Samstag, 31. Oktober 2009

Das weiße Band

Michael Haneke und sein Film über das Wesen der Gewalt

Michael Haneke ist ein Regisseur, der scheinbar genau weiß, warum er immer wieder aneckt und den Zuschauern Bilder zumutet, die oft abstoßen (Bennys Video, 1992, Funny Games,1997) und gleichzeitig magisch anziehen, wenn man das Gesehene ertragen kann. Dass ihm, der nach den Wurzeln von Gewalt sucht, nicht selten die Verherrlichung der Gewalt unterstellt wurde, gehört zu den – allerdings vorhersehbaren – Paradoxien der Filmrezeption. „Das weiße Band“, der Sieger in Cannes, wird nun unisono als Meisterwerk gefeiert. Zu Recht.
Haneke spürt erneut den Ursachen von Gewalt und Terror nach, diesmal im auch filmästhetisch geschlossenen Mikrokosmos eines Dorfes am Anfang des 20. Jahrhunderts, komplett in Schwarz-Weiß gedreht und dank aufwändiger digitaler Nachbearbeitung so konsequent durchgestylt, dass einige Kritiker sich schon Sorgen um das Sujet machten, dessen thematische Morbidität möglicherweise so viel Opulenz und Schönheit gar nicht verdient.

Schönheit hat ihren Preis
Am Schwarz-Weiß-Film hängt ein Mythos. Schwarz-Weiß scheint, obwohl es alles andere als eine naturalistische Wiedergabe der Realität ist (die Natur ist bunt!), eine mimetische Kraft zu besitzen, die ihn unweigerlich ans Dokumentarische fesselt. Vielleicht ist dies seiner Herkunft aus dem Photographischen geschuldet, aber ein schwer beweisbarer Mythos bleiben solche Betrachtungen dennoch. Wer sich ältere Arbeiten von Orson Welles anschaut, dem der ästhetische Aspekt seiner Filme alles andere als gleichgültig war, kann unschwer erkennen, dass sich die schwarz-weiße Ästhetik ganz rasch auf die Seite einer expressionistischen, häufig auch narzisstischen (Selbst-)Bespiegelung der Realitätswahrnehmung schlagen kann. Auch das geht.

Das Ganze ist eine Frage des Stils und Stil ist bei Haneke immer eng mit dem Narrativen verbunden. Und so ist sein historischer Ausflug in ein norddeutsches Dorf kurz nach der Jahrhundertwende in seiner Farbwahl deswegen so konsequent, weil sie ans historische Foto erinnert, genauso wie der Off-Erzähler (Ernst Jacobi) literarische Traditionen des ausgehenden 19. Jh. (Fontane) anklingen lässt, deren vermeintlich biederer und gleichmütiger Tonfall eine Sicherheit vorgaukelt, die es nicht gibt: der Erzähler richtet zwar seinen Blick aus sicherer Distanz zurück auf das Gewesene, aber dies hält denjenigen, dem es erzählt wird, nicht auf Distanz. Meist wird so ganz beiläufig die Büchse der Pandora geöffnet und es tauchen scheußliche Dinge auf, an die man nicht erinnert werden möchte. Beides, die Farbe und den Erzähler, kann man durchaus als Verfremdungseffekt interpretieren, so wie es Haneke in Interviews angedeutet hat. Es sind aber im Gegensatz zum deutlich schrilleren Brechtschen V-Effekt leise Töne einer Dissonanz, die Tradiertes nutzt, ohne dass der Zuschauer es sich allzu sehr gemütlich machen kann. Schönheit hat bei Haneke ihren Preis.

Unbehagliche Außenansichten
Es ist Abend, die Zeit für die letzte gemeinsame Mahlzeit des Tages. In der Pastorenfamilie sitzt aber niemand, alle Familienmitglieder stehen vor ihren Stühlen. Mit maßvollen und sorgfältig gewählten Worten kanzelt der Pastor zwei seiner zu spät gekommenen Kinder ab. Martin und Klara und der Rest der Familie wirken schreckstarr, es wird nicht das erste Mal sein, dass das Familienoberhaupt für den nächsten Tag eine Prügelstrafe in Aussicht stellt. Der strenge Patriarch empfindet dies allerdings als Belastung. Für sich wohlgemerkt. Er schickt die Familie mitsamt der Mutter ohne Essen ins Bett und lässt sich die Hand küssen.
Der Satz „Strafe muss sein!“ ist auch heute noch geläufig. Dieser pädagogische Imperativ besitzt einen Sprachduktus, der jedes Hinterfragen überflüssig macht. Auch aus der Sicht der Kinder ist Widerstand sinnlos, jede Erklärung ihres Handelns fruchtlos. Michael Hankes „Das weiße Band“ wird nach dieser frühen Szene seine Geschichte an anderen Orten weitererzählen, aber unerbittlich kehrt er am Folgetag zurück zur protestantischen Pfarrersfamilie, um den Akt der Züchtigung zu dokumentieren. Der Zuschauer bleibt jedoch draußen. Haneke zeigt die beiden Sünder beim Betreten eines Zimmers, in dem sie vor der versammelten Familie ihre Strafe empfangen sollen. Die Tür schließt sich, dann öffnet sie sich wieder und Martin holt den Prügel aus einem anderen Zimmer, kehrt zurück und schließt erneut die Tür. Die Kamera bewegt sich keinen Zentimeter und man wartet, bis die ersten Schreie zu hören sind. Das ist weder Suspense noch ein dramaturgischer Kniff, der die Spannung steigern soll. Es ist ein Brennglas, das Haneke benutzt, und wie auch in seinen früheren Filmen spürt man eine zunehmende Unbehaglichkeit im Kinosessel.

Es sind Außenansichten einer erbarmungslosen Bildungs- und Sozialkultur, die Haneke bietet. Eine Psychologisierung der Handlung, die um Verständnis bemüht ist, gibt es nicht. Sie käme zustande, wenn die Kinder miteinander reden würden, wenn der Zuschauer wie ein allmächtiger Beobachter immer etwas mehr wüsste als die Handelnden. Aber dies tut er nicht, er bleibt außen vor, denn die Kinder reden nur selten und die wenigen Sätze bleiben mysteriös. Meist gehen sie gemeinsam durchs Dorf und häufig sind die Mädchen, angeführt von der in Schwarz gekleideten Klara, enger beisammen als die Jungs. Wie bei Rohmer hält sich die Kamera dabei meist an einem Ort auf, es gibt keine Fahrten, kaum Schwenks und in langen Einstellungen werden die Szenen nüchtern und mit wenigen Schnitten ausgebreitet. Das Brennglas, das Haneke nutzt, vergrößert alles, aber man weiß, dass der Gegenstand der Beobachtung auch einem Brennpunkt unterliegt und alles in Flammen aufgehen kann, wenn Winkel und Betrachtungsdauer stimmen.

Wir sind im Jahre 1913, in Eichwald, einem protestantischen Dorf. Die Hierarchie steckt Haneke schnell ab: an der Spitze der Baron (Ulrich Tukur), dessen über Generationen weitergereichte ökonomische Vormachtstellung brüchig zu werden scheint; es folgen der Pastor (brillant: Burghart Klaussner), der Arzt (Rainer Bock), der Lehrer (Christian Friedel), dann die Bauern und ganz am Ende die osteuropäischen Erntehelfer. Der dörfliche Friede, ein Begriff, der nur Sinn macht, wenn er die fein ausbalancierte Klassenstruktur meint, wird gestört, als sich seltsame Vorfälle häufen: Zunächst verunglückt der Arzt mit seinem Pferd - ein dünner Draht wurde zwischen zwei Bäumen gespannt und ist anderentags spurlos verschwunden. Eine Bauersfrau kommt bei einem Arbeitsunfall im Sägewerk ums Leben, worauf ihr Sohn, der den Baron für verantwortlich hält, dessen Kohlernte nach dem Erntedankfest abmäht. Der älteste Sohn des Barons wird am gleichen Tag entführt und am nächsten Morgen gefesselt und misshandelt im Sägewerk aufgefunden. Viel später, als sich das Dorf ein wenig beruhigt hat, wird eine Scheune in Brand gesetzt und alles eskaliert endgültig, als der behinderte Sohn der Hebamme schwer misshandelt im Wald gefunden wird.
Wer tut so etwas?
Gibt es eine Verschwörung, die die Missetaten plant und ausführt? Oder sind es Einzeltäter, die spontanen Racheimpulsen folgen? Die Vernichtung der Kohlernte ist schnell aufgeklärt, der Vater des Verantwortlichen wird sich später aufhängen. Der Unfall im Sägewerk deutet auf einen morschen Boden hin. Aber das Attentat auf den Arzt und alle weiteren Gewalttaten bleiben ungeklärt, auch dann, als die Hebamme spurlos verschwindet, nachdem sie dem Lehrer angedeutet hat, dass sie den oder die Täter kennt. Der Lehrer, der spürbar gealtert auch Off-Erzähler ist, wird am Ende die Kinder verdächtigen, die immer wieder in Gruppen an den Orten auftauchen, an denen etwas geschehen ist. Aber auch dies bleibt ungeklärt, obwohl man einmal sieht, dass ein Dorfjunge den Sohn des Barons in den Weiher wirft, ohne danach eine Hand zu rühren, um ihn vor dem Ertrinken zu retten. Dies tut ein Freund, aber der brutale und spontane Akt der Gewalt scheint keinem Plan zu folgen. Es scheint, als würden die Strukturen des Dorfes langsam und unausweichlich implodieren und einen Zeitenwechsel andeuten.

Ein Biotop am Rande der Verzweifelung
Das alles könnte einen veritablen Krimiplot abgeben, zudem angereichert mit einem Schuss Fantasy. Aber Haneke arrangiert die ungeheuerlichen Ereignisse sehr locker, um sich immer wieder den mikroskopischen Strukturen des Gemeinlebens zuzuwenden. Dort spiegelt sich die äußere Gewalt, die sich nicht nur gegen Unterlegene und Außenseiter wendet wie den geistig behinderten Sohn der Hebamme, in den viel feineren Strukturen eines repressiven familiären Systems wider. Und immer wieder kehrt Haneke zur Pastorenfamilie zurück, um minuziös dieses Zusammenspiel der Komponenten zu beobachten. Sei es, wenn Klara die tobende Klasse vor dem Beginn des Konfirmationsunterrichts ganz im Sinne ihres Vaters zu beruhigen versucht, von diesem aber als Rädelsführerin missdeutet, misshandelt und gedemütigt wird, bis sie kollabiert; sei es, wenn Klara dafür den Lieblingsvogel ihres Vaters köpft und mitsamt der Schere zu einem christlichen Kreuzsymbol arrangiert; oder sei es auch dann, wenn der Pastor von seinem Jüngsten einen neuen Vogel geschenkt bekommt und mit seinem Kiefer mahlt, um seine Gefühle für das Kind zu unterdrücken und nur ein knappes „Danke“ zuwege bringt.

Überall begegnet dem Zuschauer in Hanekes Film eine Kälte hart am Rande zur Verzweifelung. Das Biotop Eichwald zeigt sich sowohl in makroskopischer als auch in mikroskopischer Hinsicht als autoritär-repressiver Kontext, der sich zwar in der nächsten Generation reproduzieren möchte, aber mittlerweile so aufgeheizt ist, dass seine durch christlichen Glauben und nicht hinterfragte Traditionen definierten Adhäsionskräfte versagen.
Dass selbst die essentiellen moralischen Übereinkünfte der Dorfgemeinschaft an den Rändern aufbrechen, zeigt Haneke am Beispiel des Arztes, eines Zugezogenen, der seine Geliebte, die Hebamme sowohl sexuell als auch rhetorisch quält und erniedrigt, während er sich nächstens inzestuös an seiner Tochter zu schaffen macht.

Menetekel des Faschismus?
Es liegt nahe, den Film als Menetekel zu lesen, das den von Fromm bis Adorno oft beschworenen ‚autoritären Charakter’ in seinen soziologisch erkennbaren Sedimenten dingfest macht. Dieser Typus beugt sich, durch Erziehung und Sozialisation gebrochen, widerspruchsfrei den Gesetzen eines totalitären Gesellschaftssystems, um dort nach Maßgabe durch die eigene gesellschaftliche Rolle nun auch selbst sadistische Impulse ausleben zu können und zu dürfen. Faschismus ante portas?
Diese Deutung springt den Zuschauer, insofern er über entsprechende Bildung und Wissen verfügt, förmlich an. Genauso wie das Nachspüren der Einflüsse der später so genannten Schwarzen Pädagogik, jenen Handreichungen für Erzieher und Eltern, die beginnend mit ersten Schriften aus dem ausgehenden 17. Jh. ein repressives Erziehungsideal in den Familien verankerte, dessen eigentliches Ziel die Zerstörung der kindlichen Persönlichkeit war.
Beides mag stimmen und vielleicht werden die Kinder des Dorfes zwei Jahrzehnte später willfährige Nazis sein. Aber „Das weiße Band“ ist subversiv genug, um sich nicht allzu schnell und vor allen Dingen vollständig enträtseln zu lassen. Wer tiefer gräbt, wird jene seismographischen Schwingungen entdecken, die eine Verbindung zwischen dem leibfeindlichen und depravierenden Calvinismus und der später von Max Weber ausführlich beschriebenen protestantischen Arbeitsethik aufzeigen, deren Wesen ontologisch als tiefe Entfremdung gedeutet werden kann. Weber beschreibt dies als Walten eines unnahbaren Gottes: „Maßstäbe irdischer Gerechtigkeit an (Gottes) souveräne Verfügungen anzulegen, ist sinnlos…der Sinn unseres individuellen Schicksals ist von dunklen Geheimnissen umgeben, die zu ergründen unmöglich und vermessen ist…Denn jede Kreatur ist durch eine unüberbrückbare Kluft von Gott geschieden und verdient von ihm…lediglich den ewigen Tod…Anzunehmen, dass menschliches Verdienst oder Verschulden dieses Schicksal mitbestimme, hieße Gottes absolut freie Entschlüsse, die von Ewigkeit her feststehen, als durch menschliche Einwirkung wandelbar ansehen: ein unmöglicher Gedanke.“
Und die Konsequenz? „In ihrer pathetischen Unmenschlichkeit musste diese Lehre nun für die Stimmung einer Generation, die sich ihrer grandiosen Konsequenz ergab, vor allem eine Folge haben: ein Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums“ (Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1905).

Ein Film, der verstört
"Die weiße Farbe soll Euch an Unschuld und Reinheit erinnern", sagt der Pastor seinen ‚sündigen’ Kindern Martin und Klara, bevor er sie mit einem ebensolchen Band ausstaffiert. Daher rührt der Titel des Films. Fast scheint es in diesem deterministischen Kosmos, in dem alles von Gott bestimmt ist, auch die Sünde und das Gutsein, vollkommen logisch zu sein, dem des freien Willens beraubten Kind die Normen ohne jedweden Diskurs einzubläuen. Es geht nicht um Verstehen, sondern um Funktionieren. Es geht nicht um Vernunft, sondern um Gehorsam. Das weiße Band stigmatisiert die Kinder als Sünder und kann zugleich als Ehrenzeichen getragen werden. Ein verstörender Widerspruch, der sich bald historisch auflösen wird, dann nämlich, wenn Judensterne gewiss keine Ehrenzeichen mehr sein werden.

„Das weiße Band“ stellt seine Themen gleich im Dutzendpack zur Debatte: das Scheitern einer Religion, die sich mit alttestamentarischer Härte der Zucht zuwendet; die sexuelle Frustration; die spät-feudalistischen Strukturen einen Klassengesellschaft, die als letztes Aufbäumen den Faschismus generiert; die Sublimierung von Aggressionen durch Gewalt gegen Schwache und Außenseiter – an diesem gewaltigen Themenüberbau scheitert Haneke nicht, weil er seine Figuren nur selten etwas verhandeln lässt, sondern sie beobachtet. Dies gibt dem Film eine formale Geschlossenheit, die Spuren hinterlässt. Spuren, die man rational deuten kann, die emotional aber verstören.
Am Ende entlässt Haneke nicht nur seinen Erzähler in den 1. Weltkrieg. Dies hat auch Thomas Mann mit dem jungen Castorp gemacht, nachdem sich die illustre Zauberberg-Gesellschaft mit einem kollektiven Veitstanz verabschiedete. Castorp verlor der Autor aus den Augen. Den jungen Lehrer, der weder das humanistische Gewissen des Dorfes noch ein zivilcouragierter Strahlemann ist, sondern einfach nur anständig, lässt er in Eva sein privates Glück finden. Nach dem Krieg wird der junge Mann Schneider. Wie sein Vater.

Noten: BigDoc = 1, Klawer = 1