Samstag, 25. Januar 2014

All is Lost

Verloren in den Weiten des Indischen Ozeans, aber erst dann aufzugeben, wenn wirklich alles verloren ist – das ist kein Codex, sondern Haltung. Wie dies angesichts des wahrscheinlichen Todes aussehen kann, demonstriert der 77-jährige Robert Redford in einem minimalistischen Lehrstück auf bewundernswerte Weise.
„All is Lost“ ist aber auch ein starkes Stück Kino.


Einige Katastrophen kommen schnell und der Tod lässt dann nicht lange auf sich warten. Andere Katastrophen kommen ebenfalls schnell, aber wenn sie da sind, kann man sich beim Sterben zuschauen. In der zivilisierten Welt werden die entsprechenden Pendants durch Autounfälle und Krebs definiert. 
Dass ein alter Mann lossegelt und dann 1700 Seemeilen entfernt vom Festland ausgerechnet von einem Container voller Turnschuhe gerammt wird, das ist fast wie ein höhnischer Kommentar des Schicksals. Hier kündigt sich der Tod auf Raten an.

In J.C. Chandors („Margin Call“) naturalistischem Drama entsteht die Kraft des Erzählens aus der Liebe zum Detail, oder besser gesagt: zu den Dingen. „Zeug“ hat Martin Heidegger die Dinge genannt, die uns umgeben. Der namenlose Held (nennen wir ihn einfach Redford) in Chandors Film muss schnell ihre Wertigkeit erkennen, als das Wasser bedrohlich schnell ins Boot läuft. In der richtigen Reihenfolge, denn sie können sein Leben retten. Er reagiert fast emotionslos und fokussiert, als er durch den Crash geweckt wird. Schnelle Blicke und eine rasche Einschätzung, dann verwendet er einen Seeanker, um sein Boot vom Container zu lösen. Anschließend wird mit dem, was an Bord ist, das Loch verklebt, gestopft und einigermaßen seefest gemacht. Die beschädigte Pumpe wird repariert und auch dabei fällt kein Wort. 
Mit wem sollte er auch reden.

Geredet hat er am Anfang, im Off. Später erfährt man, dass es seine letzten Worte sind.
"I'm sorry. I know that means little at this point, but I am. I tried. I think you would all agree that I tried. To be true, to be strong, to be kind, to love, to be right. But I wasn't.“ Nun aber ist alles verloren, und dass dies der Prolog des Films ist, lässt nichts Gutes erahnen.


Naturalistische Filmprosa im Stile Hemingways

Die Katastrophe ist allerdings noch nicht eingetreten, und obwohl das Kommunikations- und Navigationssystem ausgefallen ist, befindet sich das Boot in einem manövrierfähigen Zustand.
Dann kommt der große Sturm und damit der Anfang vom Ende. Der Mast bricht, Redford geht über Bord, kämpft sich zurück und rettet sich mitsamt einiger Vorräte, einem Behälter mit Wasser, einem Sextanten, einer Seekarte und anderem Zeug in eine Rettungsinsel, von der er dann den Untergang seines Bootes beobachtet.

Mythisches in dem Geschehen zu erkennen, wird unweigerlich zur Kritikerpoesie. Es gibt nichts zu erklären. Der Film ist das, was man sieht: ein Mann kämpft um sein Leben.
Während Ang Lee in seinem ozeanischen Drama „Life of Pi“ mit diegetischen Tricks und raffinierten Plot Points ein anderes, sehr symbolgeladenes Seedrama vorführte, erzählt Chandor die Geschichte lakonisch und mit akribischer Genauigkeit. Er nimmt sich die erforderliche Zeit für jedes Detail und protokolliert den fortschreitenden Verlust der Ressourcen, die seinen Helden vom Meer und damit vor dem Ertrinken bewahren.
Dies ist kein Realismus, sondern naturalistische Filmprosa. Die Reduktion der filmischen Mittel, der Minimalismus der Erzählung, die Konzentration auf das „Zeug“, das immer weniger wird, erinnert dabei an die Art, wie Ernest Hemingway seine Novellen und Romane geschrieben: knapp, präzise, in einfachen Aussagesätzen. 

Dabei öffnet sich „All is lost“ natürlich für allerlei Deutungen, die möglicherweise sowohl zulässig als auch unsinnig sind. Wer Allegorisches sehen will, mag Allegorisches finden. Zum Beispiel in den Kamera-Untersichten auf die Rettungsinsel, die von Haien umkreist wird. Oder man sucht sich den passenden Aphorismus. „Ein Mann kann vernichtet werden, aber nicht besiegt“, formulierte Hemingway in „Der alte Mann und das Meer“. 
Das passt.


Kino der Bescheidenheit

Robert Redford spielt den Skipper mit überragender Performance. Er agiert sparsam und konzentriert - ein alter Mann, der weiß, was er tut. Die Rückschläge sind pure Zufälle, das langsame Zuschreiten auf den Abgrund ist keineswegs unvermeidlich – es hätte auch anders kommen können. Diese fast emotionslose Schauspielkunst spart sich die großen Emotionen für die wirklichen Schicksalsschläge auf – wenn der Tod eigentlich beschlossene Sache ist. Ein „Fuck“ ist dann beinahe schon ein exzessiver Gefühlsausbruch.
Kurz vor dem Ende obsiegt dann doch die Verzweifelung, als Redford erkennt, dass nichts mehr zu tun ist. Der mühsam erlernte Gebrauch des Sextanten führt ihn zu den großen Schifffahrtslinien, aber niemand sieht seine Leuchtkörper. Die Lebensmittel gehen aus, das Wasser ist kontaminiert, die Sonne verbrennt das Gesicht. Ein Hai schnappt ihm einen Fisch vom Haken und schließlich schreibt er seine letzten Worten auf ein Stück Papier, das er einer Flaschenpost anvertraut. Als erneut ein Frachter an ihm vorbeizieht, setzt er alles Brennbare in Flammen. Dann fällt er über Bord und überlässt sich dem Meer. Das Ende? Vielleicht, denn alles was nun folgt, ist ein Märchen. Auch das mag man glauben oder auch nicht.

Ist das großes Kino? Offen gestanden, ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass das Betrachten von Chandors Bildern ein immenses Vergnügen beim Hinschauen bereitet hat. Die Ruhe, die man gewinnt, wenn man wieder Zeit zum genauen Beobachten erhält, ist gegenwärtig ein seltener Gast in den Kinosälen. 
„All is lost“ ist die Rückkehr zu einer verloren geglaubten Bescheidenheit in der Wahl der filmischen Mittel, die erstaunlicherweise um so nachdrücklicher wirkt, je mehr Zeit vergeht. Nämlich die im Kino und die danach. Man denkt noch lange nach über diesen Mann. Mehr kann man wirklich nicht verlangen.

Noten: BigDoc = 2

Postscriptum: Dass „All is Lost“ bei den 86th Academy Awards nur für Best Sound Editing nominiert worden ist, kann man getrost als Witz bezeichnen.

All is Lost – USA 2013 – FSK 6 – Regie und Drehbuch: J.C. Chandor – Musik: Alex Ebert – D.: Robert Redford