Mittwoch, 27. Mai 2009

Der Junge im gestreiften Pyjama

Großbritannien / USA 2008 - Originaltitel: The Boy in the Striped Pyjamas - Regie: Mark Herman - Darsteller: Asa Butterfield, Jack Scanlon, Amber Beattie, David Thewlis, Vera Farmiga - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 94 min.

Wir befinden uns in den Jahren nach 1941. In den Vernichtungslagern hat die systematische Vernichtung der Juden begonnen.

Die ersten Bilder von „The Boy in the Striped Pyjamas“ zeigen ein behütetes Kind, den achtjährigen Bruno (Asa Butterfield). Sein Leben ändert sich, als er mit seiner Familie in eine trostlose Gegend umziehen muss. Man lebt zwar in einer schönen Dienstvilla am Waldrand mit großem Garten, aber die Uniform des Vaters lässt keinen Zweifel daran entstehen, dass seine Erklärungen wohl richtig zu sein scheinen: hier, im tiefen Wald, muss er etwas Wichtiges für sein Vaterland tun, etwas, was die Dimensionen kindlicher Vorstellungskraft sprengt.
Bruno, der sich entsetzlich langweilt, und seine Schwester bekommen einen strengen Hauslehrer, der sehr merkwürdige Dinge erzählt. Seine Mutter verbietet ihm sogar, den Garten zu verlassen, vor allem darf er nicht zu dem in der Nähe gelegenen Bauernhof, den Bruno von seinem Fenster aus sehen kann – die Menschen dort seien anders, sagt die Mutter. Und damit ist auch ein verängstigter und zerlumpter Mann gemeint, der von diesem Bauernhof kommt und im Garten hilft und der Bruno irgendwann erzählt, dass er in einem anderen Leben Arzt gewesen ist.
Allen Warnungen zum Trotz schleicht sich Bruno zu dem geheimnisvollen Hof, den hohe Stacheldrahtzäune umgeben. Dort trifft er auf den gleichaltrigen Schmuel (Jack Scanlon), der sehr geheimnisvoll ist und eine eigene Uniform besitzt – einen gestreiften Pyjama. Die Jungen freunden sich an und Bruno wundert sich, dass Schmuel ständig großen Hunger hat. Als auch Schmuel eines Tages bei der Vorbereitung eines großen Festes im Haus mithelfen muss, erlaubt ihm Bruno etwas Gebäck zu essen. Und wieder ist es ein Mann in einer Uniform, der sehr böse wird, als er Schmuel dabei ertappt. Bruno leugnet aus Angst, seinen Freund zu kennen. Überhaupt gesehen merkwürdige Dinge: Schmuel wird bestraft und der alte Arzt ist plötzlich verschwunden. Zum Glück ist Schmuel nicht wütend über den Verrat und da er nicht weiß, wo sein Vater geblieben ist, beschließt Bruno, seinem Freund bei der Suche zu helfen. Dazu braucht er natürlich auch eine Uniform, so eine, wie sein Freund sie trägt. Schmuel hilft ihm dabei, die Verkleidung gelingt und auch der Zaun ist leicht zu überwinden. Die Jungen beginnen mit der Suche, als alle, die natürlich auch die gestreifte Uniform tragen, den Befehl erhalten, sich zu versammeln. Alles wird plötzlich laut, es wird geschoben, gestoßen und geschlagen. Bruno hat Angst, alle müssen sich ausziehen und Hand in Hand gehen die Freunde durch eine große Tür, hinter der sich ein Duschraum befindet.

Das Schweigen im Kino
“The Boy in the Striped Pyjamas” ist einer jener Filme, bei denen man sich fragt, warum sie nicht von einer deutschen Produktion und einem deutschen Regisseur gedreht worden sind. Immer, wenn es um die Darstellung des Holocaust im Kino geht, setzen nicht wir, sondern die Anderen die Ausrufe- und Fragezeichen: oft waren es umstrittene Filme, denen fehlende Realitätsnähe, Melodramatik und gewagte Dramaturgie vorgeworfen wurde. Wir sehen uns dann staunend an, wie andere unsere Geschichte deuten. Und egal, ob es „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ oder Steven Spielsbergs „Schindlers Liste“ oder Robert Benignis „La Vita è bella“ (Das Leben ist schön) gewesen ist – wir, die Nachkommen des Tätervolks, kritteln dann herum und wissen alles besser: Ungenau, so war das nicht, Bruno hätte nie einen gleichaltrigen Jugen am Zaun des Lagers treffen können, das Grauenvolle muss absolut korrekt dargestellt werden. Aber drehen, ja drehen tun wir solche Filme nicht.

Fakt ist: Die Judenvernichtung kommt im deutschen Kino nur am Rande vor. Wir interessieren uns mehr für das Horrorkabinett der Nazis. Kurt Hoffmanns „Wir Wunderkinder“ (1958) und Wolfgangs Staudtes „Rosen für den Staatsanwalt“ (1959), beide gelten ja als Vorzeigemodelle für den ‚kritischen’ Ansatz im deutschen Film der 50er Jahre, beschäftigen sich daher eher satirisch mit den Überlebenskünsten ehemaliger Nazis im Nachkriegsdeutschland (übrigens: bereits 1946 hatte Staudte für die DEFA den Film „Die Mörder sind unter uns“ produziert).
Die erste große und systematische Auseinandersetzung mit der Nazizeit in Westdeutschland war die Serie „Das Dritte Reich“, ein Zwölfteiler des Süddeutschen Rundfunks, der Anfang der 60er Jahre den Nationalsozialismus inklusive der Judenverfolgung aufgearbeitet hat.

Fiktionalisiert wurde das Thema 1979 durch die US-Serie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ (Marvin J. Chomsky), die von über 15 Millionen entsetzten Zuschauern gesehen wurde. Sie ist nach Ansicht des Politologen Peter Reichel der Einstieg eines breiten Publikums in die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gewesen – über drei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Ungeachtet der in der Nachbetrachtung etwas ermüdend wirkenden Debatte über historische Genauigkeit und ästhetische Umsetzung scheint mediengeschichtlich fest zu stehen, dass „Holocaust“ trotz seiner angeblich zweifelhaften Soap-Elemente eine singuläre Wirkungsgeschichte vorzuweisen hat (der Vierteiler ist in diesem Jahr auf DVD erschienen) – die Serie emotionalisierte und berührte etwas, was seriöse Dokumentationen scheinbar nicht in diesem Ausmaß erreichen konnten, nämlich die Fähigkeit zur empathischen Reaktion, wie sie dem Kino in der besonderen Unmittelbarkeit seiner narrativen Möglichkeiten gegeben ist. Vielleicht ist es ein wenig gewagt, aber ich wage einfach mal die These: Man weiß erst, wenn man es gefühlt hat.

Als deutsch-tschechische Produktion soll hier noch "Der letzte Zug" (2006) erwähnt werden, eine Produktion von Artur Brauner, in der Joseph Vilsmaier und Dana Vávrová Regie führten. Erwähnenswert: auch diese durchaus respektable Fiktionalisierung wurde von aufgebrachten Kritikern als kitschig und serienhaft verrissen.

Eine in etwa vergleichbare Breitenwirkung wie "Holocaust" hatte Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“, der als deutsch-amerikanischer Produktion 2008 in die Kinos kam, das Thema Holocaust aber nur indirekt streift. Das Drehbuch wurde vom oscarnominierten Dramatiker David Hare unter Mitwirkung von Schlink geschrieben. Regie führte der ebenfalls oscarnominierte britische Regisseur Stephen Daldry. Immerhin wurde überwiegend in Deutschland gedreht und neben David Kross waren auch einige bekannte deutsche Darsteller wie Bruno Ganz zu sehen, der vier Jahre zuvor als Adolf Hitler in Oliver Hirschbiegels „Der Untergang“ zu sehen war. Gerade die Verfilmung des Schlink-Bestsellers dürfte sowohl für eine rezeptionsästhetische und wirkungsgeschichtliche Untersuchung von Interesse sein, zumal die Debatte um die ‚richtige’, also gültige Interpretation von Roman und Film alles andere als seicht ausfiel. Aus meiner Sicht hat das deutsche Kino die Chance einer historischen Aufarbeitung schon längst verpasst uns wir werden uns auch in Zukunft daran reiben müssen, dass andere Filmnationen die Deutungshoheit beanspruchen.

Der andere Blick
„Der Junge im gestreiften Pyjama“ ist ebenso wie „Der Vorleser“ eine Literaturverfilmung, diesmal eine britisch-amerikanische. Die literarische Vorlage stammt von dem irischen Schriftstellers John Boyne (2006). Sein so genanntes "Holocaustbuch für Kinder" erhielt zahlreiche Preise, zuletzt den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2008.

Mark Hermans Verfilmung zeichnet sich durch zwei charakteristische Eigenschaften aus: den konsequenten ‚Bruch der Perspektive’ und die starke Typologisierung der Figuren. Das Eine ist nicht so einfach vom Anderen zu trennen.
Zunächst derer Perspektivwechsel. Er ist in der Literatur ein gebräuchliches Mittel, jede Parabel nutzt Elemente dieser Technik. Ein Wechsel ist allerdings nur dann von Bedeutung, wenn der Rezipient eine tradierte Perspektive zugunsten einer neuen, unerwarteten aufgeben muss. Auch wenn es banal klingt: Man muss schon eine Perspektive besitzen, um sie wenigstens vorübergehend aufgeben zu können. Erst dann sieht man etwas ‚mit anderen Augen’. Dies muss nicht zwangsläufig in einen bemerkenswerten Erkenntnisgewinn einmünden – das ist auch nicht der Sinn des Ganzen. Aber als narrative und auch als psychologische Erfahrung kann so ein verändertes emotionales Erleben entstehen.
Grundsätzlich ist auch zu unterscheiden, ob ein Perspektivwechsel innerhalb eines erzählerischen Werkes stattfindet oder mit dessen Beginn einsetzt (was wie erwähnt voraussetzt, dass tradierte Formen vom Rezipienten bereits erlebt wurden).
Formal organisiert der Wechsel der Perspektive als narrativer Kunstgriff die vom Leser vermutete Beziehung zwischen der objektiven Wiedergabe von Ereignissen und den Binnenwelten der Figuren völlig neu, egal, ob sie in der Ich-Erzählung referieren oder von einem auktorialen Erzähler (Beispiel: "Zauberberg" von Thomas Mann) wiedergegeben werden. Bedeutsamer ist meiner Meinung nach die inhaltliche Strukturierung des Informationsflusses durch die gewählte Perspektive. Jeder Wechsel der Perspektive ermöglicht nämlich entweder einen größeren Überblick oder das Gegenteil, nämlich eine völlige Verengung des Blicks.
Ein Beispiel für den gelegentlich besserwisserischen Überblick ist die Figur des Oskar Matzerath in „Die Blechtrommel“, der als vermeintlich infantiler (was man ihm nie so recht abnimmt) Ich-Erzähler die Zeitläufte in ziemlich epischer Breite interpretiert und so eigentlich nur das wiedergibt, was der autoriale Autor Grass im Rückblick zu wissen glaubt (hier sieht man gut, dass sich Perspektiven vermischen können).
Im Gegensatz dazu steht die Verknappung der Information, die entsteht, wenn Erzähler seinen Wissensvorsprung aufgibt und seine zentrale Figur im Dunklen tappen lässt. Dieser verengte Fokus übt in der Regel eine appellative und/oder eine suggestive Wirkung aus: der Rezipient reagiert auf die narrativen Leerstellen und gleicht entweder das Wissensdefizit der fiktiven Figur aus und durchschaut die Konstruktion mit einem spürbaren ästhetischen Mehrwert oder er geht ‚naiv’ den Weg der Hauptfigur zu Ende und erfährt in der finalen Pointe, was das Erlebte zu bedeuten hat. Nur am Rande: große Unterschiede zwischen Text und Film kann ich bei diesem Phänomen nicht entdecken, wobei im Kino eher ein Stil vorherrscht, der in etwa dem entspricht, was man in der Literatur den personalen Erzähler nennt. Auktoriale Erzähler kommen im Kino selten vor, Ausnahmen findet man z.B. in den Filmen von Stanley Kubrick ("Clockwork Orange" ist ein Film, der bei näherem Hinsehen eher ein Perspektiven-Mix als eine durch den Off-Erzähler organisierte Ich-Erzählung ist).

Mark Herman hat beide Momente, die 'andere Perspektive' und das Typologische, in seinen Film integriert, was nicht immer völlig gelungen ist, den Film aber unterschiedlichen Ziel- und Altersgruppen öffnet: der ‚erwachsene Blick’ wird sich der appellativen Wirkung öffnen und mit wachsendem Entsetzen den Weg der Kinder in die Gaskammer erleben (er ‚weiß’ ja, was die Uniformen bedeuten, seien sie nun schwarz oder gestreift), jüngere Zuschauer werden unter Umständen ratlos auf die Schlussbilder reagieren, denn was hinter der großen schweren Tür passiert, zeigt ihnen die Kamera nicht.
Immerhin gelingt es Herman, den ‚naiven’ Blick von Bruno so auf uns zu lenken, dass die Absurdität der völligen Entwertung der Opfer durch die Täter äußerst sensibel und glaubwürdig vermittelt wird. Die dem Film von einigen Kritikern vorgeworfenen Typologisierung ist aus meiner Sicht daher unvermeidbar. Sowohl die vom ideologischen Virus erfasste Schwester Brunos als auch die alle Geschehnisse verdrängende, aber durchaus wissende Mutter können gar nicht differenziert (was auch immer dies bedeuten soll) skizziert werden, ohne den ‚naiven Schein’ des Films zu zerstören. Und nur auf diese Weise ist (besonders für jüngere Zuschauer) die vorurteilsfreie Art, mit der Bruno seinem neuen Freund gegenübertritt, im Sinne eines unverstellten Blicks nacherlebbar: sie erscheint fast als naturgegeben, ihr Gegenteil – die Stigmatisierung – kann durch den 'naiven' Blick als Ausdruck einer Ideologie erfahren werden, die auch attributiv sein muss, um sich zu rechtfertigen: die Uniform zeigt, was ihr Träger wert ist. Die Bedeutung, die Erwachsene decodieren können, bleibt Bruno verschlossen, so dass der gestreifte Pyjama für ihn nicht weniger wert ist als die Uniform seines Vaters. So gesehen ist der Perspektivwechsel in "Der Junge im gestreiften Pyjama" nicht an faktischer Aufklärung und historisch korrekter Mimesis interessiert, sondern gibt den Opfern ihre Würde zurück, weil der neue Blick über die Rationalisierung hinausgeht und die völlige Absurdität des Rassenwahns spürbar macht. Eben mit den Augen des Kindes.

Über den Schluss gab es zumindest im Filmclub eine heftige Auseinandersetzung: die konventionelle Parallelmontage am Ende löste Widerwillen aus. Sie schneidet spannungssteigernd hin und her zwischen den beiden Kindern auf dem Weg in die Gaskammer und den verzweifelten Eltern, die zu ahnen beginnen, wo der verschwundene Bruno ist.
Herman hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass der Einsatz dieses bekannten Montagetyps vor allen Dingen auf das aus seiner Sicht konditionierte amerikanische Publikum abzielt, das eine Rettung in letzter Minute erwartet. So ist das halt üblich, wenn man eine Parallelmontage sieht. Ob der von Herman intendierte Schock dem Film angemessen ist oder sein Ende an eine Pointe verrät, ist schwer zu beantworten: ich halte das Ganze ebenso wie Klawer für überflüssig, zumal es auch andere Konditionierungsmuster abruft und die Identifizierung des Publikums mit dem ‚unschuldigen’ Opfer forciert. Allein diese Option erregt Abscheu. Auch in formaler Hinsicht ist das Aufsprengen der gewählten Perspektive leider inkonsistent und ist meiner Meinung nach die einzige ärgerliche Schwäche dieses Films.

Ach ja, die historische Glaubwürdigkeit: die Familie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß lebte in einer Villa, die nur hundert Meter vom nächsten Krematorium entfernt war. Gelegentlich spielte das Lagerorchester für die Familie und die Erdbeeren im Garten wurden von Bediensteten aus dem Lager gedüngt. Mit Menschenasche.

Noten: Melonie = 2, Mr.Mendez = 2, BigDoc = 1,5, Klawer = 2,5