Montag, 28. Januar 2013

Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger

Originaltitel: Life of Pi – USA 2012 – Länge: 127 Minuten – Regie: Ang Lee – D: Suraj Sharma, Irrfan Khan, Rafe Spall, Gérard Depardieu.

Ang Lees neuer Film „Life of Pi“ ist 11-mal für die 85th Academy Awards nominiert worden. Die Konkurrenz ist nicht nur groß, sondern auch gut, und ob es für mehrere Oscars reichen wird, ist fraglich: bereits bei den Golden Globes gab es für Lees Film nur eine Auszeichnung in einer Nebenkategorie. Ginge es um visuelle Qualität und brillantes CGI, dann wäre die Sache klar. Aber „Life of Pi“ will mehr sein: auf den ersten Blick eine Abenteuergeschichte, schickt Ang Lee seinen Helden bei näherem Hinsehen auf die Suche nach einem Gott jenseits der großen Weltreligionen. Ob sich die Juroren für ein universell-spirituelles Religionsmodell erwärmen können, bleibt abzuwarten.

„Life of Pi“ (nach dem Roman „Schiffbruch mit Tiger“ von Yann Martel) funktioniert nicht ohne seine Rahmenhandlung, aber warum dies so ist, begreift man erst zum Schluss: ein unbekannter Romanautor ist auf der Suche nach einem packenden Stoff und besucht im kanadischen Montreal einen Inder, der angeblich eine solche Story auf Lager hat. Pi Patel (Irrfan Khan, u.a. „Slumdog Millionaire“, 2008) erzählt dem Besucher in Rückblenden von seiner Kindheit als Sohn eines Zoodirektors - nicht nur Tiere, sondern auch religiöse Erfahrungen faszinierten ihn. So ist Pi (der Name steht für die gleichnamige mathematische Konstante) zunächst Hindu, entdeckt dann aber den Katholizismus und schließlich auch den Islam für sich, während sein Vater als säkularer Rationalist humorvoll auf die Erkenntnistrips seines Sohnes reagiert.
Als Pis Vater beschließt, auszuwandern und die Tiere in der neuen Heimat zu verkaufen, tritt Pi, der sich gerade frisch verliebt hat, nur widerwillig die lange Schiffsreise an. Als das Schiff in einem gewaltigen Sturm sinkt, findet sich Pi als einziger menschlicher Überlebender in einem Rettungsboot wieder. Zusammen mit einem weiblichen Orang-Utan, einer aggressiven Hyäne, einem Zebra und einem bengalischen Tiger namens „Richard Parker“. Die Hyäne tötet erst das Zebra, dann den Orang-Utan und wird schließlich von Richard Parker getötet. Pi und der Tiger sind nun allein und es scheint, als wäre nur für einen der beiden Platz auf dem Rettungsboot.

Sehenswerte Bilder einer spirituellen Reise

Optisch ist der Film über jeden Verdacht erhaben: was Ang Lees Film zu bieten hat, ist schlichtweg überwältigend. Das gilt nicht nur die Meeresszenen, für die ein gigantischer 1,7 Mio. Liter fassender Wellentank gebaut wurde, auch die von den Rhythm & Hues Studios in langer Vorarbeit entwickelten visuellen Effekte lassen sich nicht lumpen: alle Tiere an Bord des Rettungsbootes sind komplett animiert und wirken so realistisch, dass man ihren Ursprung fast nicht glauben mag. Aber nicht nur der Naturalismus des Films überzeugt, auch die Aufnahmen des Meeres faszinieren. Angefangen bei den Sturmszenen und später dann bei ihrer Verwandlung in einen magischen Ort, voller fluoreszierender Lichter und geheimnisvoller Meeresbewohner, die von Kameramann Claudio Miranda (u.a. „Zodiac“; Oscar-Nominierung für „Life of Pi) in stimmungsvollen Bildern eingefangen worden sind.

Die Technologie ist in „Life of Pi“ aber kein Selbstzweck, Ang Lee erzählt auch keine sentimentale Mensch-Tier-Geschichte à la Disney. Richard Parker, der Tiger, ist und bleibt eine Raubkatze, für die der Junge Pi lediglich eine Futterressource ist. Und so arrangieren sich Mensch und Tier nicht, sondern grenzen in einem langen Kampf ihre Lebensräume voneinander ab. Um überleben zu können, braucht Pi aber mehr als eine Plane eingefangenen Regenwassers und die wenigen Fische, die er mit Richard Parker teilt. Die über fünf Monate dauernde Odyssee wird zu einer spirituellen Reise, in der ausgerechnet der mörderische Tiger, dem Pi schließlich sogar das Leben rettet, eine existenzielle Bedeutung erhält. Dem Tiger, so erzählt Pi im Off, verdankt er sein Leben, die Schicksalsgemeinschaft an Bord interpretiert der Mensch halt anders als die Raubkatze.

Pi und sein Tiger werden schließlich nach endloser Seereise an die Ufer einer geheimnisvollen Insel gespült, auf der Tausende von Erdmännchen leben. Aber nachts, so erzählt Pi seinem Gast, habe sich die Insel in ein fleischfressendes Monstrum verwandelt, und so müssen Pi und Richard Parker, der sich mittlerweile auf eine Art befristeter Koexistenz eingelassen hat, ihre Reise fortsetzen. Am Ende landen sie an der mexikanischen Küste, ausgehungert und fast verdurstet, und während Pi in letzter Minute von einigen Küstenbewohner entdeckt und gerettet wird, schleicht der abgemagerte Tiger in den tropischen Dschungel, ohne seinen darüber verzweifelnden Reisegefährten eines Blickes zu würdigen.

Hier endet zunächst die Geschichte, die Pi Patel dem überwältigten Buchautor erzählt. Doch es folgt eine finale Volte, in der Pi davon berichtet , dass er im Krankenhaus von zwei japanischen Vertreter der Reederei des untergegangenen Schiffes befragt wurde. Beide sind enttäuscht, denn mit der Geschichte von dem Tiger und dem Jungen können sie nichts anfangen. Pi erzählt daraufhin ein glaubwürdigere Variante: so sei er mit einem verletzten Matrosen, einem misanthropischen Koch und seiner Mutter im Rettungsboot gelandet. Der Koch habe erst dem Matrosen das verletzte Bein amputiert und ihn nach dessen Tod kannibalisch verspeist. Im anschließenden Streit habe der Koch seine Mutter getötet, worauf Pi den Koch getötet hat. Als Pi Patel schließlich lächelnd den Buchautor fragt, welche Geschichte ihm denn nun besser gefallen habe, erwidert dieser: Die mit dem Tiger.

Auf der Suche nach dem verlorenen Glauben

Ang Lee hat keinen Zweifel daran gelassen, dass Pis Reise nichts anderes sei, als die Suche nach seinem Glauben und damit nach Gott. Dass er weit davon entfernt ist, dabei eindeutig Position beziehen zu können, hat Lee in einem Interview klar gemacht: die Suche nach dem Glauben sei die Entdeckung der Emotionen, die Pi benötigt, um sich auf das Unbekannte einzulassen. Dabei sei Gott nicht der alles determinierende Schöpfergott, an den Pi zunächst glaubt, sondern am Ende der Reise verwandele er sich in die Reflexion unseres eigenen Inneren: „Letztlich reduziert es die Glaubensfrage auf eine Alternative: Hat Gott uns geschaffen – oder wir ihn?“

Wie sich der Zuschauer in der Gottesfrage entscheidet, bleibt ihm überlassen. „Life of Pi“ ist nicht deutungsoffen, aber offen für Deutungen. Dazu gehört, dass der Film Platz lässt für eine rationale Auslegung seiner filmischen Parabel. Man kann „Life of Pi“ spirituell erleben, aber eben auch psychologisch als Form einer Traumabewältigung rationalisieren. Das Leiden und die Erinnerung an furchtbare Erlebnisse entzieht diesen nicht nur jeglichen Sinn, der Leidende generalisiert die Sinnlosigkeit und das Leben an sich wird bedeutungslos . Die Umdeutung der Erinnerungen, die Pi zugunsten einer spirituell-mythischen Version vornimmt, verweigert sich zwar den blanken Tatsachen, birgt aber immerhin die Chance der Selbstheilung.
In Lees Film wird die Sache etwas komplizierter, da Pi Patel offenbar seine faktischen Erlebnisse nicht verdrängt hat, sondern für sich lediglich eine zusätzliche Lesart entwickelt hat. Er imaginiert eine Tierfabel, die zwar auch grausam ist, aber als bedeutungsvolle Geschichte plötzlich Sinn macht und den Schrecken abschwächt. Und das letztendlich nur dadurch, dass er diese Geschichtsrevision kommuniziert, sie als Geschichte anderen weitererzählt. Pi Patels Traumaarbeit ist sozusagen eine ästhetische Rekonstruktion des Erlebten, die Aufhebung der Fakten in einem poetischen Modell der Wirklichkeit, womit wir mitten im Kino gelandet sind, das letztendlich auch nicht anders funktioniert. Psycho-analytische, aber auch poetologische Interpretationen der Filmerzählung werden zwar nicht der religiösen Ausrichtung von Ang Lees Geschichte gerecht, stellen aber eine durchaus zulässige Version dar, die der Erzähler Ang Lee dem Zuschauer ausdrücklich als Deutungsmöglichkeit einräumt.

Und das scheint auch die Crux zu sein: wie viele überragenden Filme gelingt es „The Life of Pi“ das Geschichtenerzählen selbst auf den Prüfstand zu stellen. Warum erzählen wie überhaupt Geschichten? Sind Geschichten offene Modelle der Wirklichkeit, die nur dann funktionieren, wenn wir prüfen können, ob der faktische Kern einer Geschichte plausibel ist oder zumindest nicht die Tatsachen fälscht und verdreht? Oder sind Geschichten (auch) geschlossene Modelle, die mit der Wirklichkeit verknüpft sind, aber möglicherweise viel stärker mit unserem inneren Erleben und dessen immanenten Regeln zusammenhängen? Und gibt es eine spezifisch ästhetische Form für die Art von Kinoerfahrung?

Man sollte das Eine nicht gegen das Andere ausspielen oder aus ideologiekritischen Gründen Ang Lees „Life of Pi“ als unzeitgemäße Absage an den Rationalismus auslegen. Dessen Sollbruchstellen werden uns ja tagtäglich vorgeführt, wenn wir in der Zeitung lesen, was um uns herum vorgeht. Spekulativer Mystery-Krimskrams ist natürlich erst recht keine Alternative. Davon ist „Life of Pi“ aber weit entfernt.
Als Geschichtenerzähler hat uns Ang Lee in einen geschlossenen Kosmos entführt, in dem eine Geschichte mit doppeltem Boden erzählt wird. Klar, sie führt den Zuschauer sozusagen an der Nase herum, wenn sich am Ende die Geschichte des Jungen und seines Tigers als Metalepse entpuppt, also eine Geschichte, in der sich der fiktive Erzähler nachhaltig einmischt. In der Fiktion wird die erste Geschichte, nämlich jene von Pi und seinem Tiger, als Fiktion enthüllt, aber nicht als Plot-Twist, als raffinierter Kniff, sondern als liebenswerter Kartenspielertrick. Ang Lee lässt Pi einen metaphysischen Joker aus dem Ärmel ziehen, der alle anderen Karten aussticht und rückwirkend die Lesart des Films festlegt, ohne dass der Zuschauer überrumpelt wird. Schließlich kann auch er sich entscheiden, welche Geschichte er lieber mag. Mit Gott sei dies nicht anders, erklärt Pi dann lächelnd seinem Besucher.
Ein schöner, vielschichtiger Film, den viele nicht mögen werden. 

Noten: Mr. Mendez = 3, BigDoc, Melonie = 2