Dienstag, 4. November 2014

Westen

Über 50% der Deutschen wollen nichts mehr über den Osten und die DDR wissen. Sie haben die Schnauze voll. Keine Geschichtslektionen mehr. Das gilt, so lautet das Fazit einer in dieser Woche veröffentlichten Statistik, auch für die Menschen in den neuen Bundesländern. Wer soll sich da im Kino die Geschichte einer Frau anschauen, die 1978 die DDR mit einem Traum vom besseren Leben verlässt und dann in einem West-Berliner Auffanglager vom Geheimdienst in die Mangel genommen wird?

In der DDR eine erfolgreiche promovierte Chemikerin, im Westen dann ein Stellenangebot als Laborassistentin. Nelly Senff (Jördis Triebel) hat sich den Westen anders vorgestellt. Auch den in Aussicht gestellten Job bekommt sie nur, wenn sie ein Dutzend Stempel ergattert hat, die es amtlich machen, dass sie keine Läuse aus der DDR eingeschleppt hat und politisch keine Gefahr für die Bundesrepublik ist. Und so sitzt Nelly, der mit fingierten Papieren die Flucht gelungen ist, im Notaufnahmelager Marienfelde in West-Berlin fest und muss immer wieder merkwürdige Gespräche mit dem amerikanischen – oder ist es ein britischer? – Geheimdienstler John Bird (Jacky Ido) und seinem deutschen Kollegen führen.
„Ostfrauen rasieren sich nicht die Achselhöhlen“, lautet dessen Beitrag zur Willkommenskultur und schon kann man sich fragen, ob dies alles heute besser geworden ist.

„Westen“ ist der neue Film von Christian Schwochow, der vor drei Jahre mit der Verfilmung von Uwe Tellkamps „Turm“ in einem beeindruckenden Zweiteiler die letzten Jahre der DDR aus Sicht einer gutbürgerlichen Familie nacherzählt hat. Auch „Westen“ ist eine Literaturadaption. Vorlage ist Julia Francks Roman „Lagerfeuer“ aus dem Jahr 2003. Geschrieben wurde das Filmscript von Schwochows Mutter Heide, die zusammen mit ihrem Sohn bereits die Bücher für „Novemberkind“ und „Die Unsichtbare“ verfasst hat.


„Westen“ strandet zwischen Kafka und Spionagethriller

Über der Verfilmung liegt etwas Unentschlossenes, fast schon Orientierungslosigkeit. Das allerdings spiegelt sehr atmosphärisch das Lebensgefühl der Lagerinsassen wider. Schwochow konzentriert sich auf das anstrengende und kräftezehrende Leben seiner Hauptfigur, auf das Alltägliche im muffigen Auffanglager, das keineswegs einen leichten Durchgang ins bessere Leben bereithält. Wäsche waschen, Essen in der Gemeinschaftsküche, endlose, beinahe kafkaesk anmutende Untersuchungen. Immer wieder geht es lange Gänge entlang, zu Befragungen und Verhören, Beratungen und Verwaltungsroutinen – natürlich auf der Jagd nach dem nächsten Stempel, dem nächsten Schritt in die Freiheit.
In Marienfelde sind zuhauf Gestrandete beheimatet, die selbst nach vielen Jahren das Lager immer noch nicht verlassen können. Anders als in Francks Erzählung, in der die Geschichte auf verschiedene Erzähler übertragen wird, bleibt Schwochow dabei immer ganz nah bei Nelly und ihrem zehnjährigen Sohn Alexej (Tristan Göbel). 

Und warum die undurchsichtigen Verhöre? Nellys Verhängnis ist die frühere Liaison mit dem sowjetischen Wissenschaftler Wassilij Batalow, der sich erstaunlich frei im Westen bewegen konnte, bevor er bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Nelly werden Fragen gestellt, die sie nicht beantworten kann. Ist ihr Ex ein KBG-Spion gewesen, der abgetaucht ist und immer noch lebt, oder ist er ein Überläufer, der nun auf der Abschussliste der Stasi steht? Ist der sensible Hans Pischke (Alexander Scheer), der bereits seit Jahren im Lager festsitzt und sich einfühlsam mit dem kleinen Alexey anfreundet, etwa einer jener Spitzel, vor denen große Plakate an den Wänden warnen: Gespräche? Vorsicht Spitzel! Besuche? Achtung: Entführung in den Osten droht!

Christian Schwochow spielt in „Westen“ durchaus sehr spannend mit den Versatzstücken des Spionagethrillers und des Paranoia-Films, ohne dies wirklich ernst zu meinen – im Gegensatz zu dem Spionagethriller „Zwei Leben“ von Georg Maas, der deutlich zupackender war.
Was unentschlossen wirkt, bietet aber zumindest die Folie für den Verwandlungsprozess einer unpolitischen Frau, die erst aufgrund der endlosen Verhöre politisch zu denken beginnt und das Freiheitsversprechen des Westens bitter ernst nimmt. Die Wirkungslosigkeit ihres Protests und die kryptischen Informationen, die ihr John nach einem One-Night-Stand zusteckt, zersetzen allerdings zunehmend Nellys ursprüngliche Naivität und beginnen auch das Verhältnis zu ihrem Sohn zu zerrütten. Am Ende verhängt Nelly die Fenster ihrer Unterkunft und traut keinem mehr. Auch nicht Hans, der von den anderen Heimatlosen beinahe zu Tode geprügelt wird. Aus der im Lager selbstbewusst gewordenen Frau ist eine Getriebene geworden.

Das alles wird von Jördis Triebel, die auf dem World Film Festival in Montreal für ihre Rolle in „Westen“ als „Beste Darstellerin“ ausgezeichnet wurde, ungeheuer authentisch gespielt. Doch am Ende bleibt unklar, was uns Christian Schwochow eigentlich erzählen will. Ist der Westen nicht anders als der Osten? Das wäre zu kurz gesprungen. Spiegelt sich die repressive DDR in ihrem politischen Antagonisten, kontaminiert sie ihn bereits? Das wäre ein zu einfacher Abriss der letzten Jahre vor dem Ende des Kalten Krieges. Es bleibt die interessante Skizze einer Frau, die man sich durchaus mit Anteilnahme anschauen kann. Die thematisch interessanten Fragen bleiben aber lose verknüpft auf der Strecke.

Am Ende ist Heilig Abend. Nelly hat endlich ihre Papiere bekommen, sogar einen Job und eine eigene Wohnung, in der ein geschmückter Tannenbaum steht. Ist das der Beginn einer Idylle in Freiheit? 

Unten vor der Tür steht Hans und klingelt. Ende. Abspann. Schwochow bricht die Erzählung ab und lässt den Zuschauer einfach im weihnachtlichen Schneegestöber stehen. Aber der will laut Umfrage ja ohnehin nichts mehr von solchen Dingen wissen.

Noten: BigDoc = 3,5

Westen – Regie: Christian Schwochow, Buch: Heide Schwochow, D.: Jördis Triebel, Alexander Scheer, Tristan Göbel; Länge: 102 Minuten, FSK: ab 12 Jahren.