Mittwoch, 26. November 2014

Die Bücherdiebin

Wenn ein Kinder- und Jugendfilm das Nazi-Deutschland ohne deprimierende Schonungslosigkeit und weitgehend auch ohne die bekannten Grausamkeiten nachzeichnet, dann wird der politisch korrekte Zuschauer hellwach. Darf man den deutschen Faschismus poetisch fiktionalisieren, nur um zu zeigen, dass für Kinder auch in dieser Welt die Phantasie und das Bücherlesen lebensrettend sein können? „Die Bücherdiebin“ polarisiert, überzeugt aber durch die Glaubwürdigkeit der kindlichen Erzählperspektive.

Erzählt wird die Geschichte vom „Tod“, ausgerechnet. Im Off tritt als diskreter Beobachter auf und hört sich an wie Ben Becker: Ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkriegs werden die 9-jährigen Liesel Meminger (Sophie Nélisse) und ihr Bruder zur Pflegefamilie Hubermann nahe München gebracht. Der entkräftete Junge überlebt die Reise nicht. Liesel muss sich nun allein in einer fremden Welt zurechtfinden. Die resolute Rosa Hubermann (Emily Watson) zwingt das Kind, sie „Mutter“ zu nennen und ihren Mann Hans (Geoffry Rush) „Vater“. Hans ist es, der dem Mädchen mit seiner immerwährenden Freundlichkeit die Scheu nimmt und der Analphabetin (dieser Umstand wird nicht weiter erklärt) das Lesen beibringt. Als Hans den Juden Max (Ben Schnetzer) im Keller versteckt, weil er damit eine alte Schuld einlösen kann, entwickelt sich zwischen Liesel und dem jungen Mann eine Freundschaft, über der die Gefahr der Entdeckung wie ein Damoklesschwert schwebt.

„Die Bücherdiebin“ ist die Verfilmung des Jugendbestsellers Bestsellers „The Book Thief“ von Markus Zusak. In der deutschen Übersetzung erhielt das Buch den Deutschen Jugendliteraturpreis 2009. Dass sich die Verfilmung ebenfalls an Kinder und Jugendliche richtet, liegt in der Natur der Sache und ist nicht zu übersehen. Aber wie der Film das schwierige Thema umsetzt, ist spannend, gefühlvoll und akzeptabel.
Das Buch habe ich leider nicht gelesen, was nicht ganz unproblematisch ist. In den Foren verorten sich die Reaktionen der Zusak- Fans auf den Film irgendwo zwischen Kitsch und Rührung. Auch das ist nicht unproblematisch, denn Überwältigungskino ist mir nie geheuer. Aber diese Debatte findet in meiner Kritik nicht statt, weil mein Interesse der Konnotierung der Erzählorte gilt. Und die Nebenbedeutungen sind gelegentlich wichtiger als die plakative Message eines Films.

Liesels Erleben der fahnenumwehten Nazi-Kultur zeigt die „Bücherdiebin“ nicht frei von melodramatischen Gefühlsmomenten, bleibt aber sehr glaubwürdig, wenn es darum geht, die Binnenwelt einer anfangs Neunjährigen in Bilder zu fassen. Liesel versucht das für sie unbegreifliche historische Geschehen mitsamt seiner merkwürdigen Bedrohungen zu ordnen und sich selbst einen Überlebensraum darin zu verschaffen. Der Not gehorchend, könnte man sagen. Das ist für ein Kind, das von der Mutter (Heike Makatsch in einem Kurzauftritt) in fremde Obhut gegeben wurde, sich wenig später in einer BDM-Uniform wiederfindet und als Analphabetin einen schweren Stand hat, mit einer erwachsenen Perspektive nicht zu bewältigen. Kindliche Reaktionen fallen daher magisch und/oder symbolisch aus. Dies setzt der Film überzeugend um.


Der Keller als Insel

So entdeckt Liesel das Buchstabieren und dann im Laufe der nächsten Monate das Lesen (etwas zu schnell?). Die Wände des Kellers, in dem auch Max schließlich landet, bezeugen diese Kulturisation. Liesel schreibt die Wörter (im Film, der für den internationalen Markt produziert wurde, ist alles in Englisch, was ich nicht als glücklich empfinde), die sie von Hans lernt, an die Wand. Sie übt das Lesen ausgerechnet mit einem Handbuch für Totengräber (Achtung: Symbolik!) und erfährt später von dem (selbstverständlich?) gebildeten Max, was das Lesen für ein zivilisiertes Wesen bedeutet. Und als Max dann im dunklen und feuchten Verlies bedrohlich erkrankt, liest das Mädchen dem Todkranken aus H.G. Wells „The Invisible Man“ vor.

Das inselartige Refugium des Kellers wird in Brian Percivals Film zu einem Topos der Menschlichkeit. Dort, im Keller, triumphiert der Raum über die Zeit, der Ort des Lesens über die Bedrohungen des Alltags. Was von einigen Kritikern als versimplifizierendes „Märchen“ gedeutet wurde, kann auch als universelles Erzählmittel gedeutet werden. Nämlich als Fluchtraum oder soziales Experimentierfeld, so wie er immer wieder in der europäischen und amerikanischen Literatur, etwa bei Thomas Morus oder Aldous Huxley, auftaucht. In der Marginalität der Insel, nämlich etwas Kleines und Bedrohtes zu sein, zeigt sich auch auf andere Weise ihre besondere Funktion: nämlich nicht so schnell entdeckt zu werden und damit Freiheit zur Verfügung zu stellen.

„Die Bücherdiebin“ erzählt dies exemplarisch in einer Szene, in der die Entdeckung droht. Als die NSDAP-Ortsgruppe die Keller der Einwohner prüft, kann Max nur im letzten Moment in Sicherheit gebracht werden. Aber gesucht werden nicht etwa versteckte Juden, sondern Kellerräume, die sich als Luftschutzräume eignen. Die Insel der Hubermanns ist ausgerechnet für diesen Zweck ungeeignet.
So ist der Keller als Insel trotz oder wegen seiner fehlenden Funktionalität für das herrschende Regime ein Raum des Erprobens und Einübens der zivilisatorischen Restbestände. Und damit auch ein Erkenntnisraum, in dem die bedrohlichen Erscheinungen der Außenwelt überschaubar werden, auch wenn man sie nicht beherrschen kann. Diese Symbolik kann man auch ohne Bildungswissen intuitiv erfassen und wer sich an die eigene Kindheit erinnert, der findet vermutlich sehr schnell die eigenen Inseln.


Die Außenwelt als Alptraum

Die Flucht in die Welt der und der Phantasie ist der Versuch, sich selbst immer noch als fühlendes und erkennendes Wesen zu erleben. Die Außenwelt ist aber ein anderer Erzählort als der Keller. Dies zeigen die kleinen, aber nicht leichten Schritte Liesels, wieder Vertrauen in Dinge wie Vertrauen und Freundschaft zu finden. Außerhalb des Kellers ist dies per se gefährlich. 
Liesel entdeckt in dem Nachbarsjungen Rudi (Nico Liersch) einen Gleichgesinnten, auch weil der partout nicht verstehen kann, warum die Bewunderung für den farbigen Sprinter Jesse Owens in einer rassistischen Gesellschaft gefährlich ist. So stellt sich die gefährliche Außenwelt als das Gegenteil eines Erkenntnisraums dar: sie ist kalt und erstarrt und bedrohlich. In dieser Welt kann man sich nur misstrauisch an eine Freundschaft herantasten. Die Regeln dieser Welt werden nicht verhandelt, es gibt ‚richtige’ und ‚falsche’ Bücher und die falschen werden verbrannt. Die Kinder schreien zwar heimlich im Wald, dass sie Hitler hassen, aber ob der Name mehr als eine Chiffre für die Angst und die seltsamen Verbote ist, kann man nur vermuten.

Als Liesel bei der Frau des Bürgermeisters Hermann (Rainer Bock als Vorzeige-Nazi) eine große Bibliothek entdeckt, erlaubt ihr Ilsa Hermann (Barbara Auer) so viel zu lesen, wie sie möchte. Doch irgendwann entdeckt Hermann diese heimliche Verabredung und verbietet dem Kind weitere Besuche. Rosa Hubermann, die als Wäscherin den Unterhalt der Familie bestreitet, verliert ihren wichtigsten Kunden. Liesel, und das ist natürlich ein Märchen, verschafft sich aber weiterhin Zugang zur Bibliothek und „leiht“ sich dort Bücher: Die Bücherdiebin weiß sich zu helfen.

Aber die Außenwelt bleibt ein Alptraum, in der es auch Bullying gibt, ausgeübt durch den jungen Franz Deutscher, der mit Rudi und Liesel auf die gleiche Schule geht und der in „Die Bücherdiebin“ stellvertretend für die Deformierung durch Ideologie, also Hass, Missgunst und Denunziantentum steht. Das kann man verkürzt als Schulmobbing rezipieren, aber auch als symbolische Fokussierung.
Alptraumhaft ist auch eine andere Szene: Als Max die Familie verlässt, um sie nicht zu gefährden, wird Liesel Zeugin der ersten Judendeportationen. Die Juden werden von Soldaten durch die Straßen getrieben. Verzweifelt läuft Liesel den endlosen Zug der Menschen entlang und ruft „Max?“, bis sie von einem Uniformierten zu Boden geschleudert wird. Aber was da geschieht, wird nicht erklärt, der Film wirkt indifferent. Was der erwachsene Zuschauer wissen sollte, wird für die eigentliche Zielgruppe des Films nicht unmissverständlich adressiert.

Hier entdeckt man aber auch eine Schwäche des Films: er ist im Kern unpolitisch. Die symbolische Erzählweise des Films verdichtet weitgehend den herrschenden Ungeist am Beispiel des klassischen Bösewichts, der ausgerechnet „Deutscher“ heißt, schafft es aber nicht, den Holocaust zu benennen. Sicher, es brennen Bücher und SA-Männer verwüsten jüdische Geschäfte und misshandeln Juden auf offener Straße. Aber dass ein Großteil der Deutschen bis in die späten Kriegsjahre nicht nur aus Mitläufern bestand, sondern halt auch aus begeisterten Claqueuren bestand, die ihren Profit aus den herrschenden Verhältnissen zogen, bleibt unerzählt. 
Das kann man, vielleicht muss man es sogar, auch Kindern und Jugendlichen zumuten.
Michael Petronis Drehbuch (The Chronicles of Narnia: The Voyage of the Dawn Treader, 2010; The Rite (2011) hält sich zwar an die Vorlage, spiegelt aber mit dieser Weichzeichnung den Mythos von den verführten Deutschen wider, die von einer Bande unheimlicher Monster in die Irre geführt worden sind. Nach Kriegsende weiter kolportiert, wurde dies als Geschichtsumdeutung auch von der Politik instrumentalisiert.
„Die Bücherdiebin“ strickt die Legende weiter, aber der Film sollte, wie Petroni einräumte (s.a. Pressespiegel), auf Wunsch der Produktionsgesellschaft halt ‚familienfreundlich’ werden. Ein schlimmer Euphemismus.

In Percivals Film gibt es für meine Geschmack einfach zu viele ‚rechtschaffene’ Deutsche – angefangen bei Hans, der sich gegen die Verschleppung eines ‚guten Juden’ wehrt und danach auf der Liste der Gestapo steht. Auch die Bürgermeisterin bleibt ein schimärenhaftes Wesen, dessen gute Motive unergründlich sind. Das wird zwar der kindlichen Perspektive der Filmerzählung gerecht, das Geschichtliche wird aber nivelliert.


Eine kleine Bemerkung am Rande: Ihr werdet alle sterben!

Der Tod, der in „Die Bücherdiebin“ als zurückhaltender Erzähler fungiert und von Ben Becker gesprochen wird, findet inmitten des nur dezent dargestellten Grauens zwar reichlich Arbeit, ist kein allwissender Alleserklärer. Für ihn bleiben die Menschen ebenso rätselhaft wie für Liesel und Rudi die historischen Ereignisse. 
Er studiert die Menschen, aber eher unter ferner liefen, weil auch andere Dinge sehr interessant sind. Er ist erstaunt über sie, findet ihr Leben gelegentlich berührend und ihr Sterben gelegentlich auch, aber er bleibt machtlos, obwohl er mythologisch die mächtigste Instanz ist, die man kennt und fürchtet. Gelegentlich heilt er die Seelen der Sterbenden, manche drängen sich ihm auf. Ihm laufen die Menschen nach, stellt er resigniert fest. Aber auch die, die es nicht tun, müssen am Ende sterben.

Von Auferstehung ist dabei nicht die Rede, der Tod ist im Film (über Buch kann wie ausgeführt nichts sagen) nicht der Tod des Christentums, also eine Verkörperung des durch den Sündenfall erfahrenen Verlustes des ewigen Lebens, sondern ein Zaungast, der nur das vollzieht, was er vorfindet. Er bestraft nicht die Sünde, er vollzieht das Ende. Wäre man zynisch, dann könnte man ihn unparteiisch nennen. 
Mit diesem Tod bin ich nicht warm geworden, aber so viel steht fest: Es ist nicht der Tod, den alle Faschisten glorifizieren und idealisieren. Es ist ein Tod, der eher bestürzt ist über die Anträge, die man ihm macht. Und am Ende, und das ist für den ans Happyend gewöhnten Zuschauer nicht leicht zu verdauen (erst recht nicht für Kinder), wird er alle holen, die Liesel lieb und teuer sind. Er hat es angekündigt: Ihr werdet alle sterben!

„Die Bücherdiebin“ verwandelt sich so am Ende trotz der humanistischen Botschaft in ein trauriges Mysterium. Vielleicht ist das in einem Film, der als Melodram nachdrücklich auf Symbolismen, Überhöhungen und universelle Erzähltopoi setzt, irgendwie auch realistisch. Aber wie immer segelt das Melodram dabei hart am Wind und muss den Kitschvorwurf aushalten. Nicht nur aus meiner Sicht ist das gelungen, auch die überragenden Noten im Filmclub sind sicher kein Zufall.

Das abschließende Urteil fällt daher trotz eines gelegentlichen Unbehagens positiv aus. Brian Percivals Film ist eine stilsichere Adaption des Jugendbuches gelungen, die mit einem ausgezeichneten Darstellerensemble und aufwändigen Settings punktet. Geoffrey Rush, Emily Watson und besonders die junge Sophie Nélisse spielen wirklich vorzüglich und damit hat sich auch der Verzicht auf deutsche Darsteller in den Hauptrollen gelohnt. Dass Florian Ballhaus mit seinen Bildern schon ein wenig an seinen prominenten Vater erinnert, sei nur am Rande erinnert. John Williams hat für seine pathetische Filmmusik einige Preise und Nominierungen abgeholt – ich hätte mir dagegen einen minimalistischen Score gewünscht.

Und wenn die einleitende Frage lautete „Darf man das?“, so lautet die Antwort: Ja, das darf man, auch wenn in dem Kampf zwischen einer humanistischen Botschaft und einer nihilistischen Weltordnung für den skeptischen Betrachter der Humanismus häufig den naiven Part einnimmt. Diese Skepsis ist angebracht und möglicherweise wird die Menschlichkeit am Ende den Kürzeren ziehen. Man darf aber trotzig das Gegenteil beteuern.

Noten: Melonie, Mr. Mendez = 1, BigDoc = 1,5, Klawer = 2,5

Die Bücherdiebin (The Book Thief) - Deutschland, USA 2013 – Regie: Brian Percival – Drehbuch: Michael Petroni – Kamera: Florian Ballhaus – Musik: John Williams - Laufzeit: 125 Minuten – FSK: ab 6 Jahren - D.: Geoffrey Rush, Emily Watson, Sophie Nélisse, Nico Liersch, Ben Schnetzer, Ben Becker (Erzähler), Rainer Bock, Barbara Auer.


Der Film ist seit Mitte September auf DVD und Bluray erhältlich.


Pressespiegel

„Doch so eindringlich die Begegnungen zwischen den Personen im Haus gelingen, so seltsam fad wirken Straßenszenen und Schulsituationen. Es scheint fast, als sei Regisseur Brian Percival durch seine großartige Fernsehserie „Downton Abbey“ auf die intimen Momente spezialisiert. Die Straßen, erbaut im Studio Babelsberg, scheinen leer und rein, auch wenn sie bevölkert sind. Die Bücherverbrennung ist nicht nur historisch zu spät angesetzt, sie wirkt auch steril und befremdet“ (Cornelia Geissler, Frankfurter Rundschau)

„Drehbuchautor Michael Petroni bekannte kürzlich in einem Interview , dass das Studio 20th Century Fox und der Regisseur Brian Percival seine ursprüngliche, dem magischen Realismus des Buch stärker verhaftete Drehbuchversion zugunsten einer ‚familienfreundlicheren’ Variante verworfen hätten. So ist der Tonfall nun allzu versöhnlich, und dank der heimeligen Gold- und Brauntöne von Florian Ballhaus' Kamera und der gepflegten Inszenierung von Bombenopfern und Juden-Transporten sind die Ereignisse beunruhigend leicht auszuhalten. Zusaks Buch fesselte mit der Spannung zwischen Liesels kindlichem Blick und der Erbitterung, die sogar den Tod angesichts des Kriegsentsetzens packt, aber der Film scheitert daran, dies zu übersetzen“ (Nina Rehfeld, SPIEGEL ONLINE)

„The pieces of the story, which begins in 1938, are so neatly arranged that the movie has the narrative flow and comforting familiarity of a beloved fairy tale (...) I can’t imagine that the creators of “The Book Thief” were aware of their movie’s underlying message that it really wasn’t that bad. John Williams’s score — a quieter, more somber echo of his music for “Schindler’s List” — lends the film an unearned patina of solemnity, for “The Book Thief” is a shameless piece of Oscar-seeking Holocaust kitsch“
(Stephen Holden, The New York Times).