Ang Lees neuer Film „Life of
Pi“ ist 11-mal für die 85th Academy
Awards nominiert worden. Die Konkurrenz ist nicht nur groß, sondern auch
gut, und ob es für mehrere Oscars reichen wird, ist fraglich: bereits bei den
Golden Globes gab es für Lees Film nur eine Auszeichnung in einer
Nebenkategorie. Ginge es um visuelle Qualität und brillantes CGI, dann wäre die
Sache klar. Aber „Life of Pi“ will mehr sein: auf den ersten Blick eine
Abenteuergeschichte, schickt Ang Lee seinen Helden bei näherem Hinsehen auf die
Suche nach einem Gott jenseits der großen Weltreligionen. Ob sich die Juroren für
ein universell-spirituelles Religionsmodell erwärmen können, bleibt abzuwarten.
„Life of Pi“ (nach dem Roman
„Schiffbruch mit Tiger“ von Yann Martel) funktioniert nicht ohne seine
Rahmenhandlung, aber warum dies so ist, begreift man erst zum Schluss: ein
unbekannter Romanautor ist auf der Suche nach einem packenden Stoff und besucht
im kanadischen Montreal einen Inder, der angeblich eine solche Story auf Lager
hat. Pi Patel (Irrfan Khan, u.a. „Slumdog Millionaire“, 2008) erzählt dem
Besucher in Rückblenden von seiner Kindheit als Sohn eines Zoodirektors - nicht
nur Tiere, sondern auch religiöse Erfahrungen faszinierten ihn. So ist Pi (der
Name steht für die gleichnamige mathematische Konstante) zunächst Hindu,
entdeckt dann aber den Katholizismus und schließlich auch den Islam für sich, während
sein Vater als säkularer Rationalist humorvoll auf die Erkenntnistrips seines
Sohnes reagiert.
Als Pis Vater beschließt, auszuwandern und die Tiere in der neuen Heimat zu verkaufen, tritt Pi, der sich gerade frisch verliebt hat, nur widerwillig die lange Schiffsreise an. Als das Schiff in einem gewaltigen Sturm sinkt, findet sich Pi als einziger menschlicher Überlebender in einem Rettungsboot wieder. Zusammen mit einem weiblichen Orang-Utan, einer aggressiven Hyäne, einem Zebra und einem bengalischen Tiger namens „Richard Parker“. Die Hyäne tötet erst das Zebra, dann den Orang-Utan und wird schließlich von Richard Parker getötet. Pi und der Tiger sind nun allein und es scheint, als wäre nur für einen der beiden Platz auf dem Rettungsboot.
Als Pis Vater beschließt, auszuwandern und die Tiere in der neuen Heimat zu verkaufen, tritt Pi, der sich gerade frisch verliebt hat, nur widerwillig die lange Schiffsreise an. Als das Schiff in einem gewaltigen Sturm sinkt, findet sich Pi als einziger menschlicher Überlebender in einem Rettungsboot wieder. Zusammen mit einem weiblichen Orang-Utan, einer aggressiven Hyäne, einem Zebra und einem bengalischen Tiger namens „Richard Parker“. Die Hyäne tötet erst das Zebra, dann den Orang-Utan und wird schließlich von Richard Parker getötet. Pi und der Tiger sind nun allein und es scheint, als wäre nur für einen der beiden Platz auf dem Rettungsboot.
Sehenswerte Bilder einer spirituellen Reise
Optisch ist der Film über
jeden Verdacht erhaben: was Ang Lees Film zu bieten hat, ist schlichtweg überwältigend.
Das gilt nicht nur die Meeresszenen, für die ein gigantischer 1,7 Mio. Liter
fassender Wellentank gebaut wurde, auch die von den Rhythm & Hues Studios in langer Vorarbeit entwickelten
visuellen Effekte lassen sich nicht lumpen: alle Tiere an Bord des
Rettungsbootes sind komplett animiert und wirken so realistisch, dass man ihren
Ursprung fast nicht glauben mag. Aber nicht nur der Naturalismus des Films überzeugt,
auch die Aufnahmen des Meeres faszinieren. Angefangen bei den Sturmszenen und
später dann bei ihrer Verwandlung in einen magischen Ort, voller
fluoreszierender Lichter und geheimnisvoller Meeresbewohner, die von Kameramann
Claudio Miranda (u.a. „Zodiac“; Oscar-Nominierung für „Life of Pi) in
stimmungsvollen Bildern eingefangen worden sind.
Die Technologie ist in „Life
of Pi“ aber kein Selbstzweck, Ang Lee erzählt auch keine sentimentale
Mensch-Tier-Geschichte à la Disney. Richard Parker, der Tiger, ist und bleibt
eine Raubkatze, für die der Junge Pi lediglich eine Futterressource ist. Und so
arrangieren sich Mensch und Tier nicht, sondern grenzen in einem langen Kampf
ihre Lebensräume voneinander ab. Um überleben zu können, braucht Pi aber mehr
als eine Plane eingefangenen Regenwassers und die wenigen Fische, die er
mit Richard Parker teilt. Die über fünf Monate dauernde Odyssee wird zu einer
spirituellen Reise, in der ausgerechnet der mörderische Tiger, dem Pi schließlich
sogar das Leben rettet, eine existenzielle Bedeutung erhält. Dem Tiger, so erzählt
Pi im Off, verdankt er sein Leben, die Schicksalsgemeinschaft an Bord
interpretiert der Mensch halt anders als die Raubkatze.
Pi und sein Tiger werden
schließlich nach endloser Seereise an die Ufer einer geheimnisvollen Insel gespült,
auf der Tausende von Erdmännchen leben. Aber nachts, so erzählt Pi seinem Gast,
habe sich die Insel in ein fleischfressendes Monstrum verwandelt, und so müssen
Pi und Richard Parker, der sich mittlerweile auf eine Art befristeter
Koexistenz eingelassen hat, ihre Reise fortsetzen. Am Ende landen sie an der
mexikanischen Küste, ausgehungert und fast verdurstet, und während Pi in
letzter Minute von einigen Küstenbewohner entdeckt und gerettet wird, schleicht
der abgemagerte Tiger in den tropischen Dschungel, ohne seinen darüber
verzweifelnden Reisegefährten eines Blickes zu würdigen.
Hier endet zunächst die
Geschichte, die Pi Patel dem überwältigten Buchautor erzählt. Doch es folgt
eine finale Volte, in der Pi davon berichtet , dass er im Krankenhaus von zwei
japanischen Vertreter der Reederei des untergegangenen Schiffes befragt wurde.
Beide sind enttäuscht, denn mit der Geschichte von dem Tiger und dem Jungen können
sie nichts anfangen. Pi erzählt daraufhin ein glaubwürdigere Variante: so sei
er mit einem verletzten Matrosen, einem misanthropischen Koch und seiner Mutter
im Rettungsboot gelandet. Der Koch habe erst dem Matrosen das verletzte Bein
amputiert und ihn nach dessen Tod kannibalisch verspeist. Im anschließenden
Streit habe der Koch seine Mutter getötet, worauf Pi den Koch getötet hat. Als
Pi Patel schließlich lächelnd den Buchautor fragt, welche Geschichte ihm denn
nun besser gefallen habe, erwidert dieser: Die mit dem Tiger.
Auf der Suche nach dem verlorenen Glauben
Ang Lee hat keinen Zweifel
daran gelassen, dass Pis Reise nichts anderes sei, als die Suche nach seinem
Glauben und damit nach Gott. Dass er weit davon entfernt ist, dabei eindeutig
Position beziehen zu können, hat Lee in einem Interview klar gemacht: die Suche
nach dem Glauben sei die Entdeckung der Emotionen, die Pi benötigt, um sich auf
das Unbekannte einzulassen. Dabei sei Gott nicht der alles determinierende Schöpfergott,
an den Pi zunächst glaubt, sondern am Ende der Reise verwandele er sich in die
Reflexion unseres eigenen Inneren: „Letztlich reduziert es die Glaubensfrage
auf eine Alternative: Hat Gott uns geschaffen – oder wir ihn?“
Wie sich der Zuschauer in der
Gottesfrage entscheidet, bleibt ihm überlassen. „Life of Pi“ ist nicht
deutungsoffen, aber offen für Deutungen. Dazu gehört, dass der Film Platz lässt
für eine rationale Auslegung seiner filmischen Parabel. Man kann „Life of Pi“ spirituell
erleben, aber eben auch psychologisch als Form einer Traumabewältigung rationalisieren.
Das Leiden und die Erinnerung an furchtbare Erlebnisse entzieht diesen nicht
nur jeglichen Sinn, der Leidende generalisiert die Sinnlosigkeit und das Leben
an sich wird bedeutungslos . Die Umdeutung der Erinnerungen, die Pi zugunsten
einer spirituell-mythischen Version vornimmt, verweigert sich zwar den blanken
Tatsachen, birgt aber immerhin die Chance der Selbstheilung.
In Lees Film wird die Sache etwas komplizierter, da Pi Patel offenbar seine faktischen Erlebnisse nicht verdrängt hat, sondern für sich lediglich eine zusätzliche Lesart entwickelt hat. Er imaginiert eine Tierfabel, die zwar auch grausam ist, aber als bedeutungsvolle Geschichte plötzlich Sinn macht und den Schrecken abschwächt. Und das letztendlich nur dadurch, dass er diese Geschichtsrevision kommuniziert, sie als Geschichte anderen weitererzählt. Pi Patels Traumaarbeit ist sozusagen eine ästhetische Rekonstruktion des Erlebten, die Aufhebung der Fakten in einem poetischen Modell der Wirklichkeit, womit wir mitten im Kino gelandet sind, das letztendlich auch nicht anders funktioniert. Psycho-analytische, aber auch poetologische Interpretationen der Filmerzählung werden zwar nicht der religiösen Ausrichtung von Ang Lees Geschichte gerecht, stellen aber eine durchaus zulässige Version dar, die der Erzähler Ang Lee dem Zuschauer ausdrücklich als Deutungsmöglichkeit einräumt.
In Lees Film wird die Sache etwas komplizierter, da Pi Patel offenbar seine faktischen Erlebnisse nicht verdrängt hat, sondern für sich lediglich eine zusätzliche Lesart entwickelt hat. Er imaginiert eine Tierfabel, die zwar auch grausam ist, aber als bedeutungsvolle Geschichte plötzlich Sinn macht und den Schrecken abschwächt. Und das letztendlich nur dadurch, dass er diese Geschichtsrevision kommuniziert, sie als Geschichte anderen weitererzählt. Pi Patels Traumaarbeit ist sozusagen eine ästhetische Rekonstruktion des Erlebten, die Aufhebung der Fakten in einem poetischen Modell der Wirklichkeit, womit wir mitten im Kino gelandet sind, das letztendlich auch nicht anders funktioniert. Psycho-analytische, aber auch poetologische Interpretationen der Filmerzählung werden zwar nicht der religiösen Ausrichtung von Ang Lees Geschichte gerecht, stellen aber eine durchaus zulässige Version dar, die der Erzähler Ang Lee dem Zuschauer ausdrücklich als Deutungsmöglichkeit einräumt.
Und das scheint auch die
Crux zu sein: wie viele überragenden Filme gelingt es „The Life of Pi“ das
Geschichtenerzählen selbst auf den Prüfstand zu stellen. Warum erzählen wie überhaupt
Geschichten? Sind Geschichten offene Modelle der Wirklichkeit, die nur dann
funktionieren, wenn wir prüfen können, ob der faktische Kern einer Geschichte
plausibel ist oder zumindest nicht die Tatsachen fälscht und verdreht? Oder
sind Geschichten (auch) geschlossene Modelle, die mit der Wirklichkeit verknüpft
sind, aber möglicherweise viel stärker mit unserem inneren Erleben und dessen
immanenten Regeln zusammenhängen? Und gibt es eine spezifisch ästhetische Form
für die Art von Kinoerfahrung?
Man sollte das Eine nicht
gegen das Andere ausspielen oder aus ideologiekritischen Gründen Ang Lees „Life
of Pi“ als unzeitgemäße Absage an den Rationalismus auslegen. Dessen
Sollbruchstellen werden uns ja tagtäglich vorgeführt, wenn wir in der Zeitung
lesen, was um uns herum vorgeht. Spekulativer Mystery-Krimskrams ist natürlich
erst recht keine Alternative. Davon ist „Life of Pi“ aber weit entfernt.
Als Geschichtenerzähler hat
uns Ang Lee in einen geschlossenen Kosmos entführt, in dem eine Geschichte mit doppeltem
Boden erzählt wird. Klar, sie führt den Zuschauer sozusagen an der Nase herum, wenn
sich am Ende die Geschichte des Jungen und seines Tigers als Metalepse
entpuppt, also eine Geschichte, in der sich der fiktive Erzähler nachhaltig
einmischt. In der Fiktion wird die erste Geschichte, nämlich jene von Pi und
seinem Tiger, als Fiktion enthüllt, aber nicht als Plot-Twist, als raffinierter
Kniff, sondern als liebenswerter Kartenspielertrick. Ang Lee lässt Pi einen
metaphysischen Joker aus dem Ärmel ziehen, der alle anderen Karten aussticht
und rückwirkend die Lesart des Films festlegt, ohne dass der Zuschauer überrumpelt
wird. Schließlich kann auch er sich entscheiden, welche Geschichte er lieber
mag. Mit Gott sei dies nicht anders, erklärt Pi dann lächelnd seinem Besucher.
Ein schöner, vielschichtiger
Film, den viele nicht mögen werden.
Noten: Mr. Mendez = 3, BigDoc, Melonie = 2
Noten: Mr. Mendez = 3, BigDoc, Melonie = 2