Sonntag, 16. November 2014

„Interstellar“ und die Medien (ähm ...Kritiker)

„Eßt Scheiße, zehn Millionen Fliegen können nicht irren“ ist nicht einfach nur ein Aphorismus aus der Gosse, sondern tatsächlich ein Buchtitel. Mal abgesehen davon, dass die Rechtschreibung nicht up to date ist und man mit etwas mehr Sprachgefühl „sich irren“ schreiben würde, beschreibt dieser eloquente Spruch sehr genau einen Mechanismus, der sich auch bei Filmkritikern breit macht. Das will ich in drei Kritiken der WELT etwas genauer untersuchen. Da ich das Blatt abonniert habe, kann man das gerne auch als Kundenbeschwerde lesen.

Fangen wir mit dem Umkehrschluss an. Sind zehn Millionen Fliegen an einem Ort versammelt, lässt dies den Schluss zu, dass besagte Körperausscheidung in der Nähe sein muss. Gehen also zehn Millionen Menschen in einen Film...
Halt, das muss nicht weiter ausgeführt werden. Die Ableitung liegt auf der Hand und sie zeigt, wie man Logik missbrauchen kann.

Ähnliche rhetorische Tricks haben Literatur- und Filmkritiker auch auf Lager. Sie wollen gelesen werden und glauben, allein mit Chuzpe so etwas wie ein Karl Kraus des modernen Kinos zu werden. Chuzpe bedeutet aber Frechheit und Geschmacklosigkeit.
Ich möchte nun aber nicht Menschen angreifen, sondern Texte. Das nur mal so am Rande. Fangen wir an. Eigentlich lese ich die Kritiken von Hanns-Georg Rodek aus der WELT ganz gerne. Immer häufiger kommt aber dabei der Verdacht auf, dass sich der WELT-Kritiker gerne auf Blockbuster einschießt, die etwas mehr Ansprüche haben als nur platt unterhalten zu wollen. Das war bereits bei „Cloud Atlas“ so. Rodek schrieb nun aktuell zwei Glossen über „Interstellar“. Mit viel Sarkasmus – und Behauptungen, ohne sich die Mühe zu machen, diese mit lästigen Argumenten zu stützen.

  • McConaugheys Cooper sinniert darüber, "wie wir früher hoch in den Himmel geblickt und uns gefragt haben, wo unser Platz zwischen den Sternen sei". Es ist ein Sentiment, das man viel hört in Amerika, unter Patrioten, unter Neoliberalen. Es ist die Denkweise eines Kindes, das nicht auf den Boden schauen möchte, wo es gerade sein Spielzeug kaputt getrampelt hat, warum auch, wenn man hoch ins Regal blicken kann, wo ja ein neues zum Kauf bereitsteht.
Diese Psychologisierung der Hauptfigur, die ganz nebenbei als Neoliberaler entdeckt wird, ist schlichtweg falsch, weil die Figur des Cooper eben nichts kaputt getrampelt hat, sondern deprimiert ist, weil andere dies getan haben.
  • Unsere Zukunft liegt im All, schlussfolgert Cooper kühl, aber nur für einige Auserwählte. Schwamm drüber.
Himmel, ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Figur das irgendwo preisgibt. Tatsächlich trifft dies für den von Michael Caine gespielten Charakter zu, der seinen Plan A heimlich verworfen hat, während Plan B beabsichtigt, einige Auserwählte mit befruchteten und tiefgefrorenen Eiern auf einen neuen Planeten zu schicken. Aber egal.
  • Kubrick holte absichtlich unbekannte Schauspieler, und Nolan benutzt absichtlich große Stars – neben McConaughey noch Jessica Chastain, Anne Hathaway und Matt Damon – und damit steckt er unentrinnbar in der Große-Gefühle-Mühle. Am Schluss blickt die zur Greisin gealterte Tochter gerührt auf ihren jung gebliebenen Vater. That's Zeitreise.
Ganz einfach zu kurz gesprungen. Wieso in aller Welt bedeutet ein bestimmtes Casting, dass nun große Gefühle (Achtung: Kitsch!) auf uns zurollen und wieso bekommt das zweimal verwendete Wort „absichtlich“ so einen drohenden Unterton? Natürlich hat Nolan das „absichtlich“ getan, was denn sonst? 
Aber vielleicht reiße ich alles nur aus dem Zusammenhang. Schauen wir uns den zweiten Beitrag an.

In dieser Kritik erklärt uns Rodek, was wir von der Darstellung der Physik in
Interstellar" zu erwarten haben und von unserer Zukunft. Sie ist eine ...
  • ...des Pessimismus, die Nolan mit allen Mitteln der Manipulation in ihr Gegenteil verkehrt, mit halb wissenschaftlichem Mumpitz und tränentropfendem Herzschmerz. Jede Menge Bewunderung, kein Quäntchen Ironie. (...) Für den Mumpitz ist Michael Caine zuständig, dessen Nasa-Chef uns spekulative Theorien der Quantengravitation unterjubelt, wonach die Raumzeit aus einer schwammartigen Struktur von Wurmlöchern bestehe, in die man nur schlüpfen müsse, um zeitreisen zu können.
Gut, zugegeben, es gibt „Mumpitz“ in Nolans Film (ach ja: für die Ironie sorgen in dem Film ausgerechnet die beiden Roboter, aber zu Ironie und Humor kommen wir später noch), aber der WELT-Journalist macht sich nicht einmal die Mühe, dies mit Argumenten zu belegen. Um Quantengravitation geht es in dem Film höchstens perspektivisch (das Ganze ist auch in Wirklichkeit nur ein theoretisches Modell), tatsächlich dreht sich alles, auch die emotionalen Konflikte der Figuren, um die relativistische Zeit und damit um Einsteins Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie. Und diese Effekte gibt es. Aber ein Kritiker muss das nicht wissen, kann ja nicht jeder nebenbei Physiker sein. Und wenn’s der Glosse dient ...
Und der Pessimismus, der angeblich manipulativ verdreht wird, will bis zur Schlusseinstellung nicht weichen: das Ende ist deprimierend und wer da ein Happyend hineinliest, hat nicht hingehört und hingeschaut.


Etwas fieser treibt es dann sein WELT-Kollege Jan Küveler aus dem Feuilleton. Der schreibt gleich frontal los: „Warum Christopher Nolan heillos überschätzt wird“. Ob ihn Hybris treibt („Im Grunde kommt es mir vor, als schriebe ich Ihnen stellvertretend für das amerikanische Kino des 21. Jahrhunderts, für das Beste und das Schlechteste darin“) weiß ich nicht.
Ich halte dies für anmaßend.

Um seine Häme (und nichts anderes ist es) listig zu verpacken, wählt er die Briefform („Lieber Christopher Nolan“) und lobt die tollen Bilder in „Interstellar“ („...mein Gott, die Saturn-Sequenz wird in die Filmgeschichte eingehen“), um dann weitschweifig mit Nolans Gesamtwerk abzurechnen. Und da er
Nolan pausenlos vorwirft, dass dieser keine witzigen Filme macht (warum sollte er?), bemüht er sich, diese Lücke auszufüllen und macht sich über alle Zuschauer lustig, die z.B. in der IMDB Nolan zum Meisterregisseur erkoren haben. Über „The Dark Knight“ weiß er zu berichten: „Mir hat auch gut gefallen, wie in "The Dark Knight" der Laster umkippt...“
Und sonst?

  • Heath Ledgers Grimassieren und Schmatzen als Joker ließ mich eher ratlos zurück, das war doch angestrengtestes Overacting, wie es seitdem nur Joaquin Phoenix in "The Master" besser hingekriegt hat. Christian Bales Humorlosigkeit war über die drei Filme hinweg ganz schön nervig. Kein Wunder, dass Katie Holmes bald zu Two-Face überlief. Und dann das viele Gequatsche. Hand aufs Herz, Mr. Nolan: Ihre Filme sind doch hauptsächlich deshalb so lang, weil die armen Figuren drei Viertel der Zeit damit herumbringen, sich gegenseitig den Plot zu erklären.
Gut, er ist nicht vom Fach, sonst hätte er gewusst, das Katie Holmes in „Batman Begins“ spielt und Two-Face eine Figur aus „The Dark Knight“ ist. Aber vielleicht wollen es die Leser gar nicht so genau wissen und bewundern den tollen Stil des Verfassers, weil sie auch mal so abledern möchten. Schwamm drüber.
Dass Heath Ledger Millionen Fliegen ... sorry, Zuschauer, begeistert hat und posthum einen Oscar für seinen „Joker“ bekommen hat – gut, man kennt ja die zahllosen Fehlentscheidungen der Academy.
Irgendwie zwanghaft wirkt das ständige Gejammer über die Humorlosigkeit, die er bei Christian Bale ausmacht, der ja nun wirklich seine Rolle als ständig deprimierter Superheld mitsamt seinem aufreibenden Lebensstil kaum anders spielen konnte.
O.K., dass Nolan keine Komödie über Batman gemacht hat, ist unverzeihlich. Aber wo bitteschön erklären sich die Figuren pausenlos den Plot? Nach Küvelers Zeitrechnung müsste dieses Gequatsche 105 Minuten gedauert haben.
Und so etwas ist für eine nicht ganz unbeträchtliche Anzahl von Fans einer der besten Filme aller Zeiten? 
Oh, natürlich, die Fans denunzieren sich ja selbst, ich habe meine eigene Einleitung vergessen: „Gehen also zehn Millionen Menschen in einen Film...“

Aber nicht alles, was der WELT-Feuilletonist ist schreibt, ist kalter Kaffee. Zugegeben. Aber es handelt sich um eine rechthaberische Generalabrechnung mit einem Filmemacher und der durchgehend nassforsche, polemische Tonfall erinnert dann doch sehr an jene Sorte Filmkritiker, die glauben, dass ihrer Arbeit darin besteht, pausenlos witzig sein zu müssen und dass Filmkritiken lediglich Produktberatungen für Verbraucher sind. Und diese wollen natürlich vorher alles über schädliche Nebenwirkungen wissen, aber bitte keine Spoiler lesen. Und witzig soll der Film auch sein. Und die Kritik hip.

Einige Absätze später: schon wieder sind wir beim fehlenden Witz in „Interstellar“:

  • Interstellar ist komplett unwitzig, dafür selbstverliebt und bedeutungsschwanger. Und in den Nebenrollen hadern tolle Schauspieler mit der totalen Unglaubwürdigkeit ihrer Figuren.
War ich im falschen Film? Narzissmus ist zum einen eine Eigenart von Menschen und Filmkritikern, also zwei besondere Spezies, und ob jemand mit seiner Rolle gehadert hat, erfährt man vielleicht später mal in „Variety“ – ansonsten sind dies Mutmaßungen ohne argumentative Bodenhaftung. Dafür folgt wenig später ein Halbsatz über die Physik in „Interstellar“ und wie ein lästiger Running-Gag der mittlerweile alte Kalauer:
  • ...wobei Sie wiederum auf Rasanz und Komik verzichten.
Fehlte bislang der Witz, so fehlt jetzt auch noch die Komik. Clowns sind komisch, aber vielleicht war doch der Witz gemeint. Worte sind halt wie Schall und Rauch. Also noch mal in Kurzfassung: Die Erde ist verloren, der Held findet zwar die Weltformel, landet aber in einer todtraurigen Szene am Sterbebett der eigenen Tochter und ist am Ende in seiner Heimat so fehl am Platze, dass er zu einer einsamen Frau auf einem einsamen Planeten reist, wo ihn vermutlich der sichere Tod erwartet. Richtig: Wo bleibt da der schenkelklopfende Brüller?
Immerhin weiß der Autor so viel über Physik, dass er angesichts der Nähe der Astronauten zum Schwarzen Loch zum Schluss kommt:

  • Abgesehen davon, dass einen in der Nähe eines solchen Gravitationsmonsters das eigene Gewicht erdrücken würde...
Nö, man wird vielmehr gravitativ auseinandergezogen wie Spaghetti. Deshalb sprechen auch einige Physiker ‚lustig’ von „Spaghettisierung“!
Aber hier bin tatsächlich etwas kleinlich, denn dass der Aufenthalt in der Nähe eines Schwarzen Lochs auch aus ganz anderen Gründen ungesund ist, gilt als gesichert.

Küvelers Kritik am Filmende kann ich dann doch unterschreiben. War ja nicht alles Käse in der Glosse. Und besonders den Schlusssatz des Briefes an „Herrn Nolan“ fand ich 'witzig':

  • Lieber Herr Nolan, (...): Schluss mit dem hohlen Getöse. Greifen Sie an durch Unterhaltung. Dass Sie das eigentlich können, daran zweifelt doch keiner. Lassen Sie den verharmlosenden Quatsch und gehen Sie mutig voran ins Irrenhaus. Wir kommen dann schon nach.
Ich ahne es, mir graut davor: Hier ist wohl eine lustige Apokalypse wie in Seth Rogens "Das ist das Ende" gemeint.
Ich will das jetzt nicht weiter kommentieren. Nur so viel: So schreibt man nicht über Filme, die erkennbar eine gute Geschichte erzählen wollen, auch wenn das nicht immer restlos klappt. Vielleicht geht das Rausrotzen von Glossen bei den schlechten Exemplaren, deren kalkulierte Dämlichkeit offensichtlich ist. Ein guter Kritiker kann das eine vom anderen unterscheiden.

Stattdessen möchte ich, der mit Hans C. Blumenberg, Wolf Donner, Enno Patalas und vielen anderen guten und seriösen Kritikern das Kino lieben gelernt hat, mit zwei Zitaten zum Ende kommen:

  • Es ging aber Enno Patalas und seinen Mitarbeitern nicht allein darum, endlich ernsthaft Filmkritik zu betreiben, sondern sie wußten auch „wie“ und gegen was und formulierten eine entschiedene Programmatik: „Wir wollen es mit Walter Benjamin halten: Das Publikum muß stets unrecht erhalten und sich doch durch den Kritiker vertreten fühlen... Nichts ist so überholt wie die feuilletonistische Kunstkritik, die Eindrücke und Einfälle notiert, statt Strukturen nachzuweisen, die beschreibt, statt zu interpretieren.
Das schrieb Uwe Nettelbeck 1963 über das Team der 1957 gegründeten Zeitschrift „Filmkritik“. Zu einer Zeit, als immer noch Volontäre, so Nettelbeck, für dieses Ressort verantwortlich waren.
  • Filmkritiker sind unsympathische Menschen. Unablässig nörgeln sie an dem herum, was zugleich der einzige Grund ihres Daseins ist, am Kino, das sie ausbrütet und ernährt. Es gibt keinen Glücksmoment, keinen Augenblick der Rührung und des Verstehens, den sie nicht zerreden, keinen originellen Einfall, den sie nicht bekritteln müssen.
    Wenn sie älter werden und merken, daß das Kino nicht mit ihnen altern will, lassen sie ihre Enttäuschung an den jungen Filmen und den jüngeren Kritikern aus. Sie versteinern und vergreisen, die Liebhaberei ihrer Anfänge verkehrt sich in Haß auf das Publikum, die Filme, sich selbst. An der Kathedrale des Kinos sind sie die Wasserspeier, die Chimären, die den Gläubigen Furcht und Schrecken einjagen, wenn sie zur Messe gehen.
Das schrieb Andreas Kilb 1994 zum Tod von Wolf Donner und er fügte hinzu: „Wolf Donner war keiner von ihnen.“
Die Chimären aber warten immer noch irgendwo da draußen auf uns.