekt heranwagte. Alle ‚großen’ Mehrteiler, die danach folgten, reproduzierten eher traditionelle und leicht verständliche Märchen- und Magie-Mythologien, sei es der „Herr der Ringe“ oder auch die Harry-Potter-Saga, seien es die Comic-Verfilmungen à la Spiderman mit einer durchweg vertraut konservativen Werte-Diskussion. Das Matrix-Universum ist dagegen zwar nicht ganz aus den Köpfen verschwunden, existiert aber nur noch verschwurbelt in den Gedächtnisnischen des Kinogängers. Jeder kann das experimentell untersuchen: Versuchen Sie doch einmal selbst, den Inhalt von „Matrix Reloaded“ und „Matrix Revolutions“ ohne Hilfsmittel wiederzugeben.

2003 schrieb dann Georg Seeßlen ein wirkmächtiges Buch: „Die MATRIX entschlüsselt“. Das Buch war kaum weniger anspruchsvoll als die Trilogie der Wachowskis. Über 20 Jahre später kann man wirkungsgeschichtlich ein Zwischenfazit ziehen: der erste Teil gilt nach wie vor als Film, der Maßstäbe gesetzt hat, die Folgeteile „Matrix Reloaded“ (2003) und „Matrix Revolutions“ (2003) werden als gefloppte Anhängsel wahrgenommen. Die Wachowski-Brüder sind folglich grandios gestartet und grandios gescheitert („Sinnloses Gefasel, stupides Geballer“, schrieb der SPIEGEL).
Rezeptionsgeschichtlich hat sich dies in den Köpfen eingebrannt. Werden Teil 2 und 3 gelegentlich im TV gezeigt, kanzeln die verantwortlichen Redakteure von Programmzeitschriften die Filme ab, ohne dabei sonderlich höflich zu sein. Auch die Fans haben diese Sichtweise weitgehend übernommen: die Filme werden selten als Trilogie wahrgenommen, sondern als singuläres Meisterwerk (Teil 1) plus zwei weitere Filme, die ‚man’ sich hätte ersparen können.

Dabei bestand das Matrix-Universum aus drei schlüssig miteinander verbundenen Filmen. „Matrix Reloaded“ und „Matrix Revolutions“ sind vielleicht sogar die interessanteren Filme, weil sie tatsächlich Erklärungen anbieten, die allerdings nicht leicht zu verstehen sind. „The Matrix“, also Teil 1, kann dagegen als gelungen empfunden werden, weil er im eigentlichen Sinne ein Prolog ist und gleichzeitig den Heldenmythos etabliert: Neo wird aus der Matrix befreit, zum Auserwählten erklärt und besitzt Superkräfte, eben weil er der Auserwählte ist. Und er stirbt jung und tragisch, was echten Helden häufig passiert. Zusammengenommen ist das mythologisch eine universelle Konstante in vielen Erzählungen und sehr angenehm zu konsumieren.

Die Matrix-Trilogie reagierte anderseits wie alle Kunstwerke empfindsam auf den Zeitgeist und war gleichzeitig clever genug, Zukünftiges zu erahnen: die Filme reflektieren nicht nur das Unbehagen in einer digitalen Medienwelt, die zunehmend undurchschaubare Realitätserfahrungen anbot (Jahrzehnte zuvor hatte die britische Serie „The Prisoner“ mit ähnlich unbehaglichen Visionen einen großen Erfolg, obwohl sie ebenso wenig in die Fernsehlandschaft passte wie Picasso in das Zeitalter der Renaissance). Die Trilogie nahm das Behagen künftiger Web 2.0-Generationen vorweg, die sich durchweg affirmativ in einer zunehmend virtualisierten Welt einrichtete - von den Blogs bis zur „Generation Facebook“. Wobei man unschwer ahnt, dass wohl kein großes Interesse am Wechselspiel zwischen vermeintlicher Autonomie und realem Kommerz entwickelt wurde.

Die Matrix-Trilogie war aber kein philosophischer Quantensprung, sondern ein raffiniertes Spiel mit verschiedenen Deutungsebenen. Die Wachowskis waren dabei keineswegs Pioniere, aber sie erschufen den ersten Beitrag zu einer Reihe von Filmen, die vielschichtig und rätselhaft den Zuschauern ein Geheimnis servierte, das die meisten anregte, alles noch einmal zu sehen, um es endlich zu verstehen – falls das Ende nicht den Spaß ruiniert hatte. Noch größer war die Wirkung auf die Entwicklung der horizontal erzählten TV-Serien. „Lost“ und „Westworld“, um nun einige zu nennen, sind ohne „Matrix“ nicht vorstellbar.

Alles nur Vorsehung und Bestimmung?

Die Filme funktionierten dabei wir eine Zwiebel, die man häutet. Für Zuschauer, die eine gute Allgemeinbildung haben, boten sich mehr Optionen an, um die offenen und versteckten Referenzen zu bemerken. Jene, die in Philosophie, klassischer Physik und Quantenphysik, Anthropologie und Film- und Seriengeschichte unterwegs waren, konnten die Zwiebel noch effektiver häuten.
Ein Beispiel: Wer in „Reloaded“, dem zweiten Teil, den häufigen Gebrauch der Begriffe „Vorsehung“ und „Bestimmung“ hört und dann auch noch Neos Gespräch mit dem Orakel gründlich unter die Lupe nimmt, kommt irgendwann zu der Überlegung, dass die Begriffe etwas widerspiegeln: nämlich, dass die streng an logischen und mathematischen Gesetzen orientierten Maschinen (der Architekt ist ein KI-Programm der Maschinen) sich wahrscheinlich an einem deterministischen Konzept orientieren.
Als Neo vor der Wahl steht, Trinity zu retten oder stattdessen die Menschen, glaubt der „Architekt“ die Antwort zu kennen: „Es gibt zwei Türen. Die Tür zu deiner Rechten führt zur Quelle und zu der Rettung von Zion. Die Tür zu deiner Linken führt zurück in die Matrix, zu Trinity und zu dem Ende deiner Spezies. Wie du schon richtig bemerkt hast, das Problem ist die Entscheidung. Aber wir wissen ja bereits, was du tun wirst, nicht wahr? Und schon sehe ich die Kettenreaktion. Die chemischen Vorboten, die das Einsetzen einer Emotion signalisieren, die speziell dafür geschaffen wurde, Logik und Vernunft zu besiegen. Eine Emotion die anfängt dich zu blenden und davon abzuhalten die simple Wahrheit zu erkennen. Sie wird sterben und es gibt nicht das Geringste, was du tun kannst, um das zu verhindern.“

Der „Architekt“ glaubt nur an die Kettenreaktion – die Abfolge berechenbarer und daher vorhersehbarer Ereignisse. In diesem Weltbild sind Anomalien wie Neo, dessen sechste Version in „Reloaded“ auftaucht, natürlich eine Provokation. Zufälle sind undenkbar, und wenn es trotzdem welche gibt, muss man sie wenigstens kontrollieren. Aber genau dies gelingt nur eingeschränkt: das Orakel ist zwar ein Programm, aber gleichzeitig auch eine mystische Gegenkraft, die sich über den „Architekten“ lustig macht. Der Kontrollzwang des „Architekten“ stößt auch bei den Exilanten seine Grenzen, Programme, die sich in Nischen der Matrix eingenistet haben und ihr eigenes Leben führen.

Der emotionale Mehrwert für den Zuschauer, der diese Zusammenhänge verstanden hat, besteht darin, dass Neo nicht die x-te Version der Anomalie „Neo“ ist, sondern tatsächlich der Auserwählte. Und zwar nicht ein von den Maschinen gewählter Pseudo-Messias, sondern ein echter Systemsprenger, der sich von seinen Vorgängern essentiell unterscheidet. Er besitzt wahre Macht, würde der „Merowinger“ sagen. Im mythologischen Sinne ist Neo also ein Held, der für ewige Zeiten in den Geschichten, die über ihn erzählt werden, überleben wird.

Und last but not least hätte man schneller hinter die Kulissen schauen können, wenn man in den drei Filmen die Actionszenen überspringt und sich die Schlüsseldialoge anschaut. Zum Beispiel Neos Gespräch mit dem „Architekten“ in „Reloaded“. Die wirklich wichtigen Sachen dauern etwa eine halbe Stunde. Versprochen: danach weiß man alles. Trotzdem kann es nicht schaden, den Inhalt der drei Filme noch einmal Revue passieren zu lassen.

Der Inhalt

In mittelferner Zukunft hat die Menschheit einen Krieg mit der Künstlichen Intelligenz verloren. Nur wenige Überlebende leisten in der unterirdischen Stadt Zion Widerstand. Die „Maschinen“ züchten derweil in großen Fabriken abertausende Exemplare der menschlichen Spezies, um deren Körperenergie in Nutzenergie umzuwandeln. Da die Körper der neuro-biologischen Entitäten ohne befriedigende mentale Zustände nicht überleben können, werden ihre Hirne vom „Architekten“, einer KI, in einer „Matrix“ verschaltet, einer realistischen Computersimulation, die von den menschlichen Batterien als Realität erlebt wird. Die Maschinen selbst können in Form von Programmen (Agenten), die in der Simulation wie echte Menschen aussehen, in die Abläufe der Matrix eingreifen. Sie entspricht dem Stand des ausgehenden 20. Jahrhunderts, dem „Höhepunkt der menschlichen Zivilisation“, wie Agent Smith ironisch feststellt.

Die erste Matrix (laut dem Architekten ein perfektes Gebilde und laut Agent Smith ein paradiesisches Utopia) scheitert grandios. Auch die Folgeversion kollabiert, weil immer wieder unberechenbare Anomalien die Matrix stören. Viele Zuchtexemplare sterben - die künstliche Beschaffenheit der Matrix wird offenbar unbewusst wahrgenommen.
Zu den inhärenten Dissonanzen im System gehört offensichtlich auch eine Erlöserfigur („Neo“), die die Matrix von innen aushebelt. Diese Figur darf auch „entkoppelt“ werden und sich in der realen Welt bewegen, wo es den Überlebenden von Zion gelungen ist, sich mit eigenen Computern in die Matrix zu „hacken“.

Neo, der Auserwählte, wird von den „Agenten“-Programmen gejagt. Allerdings scheint der evolutionäre Prozess, der in der Maschinenwelt stattfindet, nicht kontrollierbar zu sein. Er reicht bis tief in die Matrix hinein. Einige Programme wehren sich gegen ihre Löschung (die „Exilanten“), andere Exilanten fühlen sich durchaus in der Matrix wohl und scheinen ein breites Spektrum emotionaler und sozialer Eigenarten entwickelt zu haben (der „Merowinger“ hat nicht nur Spaß an philosophischen Diskursen, sondern kommt auch sexuell auf seine Kosten, was nicht ohne Witz andeutet, dass eine KI mit autonomen Körpererfahrungen sich anders entwickelt, als die Planer es sich vorgestellt haben).

Um die Probleme in der Matrix und letztlich auch die Lebensfähigkeit der in einem fast-embryonalen Zustand lebenden Zuchtmenschen besser in den Griff zu bekommen, schreiben die KI-Maschinen ein ‚intuitives Programm’ namens „Orakel“, das mit Beginn der dritten Matrix die Neo-Figuren fürsorglich unterstützt und eine Aussöhnung zwischen Mensch und Maschine anstrebt. Das Ziel des „Architekten“ ist es, was übrigens auch dem mittlerweile sechsten Neo zunächst verborgen bleibt, die zyklischen Reboots des Systems auszulösen, mit denen jeweils eine komplett neue Matrix hochgefahren wird. Gleichzeitig wird jedes Mal Zion zerstört und von der Neo-Figur und einigen ‚neuen’ Überlebenden neu aufgebaut. Alles beginnt von vorne, bis der neue Zyklus mit Tod und Wiedergeburt endet.

Problematisch wird es, als die sechste Neo-Figur begreift, dass sie keineswegs ein Freiheitskämpfer, sondern ein fester Baustein des Systems ist. Auch Neo erkennt, dass er nur eine weitere Kontrollinstanz ist, die in einem deterministischen Kosmos existiert, in dem der „Architekt“ jede Entwicklung geplant und festgeschrieben hat, auch die Kompensation der Anomalien. Von der Erlöserrolle zur kompletten Dekonstruktion - der Weg war kurz.

Zur ernsten Krise kommt es in der aktuellen Matrix, als ein „Agenten“-Programm, das von Neo beschädigt wurde, plötzliche eigene Ziele verfolgt. Ex-Agent Smith gefährdet die instabile Matrix: er kann sich nicht nur unbegrenzt duplizieren, indem er mit anderen verschmilzt, sondern ignoriert exzessiv die Naturgesetze. Er kann die Matrix verlassen und sich in fremden Körpern bewegen. Neo, die messianische Figur, die in der Matrix Superkräfte besitzt, erkennt, dass sie auch in der Realität über „Kräfte“ verfügt. Nachdem er im Kampf erblindet, sieht er die Realität als Datenstrom, was andeutet, dass auch Zion und die Überlebenden möglicherweise Teile einer Simulation sind. Das wird immerhin vom Architekten angedeutet, denn die menschlichen Batterien brauchen die Illusion, freie Entscheidungen treffen zu können.

Am Ende lässt sich Neo auf einen Handel mit den Maschinen ein: er soll Smith vernichten, dafür werden die Maschinen Zion nicht zerstören. Smith, der sich mittlerweile millionenfach dupliziert hat und die Matrix nach seinen Vorstellungen verändert hat, widerfährt im entscheidenden Kampf mit Neo ein Déjà-vu. Er hat sich bereits das Orakel einverleibt, aber die Amalgamierung mit Neo führt zum tödlichen Kollaps und zur Auslöschung aller Smith-Duplikate.

Am Ende handeln das „Orakel“, das Smiths Attacke offenbar überlebt hat, und der „Architekt“ einen Burgfrieden aus: keiner weiß, wie lange der Friede hält, aber die Matrix wird erneut hochgefahren, während alle Menschen, die es wollen, die Bruttanks verlassen dürfen. Die neue Matrix erscheint in hellem Licht und bunten Farben. Sie entspricht der Vorstellung eines Exilanten, dem kleinen indischen Mädchen Sati, das ursprünglich gelöscht werden sollte. Als die Kleine fragt, ob Neo wiederkehren würde, hält das Orakel dies durchaus für wahrscheinlich.

Die Vorbilder von „The Matrix“


Eine der wichtigsten Umsetzungen des Themas ‚Realität und Simulation‘ in der klassischen SF-Literatur ist Herbert F. Frankes 1961 erschienener Roman „Der Orchideenkäfig“. 
In ferner Zukunft, wir schreiben das Jahr 122.106, amüsieren sich die Menschen damit, Avatare in die entlegensten Regionen des Kosmos zu schicken. Die Suche nach Außerirdischen ist ein Sport geworden, der risikolos von zuhause erfolgt. Dort sitzen die Menschen vor gigantischen Bildschirmen mit einem Datenhelm auf dem Kopf und erleben in Echtzeit, was ihre virtuellen Abbildern auf fernen Planeten finden: immer sind es tote, längst ausgestorbene Zivilisationen. 
Als die drei Hauptfiguren in seinem Roman nach unzähligen Versuchen endlich lebende Außerirdische entdecken, lernen sie eine Kultur kennen, in der die Aliens in einem Maschinenpark leben, vollständig anhängig von Robotern, die sie füttern und ihre Gehirne mit Glücksimpulsen triggern. Denken können sie nicht mehr. „Glück kommt nur durch das Gefühl. Alles andere stört“, erklärt ein Roboter den virtuellen Besuchern.

„Der Orchideenkäfig“ beschrieb mit diesem Plot bereits die Avatare der Menschen, die sich in der Matrix-Trilogie in die Simulation herunterladen. Herbert W. Frankes Stil war sehr klar und nüchtern. Zu den immer wiederkehrenden Motiven seiner Romane gehörte die Frage nach dem Wesen der Realität, auf die es keine endgültige Antwort gibt. 
So können In Frankes "Das Gedankennetz" die Figuren zwischen Wirklichkeit, Simulation und Manipulation kaum noch unterscheiden. Das Ende des Romans führt dem Leser plastisch vor Augen, dass nichts so sein muss, wie es scheint, und dass die sicher geglaubte Ausgangslage des Romans ebenfalls nur eine Variation der Realitätswahrnehmung ist.

In späteren Werken wurden Frankes Virtualitätskonzepte gewagter: In "Transpluto" (1982) entpuppt sich das uns als unhintergehbar erscheinende Raum-Zeit-Kontinuum als eine Art lokal begrenzter Experimentierkäfig, der von einer völlig fremdartigen vieldimensionalen Struktur umgeben ist. Und in „Zentrum der Milchstraße“ (1990) erforscht eine Gruppe von Mönchen, Vertreter der Rationalen Theologie, mit fortgeschrittenen Technologien den Kosmos. Am Ende entdeckt die Hauptfigur, ein in das Kloster eingeschleuster Informatiker, dass die Mönche entdeckt haben, dass dies Realität nichts anderes ist als ein Programm aus Einsen und Nullen. Und natürlich sind auch die Menschen nur Programme, können nur aber die Realität nach ihren Wünschen umbauen.

Als Vater der Simulation gilt Daniel F. Galouyes Roman „Simulacron 3“ (dts. Welt am Draht). Dort haben die Menschen ein riesigen Simulationscomputer gebaut, in dessen Scheinwelt Marktstudien an virtuellen Menschen durchgeführt werden. Als die Hauptfigur merkwürdigen Todesfällen nachgeht, findet er heraus, dass auch seine Realität nur eine Simulation ist. Er dringt auf die nächsthöhere Ebene vor, die allerdings trostloser ist als die simulierte Wirklichkeit.
Galouyes Roman erschien drei Jahre nach dem „Orchideenkäfig“, hatte aber anders als die Geschichte des österreichischen Physikers und Science-Fiction-Autors Herbert W. Franke einen größeren Einfluss auf die Entwicklung des Genres, wenn man an die Verfilmung von Rainer Werner Fassbinder (1973) und Josef Rusnaks Neuinterpretation (1999, Produzent: Roland Emmerich) dieses Stoffes in „The Thirteenth Floor“ (dts. „The 13th Floor – Bist du was du denkst?“) denkt. 

Auf jeden Fall zeigen die genannten Beispiele, dass die Wachowski ihre Geschichte nicht selbst entwickelt haben. Und ähnlich wie nach „The Matrix“ philosophische Interpretationen aus dem Boden schossen, versuchte man auch, Daniel F. Galouyes Roman mit der Philosophie René Descartes kurzzuschließen. Übrigens ein Ansatz, den auch Georg Seeßlen in seinem Matrix-Buch aufgriff. Realität, Simulation und Philosophie hatten sich gefunden…

Filmtheoretiker und Kritiker führten auch in den Folgejahren eine weiß Gott nicht leidenschaftslose Diskussion, als ginge es um Grenzfragen des Kinos oder sogar noch mehr. Slavoj Zizek, Peter Sloterdijk, Elisabeth Bronfen und viele andere deuteten den Film auf jeweils eigene Weise. Wobei Zizek immerhin erkannte, dass der Film wie ein leeres Blatt Papier funktionierte, auf das man nach Gutdünken etwas schreiben konnte: „Meine "Lacanianischen" Freunde versichern mir, die Drehbuchautoren müssten Lacan gelesen haben, die Verfechter der Frankfurter Schule sehen in der Matrix die Verkörperung der Kulturindustrie, die unser Seelenleben kolonisiert und uns als Energiequelle nutzt, New Age-Gläubige finden eine Quelle der Spekulationen darüber, dass unsere Welt nur ein Trugbild ist, erschaffen von einem globalen, im World Wide Web verkörperten Bewusstsein. Und die Reihe lässt sich bis zu Platos Republik zurückführen: Wiederholt die Matrix nicht genau seine Anordnung der Höhle, in der gewöhnliche Menschen als Gefangene an ihre Sitze gefesselt und gezwungen sind, die nur schemenhafte Aufführung von Wirklichkeit (bzw. dem, was sie fälschlicherweise dafür halten) zu betrachten?“

Dies weist darauf hin, dass mit dem schillernden Thema der Schein-Welt und der Entdeckung der „wirklichen Wirklichkeit“ offenbar verborgene Sehnsüchte, Erwartungen und Fragestellungen nicht nur beim breiten Publikum hervorgerufen wurden. Wird die Virtualität zum Thema eines Films, steht das Kino und der Film selbst zur Debatte, denn in unseren ästhetischen Erfahrungen verbirgt sich immer die Frage nach der besonderen, oft fragilen Seinsweise fiktionaler Kunstwerke.

„The Matrix“: vom Hacker zum Messias


Stell dir vor, jemand erzählt dir, dass deine existenzielle Grundschwingung, dieses Gefühl des In-der-Welt-Seins, nichts anderes ist als ein Fake.
Stell dir weiterhin vor, dass dir diese Person erklärt, dass dieses In-der-Welt-Sein nichts anderes ist als eine Projektierung digitaler Daten in deine Gehirnrinde und dass du „in Wirklichkeit“ ein Gefangener bist, der mit Apparaten verbunden ist, eine biologische Einheit, die von intelligenten Maschinen gezüchtet wird, und deren Körperwärme der Energieversorgung dieser Maschinen dient.
Und während du geschichts- und zeitlos dahinvegetierst, vermittelt dir dein virtuelles Sein in voller Fülle, Geschichte und Zeit, also Identität, aber leider ist dies alles ein Fake. Was ist die bessere Welt? Zu erkennen, was man wirklich ist, oder dort zu leben, wo ein Steak noch wie ein Steak schmeckt? Genau das war Cyphers Entscheidung im ersten Teil.

Cypher und das Steak – die Tristesse der Realität

Dies zeigt die lustvolle Szene in „The Matrix“, in der Cypher (Joe Pantoliano) ein virtuelles Steak sehr genüsslich verzehrt, während er mit Agent Smith die Modalitäten seines Verrats an den Crewmitglieder der Nebuchadnezzar bespricht. „Warum nicht?“, fragt uns dieses Bild. Steak ist Steak.
Ob Cyphers Wissen um den virtuellen Charakter des Steaks den Genuss am Verzehr steigert, bleibt offen. Entscheidend ist für Cyphers Pakt mit dem „Bösen“, dass er vergessen will. Er will zurück in die Matrix und nichts mehr wissen von dem, was gewesen ist. Fremdbestimmung hin oder her, Steak bleibt Steak.

Ist uns hier nicht ein Stück von dem gezeigt worden, was uns im Kino begegnet? Wo wir alles vergessen können, es aber nicht fertigbringen, das zu erkennen, wovon die Bilder eigentlich erzählen. Haben denn nicht manchmal das Gefühl, das uns das wirkliche Leben den Buckel runterrutschen kann, weil uns das Kino die besseren Steaks serviert?
Cypher ist eine der interessantesten Figuren in „The Matrix“. Er stellt im Kern die Frage, die das Kino ständig an den Zuschauer richtet. Jeder einigermaßen gelungene Film, den wir sehen, stellt uns nämlich die Frage, ob wir nicht allesamt im Kino besser aufgehoben sind als in der Wirklichkeit.

Wenn man wie Cypher die Kargheit der Realität nicht ertragen kann und die Illusion der Wahrheit vorzieht, weil die Illusion sinnlicher, facettenreicher und lustvoller erlebt werden kann als die „wirkliche Realität“, entsteht ein Sub-Text. Die Figur des Cypher vollzieht, so gesehen, den Bruch mit der Tradition der Aufklärung, die Mündigkeit mit der unvermeidlichen Befragung des Erkenntnisvermögens gleichgesetzt hat. Die Wachowskis haben mit dem Abtrünnigen eine Figur erfunden, die sich verführerisch sich auf die Seite der Post-Post-Moderne schlägt (wenn es sie denn gibt), in der die Spielarten des Möglichen unverbindlich und chamäleonartig nebeneinander stehen wie Spielautomaten in einem Unterhaltungspark. Und letztlich ist es egal, wo und wann und womit man spielt. Hauptsache es macht Spaß.

Kulturelle Projektionen

So wie Morpheus seinem Schützling Neo zwei Pillen offeriert, bietet uns „The Matrix“ auch zwei Möglichkeiten: entweder wir lassen uns auf das Spiel der Wachowskis ein oder wir freuen uns über das fetzige Geballer, die CGI-Effekte und Martial Arts-Einlagen. Das wäre das Steak.
Schaut man dagegen hinter die Kulissen, erwartet einen aber nicht Kargheit wie Neo, Morpheus und Trinity. Im Gegenteil: Indem „The Matrix“ offen ist für Projektionen, wird der Film zur glänzenden Schimäre, die sich funkelnd drehen und wenden lässt, bis jeder Versuch der Ausdeutung sich schnell in Luft auflöst, weil man rasch einen noch eleganteren und spannenderen findet.

„The Matrix“ öffnet sich so für eine Reihe von kulturellen Projektionen, mit denen die Zuschauer den Film bombardieren. Und da es im post-modernen Selbstbedienungsladen der universellen Deutungen nicht gerade wenige Angebote gibt, lassen sich – je nach Kino-Bildung und literarischem Horizont – auf nicht mehr wundersame Weise immer wieder neue Gespräche über den Film der Wachowski-Brüder beginnen. Man kann sehr interessante Abende mit der Frage verbringen, ob die Möglichkeiten von Erkenntnis und die Bedeutung von sinnlich empirischer Erfahrung und den Regeln ihrer Verallgemeinerung, nicht das eigentliche Thema von „The Matrix“ sind. Warum nicht? Es funktioniert! Man muss aber nicht unbedingt bei Kant landen. Man nehme ein einführendes Buch über Weltreligionen und Mythologien und ich bin sicher, dass man das Meiste davon irgendwie und irgendwo in „The Matrix“ findet.

Aber kehren wir zum Steak zurück: Nachdem Morpheus den Auserwählten in die „wirkliche Realität“ zurückgeholt hat, sieht und fühlt Neo sie, diese Realität. Er erkennt, dass der Preis für die „Freiheit“ hoch ist, dass die Wirklichkeit beschämend dürftig ist (nicht zufällig wird eine gemeinsame Mahlzeit der Rebellen ausführlich gezeigt), ohne Fülle und Vielfalt, ein asketisches Leben fordernd, noch dazu auf der Flucht vor den Maschinen, für die die Menschen nur revoltierende Batterien sind.
Ist es dann nicht logischer, so wie Cypher, die virtuelle Realität der tatsächlichen vorzuziehen? Für mich ist dies eine der fiesesten Provokationen des Films: was ist die Freiheit wert, wenn man ein Leben führt wie in einem Gulag?

Aber „Morpheus“ führt seinen Schützling nicht aus der Matrix heraus, um ihn zu desillusionieren, sondern führt ihn tiefer in den Kaninchenbau. Die Botschaft lautet nicht: „Erkenne Dich selbst“, sondern „Erkenne Dich selbst und kehre zurück!“ Neo soll der neue Messias werden, der endgültig die Maschinen besiegt und den Menschen die Freiheit zurückgibt. Womöglich auch ein komfortableres Leben. Aber das ist nur eine Hoffnung. Denn wie alle großen Ideologen verzichtet Morpheus darauf, seinen Jüngern zu erklären, wie sie danach auf dem verrotteten Planeten leben sollen. Und Hoffnung, das hatte bereits der „Architekt“, sei die größte Schwäche der Menschen.

Initiation und Allmachtsphantasien


Den verschiedenen Lesarten des Films kann man eine sehr pragmatische hinzufügen. Und die soll die Frage beantworten, was den Zuschauer möglicherweise noch mehr an der „Matrix“ faszinierte. Dabei geht es um mythologische und psychologische Traditionen. Und dazu gehört die Initiation.
Die Initiation ist menschheitsgeschichtlich eine der ältesten sozialen Techniken der Einführung in ein kulturelles Regelwerk. Sie hat nicht nur mit Erprobung, sondern auch mit Schmerz zu tun. Historisch waren die die Mythen und Riten der Pubertäts- und Stammesinitiation in den verschiedenen Kulturen meist streng geheim, sodass Außenstehenden nur ausnahmsweise Einzelheiten bekannt waren. Die praktizierten Riten sollten den Anwärter prüfen, bevor er in die Gemeinschaft aufgenommen wird. Nicht immer waren es Mutproben, die man zu bestehen hatte, oft genug waren die Rituale bis in unsere Gegenwart grausam und sadistisch.
Die kulturgeschichtliche Bedeutung der Initiation war aber stark genug, um sich in Fundus der Mythologien und der neuzeitlichen Geschichten in Literatur und erst recht im Kino dauerhaft niederzulassen.

Auch in unserer modernen Welt gibt es immer noch eine Reihe von Initiationsriten, nur werden sie anders genannt. Etwas Besonderes tun zu müssen, um auf- und angenommen zu werden, ist tief in uns verwurzelt – ein archaischer Phänotyp des sozialen Verhaltens. Und ein schweres Erbe, denn das Scheitern des Novizen ist für diesen eine traumatische Erfahrung. Neo befriedigt also im Kino die unbewusste Sehnsucht nach dem Gelingen des Rituals.
Dabei wird Neo auf äußerst schmerzhafte Weise initiiert. Er schluckt die rote Pille, und danach fühlt sich alles an, als würde er auf der Stelle sterben. Auch in der Realität der Maschinenwelt bezahlt er den Übertritt mit etlichen Qualen – und mit elendem Essen auf Morpheus‘ Hovercraft. Neos Eintreten in den Kreis der Rebellen ist eine Erfahrung, die alle Vorstellungen von Geburtstraumata auf bizarre Weise übersteigt. Und trotzdem wissen er und seine Gefährten nicht wirklich, ob er „The One“ ist – der Auserwählte.

Aber in „The Matrix“ geht es nicht darum, aufgenommen zu werden und danach einer unter vielen zu sein. Neos Initiation ist mit einem weiteren und ziemlich archaischen Mythos verknüpft – der Figur des Helden, mehr noch: des Superhelden. Trivialisiert kennen wir ihn aus den Comics, aber auch Comics sind die Fortsetzungen von Erzählungen, die auf mythologischen Archetypen basieren, die C. G. Jung als „Strukturelemente der menschlichen Seele“ beschrieb. Und die führen im Extremfall zu der Vorstellung des Numinosen, der Gottähnlichkeit.

Und Neo übererfüllt diese Erwartungen, aber – und das ist ein raffinierter Einfall der Wachowskis – nicht außer eigener Kraft. Wenn er am Ende von „The Matrix“ von Agent Smith in der Matrix getötet wird, so stirbt mit dem Avatar auch der reale Körper Neos auf der Nebuchadnezzar. Neo wird aber gerettet, und zwar durch Trinity, der vorhergesagt wurde, dass der Mann, den sie lieben würde, der Auserwählte ist. Neo kann also nicht sterben, aber es ist Trinitys Kuss, der ihn rettet.

Im Kino, und das dürften wohl auch die meisten Zuschauer emotional so erlebt haben, wird hier kokett mit einer Allmachtsphantasie gespielt. Aber Neo ist nicht der Auserwählte, weil er die Initiation überstanden hat, sondern weil Trinity es so will. Erst danach kann Neo einige ziemlich infantile Wünsche des Publikums befriedigen, wenn er die scheinbar unbezwingbaren Agenten vermöbelt oder lässig alle Kugeln zu Boden fallen lässt, die auf ihn gefeuert wurden. Guilty Pleasures, könnte man sagen. Man kann es auch die Sehnsucht nach einer Portion Größenwahn nennen.
Wenn Neo aber am Ende davonfliegt und Hard Rock aus den Lautsprechern dröhnt, darf nicht vergessen werden, dass der männliche Größenwahn, der in klassischen Mythologien immer mitschwingt, in einem ikonischen und magischen Moment zu einer Entzauberung des Archetyps geführt hat – das, was er ist, verdankt Neo nicht der Bestimmung oder dem Schicksal, sondern einem Kuss.

So begegnen sich in „The Matrix“ das Trauma der Initiation und die Lust an der Omnipotenz als Belohnung, aber auch Angst und Zweifel, aber auch Resilienz dank der Kraft der Liebe. Für das Kino ein gefundenes Fressen, wenn es Geschichten erzählen will, die unter die Haut gehen.
Anders formuliert: „The Matrix“ ist intuitiv schnell zu verstehen, der Film bedient traditionelle narrative Muster und ist auch ideengeschichtlich (Initiation, Transzendenz, Erlöser-Mythos) bei weitem nicht so revolutionär wie vermutet.

Verfasst von 2003-2022.