Freitag, 28. September 2018

Videodrome – die Special Edition des Kultfilms ist erschienen

David Cronenbergs Medienhorror-Spektakel „Videodrome“ wurde 1985 in Deutschland zwei Jahre nach seinem Erscheinen indiziert. Die Indizierung wurde 2010 erneuert. Im September erschien der Film nun endlich in ungekürzter Fassung, und zwar mit einer Altersfreigabe ab 16 Jahren. Damit schreibt der Film ein Kapitel über Medienhorror in eigener Sache.

Über den künstlerischen Wert von David Cronenbergs lange zensierten und indizierten Film lässt sich streiten. Nicht aber darüber, dass es en masse hirnrissige Splatterfilme gibt, die mehr oder weniger ungehindert in den Handel kommen. Das ist ein trauriger Witz: Sie gehören zu jener Sorte von Filmen, die auch der TV-Produzent Max Renn (James Woods) in David Cronenbergs Film sucht, um das Publikum seines kleinen TV-Senders „Civic TV“ in Toronto, Kanada, zu binden: Sadistische Gewalt, gepaart mit Sex und grellen Splattereffekten. Renn würde in unserer Zeit schnell fündig werden. Gut: einiges landet hierzulande immer noch auf dem Index. Warum aber Cronenbergs Film, der immerhin als Klassiker der Postmoderne gilt, auch 2010 folgeindiziert wurde, bleibt unverständlich. Nun dürfen ihn sogar 16-Jährige kaufen und man fragt sich, was zur Hölle sich seit der Nachindizierung eigentlich geändert hat.




No plot, no characters

Max Renn wäre von den Filmen der „Saw“-Serie sicher schwer begeistert. Es ist die Perspektive eines Zynikers, für den Film tatsächlich nur Ware ist und für den sein Publikum nur aus triebgesteuerten Prolls besteht. Wie Renn mit seinem Sender Geld verdient, erzählt uns Cronenberg nicht. Wohl aber davon, dass Renn durchaus ein ambivalentes Verhältnis zu seinen Produkten hat. Renn glaubt die Bedürfnisse seiner Klientel genau zu kennen, privat – das wird in „Videodrome“ erkennbar, wenn man genau hinschaut – würde er sich diesen Mist nicht anschauen. Als Geschäftsmann ist er aber begeistert, als sein Techniker Harlan (Peter Dvorsky) einen TV-Sender hackt, der grobschlächtiges Torture Porn ausstrahlt. Renn ist begeistert: „No plot, no characters. Very, very realistic.“ 
Videodrome heißt der Piratensender und er scheint seinen Sitz in Pittsburgh zu haben.

Spätestens jetzt könnte man sich von Cronenbergs Film verabschieden, denn „Videodrome“ bietet in der ersten Viertelstunde eine saftige und scheinbar prophetische Mediensatire an, die dem Zuschauer eine einfache Interpretation anbietet: Die Medien überwältigen uns und sie werden uns verändern. So gesehen ist nicht schwer zu erkennen, dass der Film tatsächlich keine Satire war und auch 35 Jahre später keine ist. Das fällt nicht nur Medienpädagogen leicht. Trotzdem ist die Sache etwas komplizierter.



Freuds Theorie als Trash: Cronenberg, der Surrealist

Denn Cronenberg hatte 1983 anderes im Sinn als intellektuelle Nabelschau. Zur Erinnerung: In „Shivers“ (1975) werden die Figuren von Parasiten befallen, die die Libido ihrer Opfer manipulieren. Eine nicht sonderlich subtile Allegorie, die zeigte, wie Sex aus dem Ruder läuft, wenn das Über-Ich seinen Dienst einstellt. Damit hatte Cronenberg das Freudsche Triebmodell allerdings nicht nur drastisch bebildert, sondern auch die Angst vor dessen Konsequenzen.


Cronenberg faszinierte auch etwas anderes. Er suchte nach einer starken Symbolsprache, um deutlich zu machen, dass das Psychische unbedingt auch als physisches Phänomen ausgedrückt werden kann. In seinem zweiten Film „Rabid“ (1977) wächst einer Frau nach einer Operation in der Achselhöhle eine Art von Penis. Das neue Geschlechtsteil verwandelt die Patientin in ein mörderisches Monster, das mit dem „Penis“ das Blut seiner Opfer aussaugt und gleichzeitig die Verwandlung in neue Monster epidemisch überträgt. 

Transgression als subjektiver Akt der Befreiung, so verstand ein Filmkritiker das frühe Werk Cronenbergs. Allerdings ohne darauf hinzuweisen, dass es ab den späten 1970er Jahren ein „Cinema of Transgression“ gab, eine cineastische Underground-Kultur, die das Kino formal und ästhetisch auf ähnliche Weise verwandeln wollte. Welcher Schrott dabei entstand, lässt sich dank Internet auch heute bewundern, etwa in David Wojnarowicz „Where Evil Dwells“ (1985).
„Nothing is sacred“, schrieb der Underground-Filmer Nick Zedd in einem Manifest der Bewegung. Sex und Gewalt spielten im Cinema of Transgression eine Schlüsselrolle. Die Revoluzzer hatten aber übersehen, dass sie mit ihren dilettantischen Filmen nichts anderes zu bieten hatten als die professionellen Schmuddelfilmer, die am Katzentisch der Filmindustrie saßen. So gesehen hatte sich Cronenberg bereits Jahre zuvor mit seinen halbgaren Erstlingsfilmen als Speerspitze des Transgressionsfilms erwiesen, allerdings ohne bei seinen „Überschreitungen“ auf ein Mindestmaß formaler und erzählerischer Kohärenz zu verzichten. Mit
„Scanners“ und später auch mit „Videodrome“ hatte Cronenberg auch handwerklich zugelegt. Dass er den Schmuddelfilmen dabei ein wenig auf die Pelle rückte, ohne selbst auf drastische Schockeffekte zu verzichten, war unschwer zu übersehen. „Nothing is sacred“.
 
Um „Videodrome“ über diesen Kontext hinaus zu verstehen, sollte man sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass David Cronenberg in seinen Filmen die Handlung nicht mit surrealistischen Elementen verfremdete, sondern zuallererst surrealistische Filme drehte, sie aber mithilfe einer linearen Handlung etwas verständlicher machte.
Damit stand Cronenberg, allerdings mäßigend, in der Tradition von Luis Bunuels und Salvadore Dalís „Un chien andalou“ (1929) – nur mit dem Unterschied, dass die grotesken Szenen seiner Filme durch mehr oder weniger nachvollziehbare Plots zusammengehalten wurden.
Cronenbergs Frühwerke führte dann auch recht konsequent über Filme wie „The Brood“ (1979) und dem Splatter-Klassiker „Scanners“ (1981), in dem der Filmemacher Köpfe platzen ließ, zu dem 1983 entstandenen „Videodrome“, der als Höhepunkt der surrealen Phase in Cronenbergs Filmschaffen betrachtet werden kann. Nach „Videodrome“ wurden Cronenbergs Filme deutlich kinokompatibler, aber die Mutationen seiner Hauptfigur in „Videodrome“ griffen zuvor das Sujet auf, das später als „Body Horror“ umgedeutet wurde. Es ist der Einbruch des Paranormalen in eine vermeintliche Normalität, der längst nicht mehr zu trauen war.



Das technologische Tier

Wenn sich der schmierige TV-Produzent Max Renn also auf die Suche nach den Urhebern der Torture Porn-Videos macht, wird aus Cronenbergs Film erneut eine Visualisierung psychischer Deformationen, die sich in physischen Attributen erkennen lassen. Denn eine Handvoll Verschwörer, so erzählt uns „Videodrome“, hat einen Weg gefunden, um mit einem versteckten Videosignal beim Zuschauer Gehirntumore zu erzeugen, die wiederum Halluzinationen erzeugen. Und physische Mutationen. 
Die USA seien schwach geworden, wird später ein Handlager der Verschwörung Max Renn erklären. Dies wolle man mit den Videosignalen ändern. Wie das konkret funktionieren soll, verschwieg Cronenberg seinem Publikum.
„The next stage of human evolution as technological animal“, verspricht auch der Medienguru und Videodrome-Schöpfer Brian O’Blivion (Jack Creley) dem erstaunten Renn. Allerdings nur in einer Video-Botschaft, denn der längst tote Guru kommuniziert über sein physisches Ende hinaus mithilfe Tausender Videocassetten mit seiner Nachwelt. Oblivion heißt übersetzt vergessen, aber mehr als kleiner Gag ist das nicht.

Max Renn, der sich den fatalen Videosignalen unfreiwillig und ausreichend lange ausgesetzt hat, wird nun ebenfalls von Halluzinationen heimgesucht, erlebt aber auch grauenhafte physische Veränderungen. Aus seinem Bauch wächst ein Vagina-ähnliche Öffnung, in der man auch eine Videokassette (!) platzieren kann, und später verschmelzen eine Pistole und Renns Hand miteinander. Aber zu diesem Zeitpunkt hat er sich bereits in einen Killer verwandelt, der für die Verschwörer unliebsame Zeugen und Mitwisser aus dem Weg räumt. Danach will man auf Renns Sender „Civic TV“ mit der Ausstrahlung des Signals beginnen, um die breite Masse neu zu formatieren.


Das Erklärungsgebrabbel der fiktiven Figuren in „Videodrome“ kann man getrost vergessen. Es ist Bullshit und garantiert die falsche Fährte. Wenn man Cronenbergs Frühwerk stattdessen in der Tradition des Surrealismus decodiert, nämlich als anti-bürgerliche und anarchistische Reaktion auf Verdrängtes und Verbotenes, dann steht auch in „Videodrome“ die symbolische Verarbeitung psychoanalytischer Theorien im Mittelpunkt, nur dass sich das Verdrängte traumhaft und über weite Strecken völlig absurd als körperliche Manifestation äußert (mit „A Dangerous Method“ versuchte sich Cronenberg 2010 deutlich gelungener am Thema Psychoanalyse).
Wer Medienkritisches aus dem Film herauslesen will, wird allerdings auch passgenau bedient, denn Cronenberg zeigt, wie sich das Medium vom Bildhaften zu etwas Leibhaftigen entwickelt. Aus dem Fernsehgerät wächst eine schleimige Mutation aus Hand und Pistole heraus und in einer anderen Szene steckt Renn seinen Kopf in den Bildschirm, als sei dieser ein Portal in eine andere Welt. Und das ist wohl auch so, nur dass die flimmernden Bilder längst nicht mehr die Widerspiegelung der ihr innewohnenden Technik sind, sondern Besitz von der Realitätsebene des Films ergreifen. Diese wird komplett dekonstruiert, weil irgendwann weder Max Renn noch der Zuschauer zwischen dem physischen Eindringen des Fernsehbildes in die Realität und den Halluzinationen, die Renn erlebt, unterscheiden können.


Was Cronenberg zeigt, ist dies: Das künstliche Bild wird wirklicher als die Wirklichkeit. Und es wird etwas mit uns anstellen. Es wird unsere Sinne verändern, mindestens. Das ist hübsch postmodern und mit einem Schuss Marshall McLuhan versetzt. Doch die in Cronenbergs Film konstruierte Wirklichkeit ist – dies mag etwas trösten – selbst eine Fiktion. Und so mag man sich beim Zuschauen beeindruckt zurücklehnen, wenn man David Cronenbergs Filme als Medienanalyse rezipiert, aber der Film bleibt an seinem Platz und dringt auch nicht in unser Wohnzimmer vor.


Aber ganz ehrlich: eine durchdachte Medienanalyse ist „Videodrome“ eher nicht, zumindest nicht auf einer rationalen Ebene, auch wenn Cronenberg durchaus pointiert viel von der sich später entwickelnden Videokultur und der Virtual Reality antizipierte, wie sie 1999 in
„eXistenZ“ zu sehen war. Auch mit Cyberpunk hatte „Videodrome“ einiges gemein. Postmoderne Zuschauer, denen es daran gelegen ist, die Medien Fernsehen und Video mit der drohenden Auflösung eines vertrauten Realitätskonzepts zu verbinden, werden allerdings auch heute noch begeistert sein.


Ich konnte mich mit „Videodrome“, den ich vor über 30 Jahren zum ersten Mal eher mit Skepsis sah, erneut nicht so recht anfreunden. Ich sehe (als Anhänger von Cronenbergs späten Filme) in „Videodrome“ eher die künstlerische Sublimierung einer Handvoll persönlicher Obsessionen und auch eine Weiterentwicklung klassischer Horrormotive, die bereits in den 1930er Jahren Motive des Body Horror in ihrem Inventar hatten. Ansonsten war mir die Figurenentwicklung zu steril und auch das Filmskript ließ einige Fragen unbeantwortet.
Der Regisseur hat sich selbst bedeckt gehalten, zumindest in jungen Jahren konnte und wollte er die Bedeutung seiner Filme erst nach deren Fertigstellung ganz erfassen.
David Cronenbergs frühe Filme sind nicht nur deswegen deutungsoffen. Interpretationen gab es in den Folgejahren wie Sand am Meer.
Etwas liegt beim erneuten Hinsehen aber auf der Hand: Illustriert von Howard Shores schön-schauriger Musik, befinden sich die Protagonisten in „Videodrome“ in einem evolutionären Prozess, der an Aktualität gewonnen hat und den David Cronenberg geahnt haben muss. Cybermedizin, Genetik und digitale Prothetik, aber der VR-Helm und das Brain-Computer-Interface (BCI) werden tatsächlich zu neuen Formen der Verschmelzung von Körper und Technologien führen, die dann hoffentlich nicht ganz so erschreckend wie in der Welt des David Cronenberg ausfallen werden. Wenn nicht, werden wir uns
„Videodrome“ noch einmal anschauen müssen.

Hervorragende Bildqualität und reichhaltiges Bonusmaterial

„Videodrome“ ist von Koch Media im Pappschuber veröffentlicht worden. Er enthält eine Bluray mit der Kinofassung (87 Min.) und dem ungekürzten Director’s Cut (89 min.) sowie eine DVD mit einem 85-minütigem Director’s Cut und auch eine Bonus-DVD mit folgenden Inhalten: „Cronenberg über Cronenberg“ (ca. 80 Min.), „Robert Mitchell interviewt David Cronenberg“ (ca. 5 Min.), „David Cronenberg stellt Videodrome vor“ (ca. 11 Min.), „Die Schmiede des neuen Fleisches“ (ca. 28 Min.), „The Making of Videodrome“ (ca. 8 Min.); „Samurai Dreams“ (ca. 5 Min.), „Transmissions“ (ca. 7 Min.); Helmkamera-Test (ca. 5 Min.), Beta-Tapes (ca. 1 Min.), Kurzfilm „Camera“ (ca. 7 Min.), 3 Originaltrailer; Bildergalerie mit seltenem Werbematerial und ein 24-seitiges Booklet von Christoph Huber und Stefan Jung.
 

Allein das Bonus-Material rechtfertigt den Kauf. Dazu gehört auch das sehr lesenswerte Booklet. Christoph Huber setzt sich in dem Aufsatz „Und das Fleisch ist Bild geworden“ sehr enthusiastisch mit „Videodrome“ und Cronenbergs Gesamtwerk auseinander, während Stefan Jung in „Ein Monster von einem Film“ die Entwicklungsgeschichte von „Videodrome“ nachzeichnet.

Die Bluray mit den beiden Filmfassungen ist ein gelungenes Beispiel für eine tolle Restaurierung, nicht nur, wenn man sich an die Qualität der bisherigen Veröffentlichungen auf DVD und VHS erinnert. Angesehen von einer grieseligen Credit Sequence am Anfang erwartet den Zuschauer ein durchgehend scharfes und farblich ausgewogenes Bild, das kaum Schwächen aufweist.
Da einzige Ärgernis ist das Verkleben des Booklets mit der Innenseite des Schubers. Die Entnahme des Booklets erweist sich als nahezu unmöglich und nach dem erneuten Einlegen des Booklets ist das Problem keineswegs beseitigt. 
Originell ist dagegen der Rücken des zusammenklappbaren Einlegers: er sieht wie alte VHS-Kassette aus. Und das ist ein weiterer Volltreffer, denn
„Videodrome“ ist kein Film für's Kino, sondern für unser Heimkino.