Dienstag, 16. Juli 2013

In ihrem Haus

O.: Dans la maison, Regie und Buch: François Ozon, Frankreich 2012, Länge: 102 min, D.: Fabrice Luchini, Kristin Scott Thomas, Ernst Umhauer, Bastien Ughetto, Emmanuelle Seigner.

Mit den Augen eines anderen die Welt zu entdecken, dabei aber sachliche Distanz vorzutäuschen, ist ein Thema des Kinos schlechthin. Aber in die intimsten Bereiche des Lebens vorzudringen und den Zuschauer zum Voyeur zu machen, ist wesentlich spannender und dabei auch noch pures Erzählen, denn es gibt kein literarisches oder filmisches Sujet, das nicht von dieser elementaren Neugier des Machers und der verführten Leser und Zuschauer profitiert. Dass die dabei beobachteten Figuren nicht real, sondern fiktiv sind, spielt dabei keine Rolle, denn alles soll ein Spiel sein. In seinem Film „In ihrem Haus“ dekliniert François Ozon dies auf vergnügliche Weise durch.


Lehrern wird dieser Film auf Anhieb gefallen. Der Französischlehrer Germain (Fabrice Luchini) ist zynisch geworden: einfache Aufsatzthemen werden von seinen Schülern in Dokumente unbemühter Banalität verwandelt. Den Twitter- und Facebook-Kids mehr als zwei bis drei selbstverfasste Zeilen zu entlocken, scheint aussichtslos zu sein. Über Literatur mit seinen Schülern zu reden, ist angesichts dieser Sprachlosigkeit absurd und lächerlich. 
Auch die aufreizend leichte Aufgabe, einen Essay über ihr letztes Wochenende zu schreiben, führt zum Desaster. Dann entdeckt Germain die Arbeit von Claude (Ernst Umhauer). Der stille Schüler beschreibt stilistisch begabt und dazu noch spannend, wie er seinen Mitschüler Rapha Artole (Bastien Ughetto) manipuliert hat, um beim gemeinsamen Erledigen der Schulaufgaben in dessen Elternhaus die Familie seines Freundes heimlich ausspionieren zu können. Die maliziös erscheinende Beschreibung von Raphas Mutter Esther (Emmanuelle Seigner) zieht nicht nur den Lehrer an: die Textstelle „der typische Duft einer Frau aus dem Mittelstand“ erscheint Germains Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas), einer Kunstgaleristin, gar psychopathologisch verdächtig zu sein. Egal, ob hingerissen oder abgestoßen, beide kleben von nun an den Texten des Jungschriftstellers. Sie sind aufgrund der unwiderstehliche literarischen Cliffhanger im raffinierten Netz eines Fortsetzungsromans gefangen. Fortsetzung folgt.


Das Spiel der Lüste

Das allein könnte schon den Stoff für eine mokante Komödie über die verlorenen Illusionen des Bildungsbürgertums abgeben. Allein die abstrusen Versuche von Jeanne, die Schließung der Galerie durch ihre nicht sonderlich kunstaffinen Besitzer zu verhindern, fallen immer verzweifelter aus. Ihre Erklärungsversuche einer Bilderserie über Wolken liegen irgendwo zwischen Luis Buñuel und Woody Allen: mit der nichtssagende, aber brillant vorgetragener Rhetorik versucht Jeanne die Bilder als dernier cri, als Avantgarde schön zu quasseln, obwohl fast nichts auf den weißen Leinwände zu sehen ist. Aber eine Komödie ist In ihrem Haus dann doch nicht.

Das liegt auch daran, dass Ozon wieder einmal sein Talent voll ausspielt und dabei zeigt, dass er virtuos in allen Genres zu Hause ist. Sein Film ist nämlich auch ein dezenter Psychothriller, der sich einiges bei Alfred Hitchcock und Brian De Palma abgeguckt hat. Obsession und Voyeurismus haben beide Regisseure bekanntlich nicht nur einmal clever und stilbildend zum Gegenstand ihrer hartnäckigen Beobachtungen gemacht. 
In ihrem Haus begibt sich in dem Moment auf ihre Fährte, als Germain damit beginnt, sich in Claudes literarischen Mentor zu verwandeln. Er bestellt ihn immer häufiger zu privaten Lektionen ein und beginnt, an den zunächst realistisch anmutenden Beschreibungen der Artoles herumzumäkeln: hier bitte mehr dramatische Tiefe in den Figurenbeschreibungen, dort mehr Spannungsdramaturgie. Irgendwann verschwimmt dann auch die Fiktion vollständig und der Zuschauer weiß nicht mehr so recht, was Claude tatsächlich erlebt hat und was er für seinen Lehrer wunschgetreu fiktionalisiert. Deshalb schmeichelt sich Claude immer mehr wie ein Symbiont in der Familie ein und beginnt, die Dame des Hauses verführerisch zu umgarnen und zu einer Romanze zu verleiten. Ist dies noch real oder beginnt hier bereits die Verführung des Mentors? Ein wenig (aber wirklich nur ein wenig) lugt hier Michel Foucaults Definition vom Spiel der Lüste um die Ecke, mit der Foucault die Aufmerksamkeit auf die verborgenen und vorangehenden Machtbeziehungen lenken wollte, die alle (erotischen) Lüste bestimmen, wobei die Regeln natürlich ständig verworfen oder erweitert werden können.

Natürlich geht es in „In ihrem Haus“ daher auch um Manipulation, aber die Lust daran ist die des Erzählens, und dort können Regeln schließlich auch über den Haufen geworfen werden...
Claudes Ziele bleiben in diesem Spiel mysteriös. Schildert er die fortschreitende Manipulation seiner Gastfamilie, um eigentlich die Germains zu manipulieren? Ist seine Neugier literarisch stimuliert oder sucht sich der aus ärmlichen Verhältnissen kommende Schüler nur eine neue Familie? Stimmt seine Vita überhaupt oder ist auch sie nur ein Instrument der Steuerung und Lenkung? 

Ozon geht noch einen Schritt weiter und sprengt schließlich den diegetischen Erzählraum. Irgendwann taucht nämlich Germain in einer von Claude beschriebenen Szene auf, nämlich als Claude und Germain allein miteinander sind, und kommentiert den Verlauf der Handlung, ja, er verlangt sogar Änderungen. Von Anfang an war Ozons Film etwas, was die Narratologie eine mise en abyme nennt, eine Verdoppelung, die dann auftritt, wenn eine Geschichte erzählt wird, in der eine Figur ihrerseits eine Geschichte erzählt. Und diese mise en abyme, die den illusionären Charakter der hermetischen Erzählung auflöst und den Leser/Zuschauer mit der Konstruiertheit des Ganzen konfrontiert, wird nun auch noch metaleptisch (hier sei an Woody Allens The Purple Rose of Cairo erinnert, aber Life of Pi, vgl. http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/search?q=Life+of+Pi), denn der Erzähler ist Teil seiner eigenen Geschichte und im vorliegenden Fall hat er es auch noch mit seinem Mentor zu tun, der in diese Geschichte eindringt und sie gerne in eine andere Richtung lenken möchte. 


Hommage an Alfred Hitchcock

Das hört sich arg theoretisch an, ist es aber nicht, denn Ozon serviert das Ganze mit einer unangestrengten Leichtigkeit. Dass sich dann aber Mentor und Schüler in ihren literarischen Konstruktionen verfangen, führt schließlich zur Katastrophe: Germain besorgt seinem jungen Schriftsteller den bevorstehenden Mathematik-Test von Rapha, da Claude beteuert, er könne nur dann weiter bei den Artoles ein- und ausgehen (und damit 'Stoff' für seine Geschichte erhalten), wenn Rapha den Test besteht. Am Ende verliert Germain seinen Job und seine Frau und Claudes Romanze mit Esther findet kein romantisches Ende. Und so sitzen Germain und Claude in der letzten Einstellung des Films gemeinsam als Freunde auf einer Parkbank und schauen sehnsuchtsvoll auf die Fenster der Häuser um sie herum, Fenster, hinter denen wohl weitere Geschichten warten. Man muss sich halt nur Zugang zu den Wohnungen verschaffen.
Welche Sehnsüchte sich hinter diesem Voyeurismus verbergen, mag der Zuschauer für sich selbst entscheiden. Vielleicht ist es die Lust am heimlichen Belauschen und gleichzeitig auch die Lust am Geschichtenerzählen. Aber die eigentliche Subtilität besteht dann doch wohl darin, in diese Geschichten eingreifen zu können. Und so sind die allerletzten Bilder des Films eine Hommage an Rear Window (Fenster zum Hof) von Alfred Hitchcock, der mustergültig darin war, die Freuden des heimlichen Zuschauens und der erotischen Sublimierung zu demonstrieren und den Zuschauer dabei auch noch zum Komplizen zu machen.

Noten: Melonie, BigDoc = 1, Klawer = 2

Damit übernahm In ihrem Haus Platz Nr. 1 im laufenden Rating.