Freitag, 12. Juni 2009

Vicky Cristina Barcelona

USA / Spanien 2008 - Regie: Woody Allen - Darsteller: Javier Bardem, Patricia Clarkson, Penélope Cruz, Kevin Dunn, Rebecca Hall, Scarlett Johansson, Chris Messina, Lloll Bertran - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 6 - Länge: 96 min.

Wie soll ein Sechsjähriger begreifen, warum man sich lieben kann und doch mit einem Revolver aufeinander losgeht? Wie soll er verstehen, dass eine sexuelle Begegnung eine Frau so verstören kann, dass ihr oszillierendes Bewusstsein im Strudel von Begehren und Verfehlung zu einer Erkenntnis getrieben wird, die den Rest ihres Lebens in ein graues Nichts verwandeln wird?
Kann er nicht? Richtig! Die FSK sah dies allerdings anders und hat Woody Allens Geniestreich „Vicky Christina Barcelona“ ab 6 Jahren freigegeben. Schön: ich sehe bereits die Eltern von Vierjährigen in ihren Bücherregalen nach verstaubten Klassikern kramen, um die Kleinen adäquat auf die Dimensionen menschlicher Tragödien vorzubereiten. Doch halt: dann wären sie bereits im falschen Film, denn „Vicky Christina Barcelona“ ist ja eine Komödie, und da schaut das Elend der conditio humana schlimmstenfalls etwas säuerlich um die Ecke, was Woody Allens melancholischem Zynismus aber ganz gut entspricht.

Mir wem wir zu tun bekommen, berichtet gleich zu Anfang und ziemlich unaufgeregt ein Off-Erzähler, dessen leicht distanziert-allwissender Blick an einen Gesellschaftsroman des 18. Jh. erinnert: Vicky (Rebecca Hall) ist rational und abwägend, Cristina (Scarlett Johansson) spontan und emotional. Die beiden Amerikanerinnen machen Urlaub in Barcelona, wobei Vicky bereits die Hochzeit mit einem eloquenten Finanzmakler fest eingeplant hat. In einem Lokal spricht die beiden Freundinnen der katalanische Maler Juan Antonio (Javier Bardem) mit eleganter Chuzpe an: er lädt sie zu einem Wochenende in Oviedo ein, Sex inklusive. Während Vicky empört ablehnt, ist ihre Freundin Cristina sofort fasziniert von dem höflichen Charmeur. Natürlich lässt sich Vicky umstimmen, natürlich landen beide nach einigen Verwicklungen im Bett des Malers. Doch während es für Vicky ein One-Night-Stand bleibt, wird Cristina zur Muse des Künstlers.

Homöostase der Gefühle
So gut, so schön. Aber Kino ist kein Ort des dauerhaften Glücks. Kunst und damit auch Kino sind dialektisch und in den Narrationen folgt auf die These bald die Anti-These, nach dem Komödiantischen muss das Tragische erscheinen. Es ist Woody Allens leichter Handschrift zu verdanken, dass er die Soll-Bruchstelle vielschichtig präsentiert. Sie erscheint in der zweiten Filmhälfte dennoch sehr dramatisch: Juan Antonios ‚Ex’ betritt die Bühne und das explosive Temperament von María Elena (Penelope Cruz) hat sich in einem Selbstmordversuch nur scheinbar völlig entladen. Im Gegenteil: die verletzliche María Elena baut wie ein Rollkommando die Zweierbeziehung zu einer Ménage-à-trois um, die keineswegs der Auflösung entgegenstrebt, sondern – und das ist Allens schöner Einfall – das Glück der Drei in einen Zustand perfekter Homöostase überführt: einer ist des anderen Muse.
Während also Vicky ihren Freund Doug heiratet und sich heimlich und ziemlich desillusioniert nach Juan Antonio sehnt, werkeln die drei Übriggebliebenen am Projekt Glück herum, wobei sich Cristina bald in einem Spannungszustand wiederfindet, der kräftig an ihrer etwas naiven Ursprünglichkeit zerrt. Nicht nur, dass María Elena selbst eine mehr als begabte Malerin ist, nein, sie erweckt auch Christinas verborgenes Talent zum Fotografieren zum Leben – und natürlich weiß sie auch dort alles besser. Die so auf den kreativen Pfad gebrachte Amerikanerin erweist sich allerdings dem impulsiven Treiben auf Dauer weder intellektuell noch mental gewachsen. Sie löst sich aus der Beziehung, das konsistente, aber offene Gebilde zerfällt und zwischen Juan Antonio und María Elena bricht das alte, gewalttätige Chaos aus, das beide bereits in der Vergangenheit auseinandergetrieben hat.

Zelebriert wird das Ganze in schönen, geistvollen und unangestrengten Dialogen, die – glaubt man dem Regisseur – am Set über weite Strecken spontan entstanden und nicht einmal von ihm verstanden wurden, da er kein Spanisch kann. Tatsächlich spielen Bardem und Cruz ihre Mitstreiterin Scarlett Johansson gelegentlich ganz sanft an die Wand. Der Off-Erzähler ist allerdings das Prunkstück des Ganzen. Über ihm schwebt das formale Verdikt der Puristen: unfilmisch sei er und daher überflüssig. Komischerweise taucht er dann doch sehr häufig in den Meisterwerken der über den cineastischen Wolken schwebenden Klassiker auf und verkauft sich und seine Haut mehr als redlich. Wer würde in „Clockwork Orange“ denn gerne auf die wachen Analysen der Hauptfigur verzichten? Ganz ehrlich: ich nicht und so konnte ich auch Allens Off-Erzähler nach Herzenslust goutieren. Wer verbirgt sich hinter dieser Männerstimme, die ein wenig an den Jargon des auktorialen Erzählers erinnert, dann wieder in ihren Ausdeutungen so naiv ist, dass es zum Himmel schreit. Das kontrapunktische Hin und Her setzt nicht nur kleine Farbtupfer der Ironie, sondern unterbricht auch widerborstig die langen Debatten der Protagonisten, die gelegentlich an einen Film von Rohmer erinnern. Dort wird auch viel geredet und am Ende entscheidet doch das, was die Figuren dann ganz greifbar tun.

Auch in „Vicky Christina Barcelona“ geht es am Ende um Taten, nicht um Worte. Und die Taten sind es, die die schöne Projektion des Glücks in Rauch auflösen und alle in die Banalität zurückstoßen. Vielleicht mit der Aussicht auf ein neues Glück?
Mit dem Glück ist das so eine Sache: man greift es nicht und doch beherrscht es unsere Vorstellungen als Idee. Die Kantsche Hinwendung zur Pflicht will nicht so recht befriedigen, der Schopenhauersche Pessimismus lässt uns (hoffentlich) kalt und die Freudsche Ausdeutung des schönen Gefühls als Abwesenheit von Leid und Schmerz ist zwar sehr funktional, vermag die Magie des Moments aber auch nicht so recht zu fassen. Den romantischen Lustschmerz, der aus der Abwesenheit des geliebten Objekts herrührt, wollen wir auch nicht mehr. Da laufen wir lieber gleich zum Therapeuten. Vielleicht ist alles nur Chemie und wir sollten endlich ein Medikament finden, dass unseren Oxytocin-Haushalt stabil hält.

Wie schön, dass uns Woody Allen so intelligent und schlagfertig von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Hingabe erzählt hat. Und schön ist auch, dass die Neurowissenschaft gelegentlich sinnstiftende Aphorismen beisteuern kann, wenn sie gerade mal nicht einen Probanden in der MRT-Röhre hat. So weiß der Hirnforscher Gerald Hüther zu berichten, dass Glück die Verbundenheit mit dem Anderen ist, dem man neidfrei dabei hilft zu wachsen.
Das könnte klappen, wenn der Andere denn dem Ganzen auch gewachsen ist.

Noten: Melonie: 2, Mr. Mendez: 2,5, Klawer: 2,5, BigDoc: 1,5

Pressespiegel:

ARTE: „Um länger nachzuwirken fehlt es der heiteren Komödie diesmal jedoch an tragikomischen Elementen, die den Figuren mehr Tiefe und Komplexität gegeben hätten…
So ist es immer noch eine sehr amüsante Komödie vom großen Woody Allen, die man in bester Stimmung verlässt, aber eben auch schnell wieder vergessen hat.“

DIE ZEIT: „Der letzte Blick in Vickys angespanntes und zugleich erloschenes und wie von entbehrter Liebe unterzuckertes Gesicht holt im Betrachter einen anderen Erzählschluss herauf, den Schluss von Büchners Lenz: ‚Sein Dasein war ihm eine nothwendige Last. – So lebte er hin.’“

Criric.de: „Der besondere Charme des Films, wie bereits seiner Vorgänger, liegt darin, dass bei aller Distanzierung am Ende keine modernistische Abstraktion à la Lars von Trier herauskommt, sondern wunderbar altmodisches Genrekino, dessen analytisches, selbstreflexives Potenzial nie in den Vordergrund gerückt, sondern nur nebenbei verhandelt wird.“

Schnitt.de: „Was bei Vicky Cristina Barcelona auf den ersten Blick etwas eigentümlich anmutet, ist der Erzählstil mit einem Off-Sprecher, der als eine Art Märchenonkel vieles erklärt, was man gar nicht erklärt bekommen möchte. Allen wollte sich hiermit nach eigener Aussage »viele langweilige erläuternde Szenen« ersparen. Das klingt zwar in gewisser Weise plausibel, ist aber sicher nicht jedermanns Geschmack.“

epd-Film: „All diese Verwicklungen schildert Allen mit zärtlicher Ironie und großem Charme. Darunter liegt allerdings eine Melancholie, die an Werke wie ‚Manhattan’ oder ‚Verbrechen und andere Kleinigkeiten’ erinnert. Bis auf kleinere Redundanzen erzählt der Regisseur direkt und ohne Umschweife, schwungvoll, ohne überdreht zu sein.“