Samstag, 14. März 2015

Lucy

Man muss Luc Bessons Filme nicht immer mögen. Unbestreitbar ist jedoch der visuelle Einfallsreichtum des französischen Regisseurs, der zuletzt als Produzent populärer Actionware zu einer festen Größe im europäischen Filmbusiness geworden ist. Was sonst in ihm steckt, zeigte er in „Lucy“. Die Melange aus Sci-Fi und Actionkracher ist ein kleines Meisterwerk und auch eine Hommage an den Phantastischen Film.

„Lucy“ ist witzig und intelligent, respektlos und aufreizend banal. Lustvoll werden einige Lieblinge des Arthouse-Kinos zitiert, gleichzeitig lädt Luc Besson den Zuschauer zu einer geradezu höllischen Fahrt mit der Geisterbahn ein, die mitten in eine Ballerorgie und dann zu den Anfängen des Universums führt. Ein visuell beeindruckendes Spektakel, ein Film für den Rummelplatz, völlig größenwahnsinnig und vielleicht einer der besten seiner Art seit „Matrix“.
Ähnlich wie die Wachowskis versucht sich Besson an dem Spagat, seinen Genre-Mix nicht ganz ernst zu nehmen, ihm aber clever einige philosophische und anthropologische Fragen unterzuschieben und diese dann ironisch gegen den Strich zu bürsten. Dabei zeigt er nonchalant, dass er es tricktechnisch mit den Größten aufnehmen und immer noch die besten Shootouts und Autoverfolgungsjagden aus dem Ärmel ziehen kann.

Das polarisiert. In den Foren fallen die Cineasten hämisch über die vermeintlich schlichteren Gemüter her, denen die Kinobildung fehlt, um Spaß an „Lucy“ haben zu können. Diese haben den 27. Teil von „Taxi“ erwartet, vermissen Jason Statham und wissen sich nicht anders zu helfen, als sprachlos mit den üblichen Sprüchen zu reagieren. Aber „Lucy“ ist weder der langweiligste noch der schlechteste Film aller Zeiten. Er ist kein „Schrott“ und auch nicht „unrealistisch“, sondern einfach anders.


Der Anfang ist das ganze Programm

Schaut man sich den Anfang des Films genauer an, so entdeckt man ein Feuerwerk von Montage-Ideen und reichlich viel Filmzitate. In der Main-Title sehen wir zunächst eine Reihe von animierten Zellteilungen. Die erste Sequenz zeigt dann einen frühen weiblichen Hominiden. Sie hockt an einem Gewässer und trinkt ziemlich ungelenk. Es ist „Lucy“, die zur Art des Australopithecus afarensis gehört, einem frühen Vorläufer des Homos sapiens. Das Alter wird auf 3,2 Millionen Jahre datiert. Im Off hören wir Lucys (Scarlett Johansson) Stimme: „Vor einer Milliarde Jahren wurde uns das Leben geschenkt. Was haben wir daraus gemacht?“

Aha, es macht Klick. Es geht um Evolution und so ähnlich begann auch Stanley Kubricks „2001 – A Space Odyssee“. Doch statt des berühmten Match-Cuts, der einen hochgeworfenen Knochen in eine Raumstation verwandelt, fährt Bessons Kamera in das Getümmel einer Mega-City. Menschen und Autos rasen im Zeitraffer in vollgestopften Straßen an uns vorbei. Wir sind in Taipai, und wir sehen, dass die Krone der Schöpfung einige Millionen Jahre später ziemliche Verkehrsprobleme hat.

Vor einem Hotel stehen Lucy und ihr Freund Richard. Richard versucht Lucy davon zu überzeugen, an seiner Stelle einem mysteriösen Koreaner namens Mr. Wang einen Koffer zu übergeben: „Du vertraust mir doch, oder?“
Flashback: Lucy und Richard in einer Disco, sie saufen sich zu. Man kennt sich offenbar erst seit kurzem. Vertrauen? Traut man einem Typen mit Hawaii-Hemd, geschmackloser Sonnenbrille und einem billigen Cowboy-Hut. Eher nicht. Lucy will nach Hause. Richard lässt nicht locker und erzählt, dass er in einem Museum erfahren hat, dass „Lucy“ der Name der allerersten Frau gewesen ist.
Schnitt: wir sehen die ausgestopfte Lucy im Museum. Besson erledigt das mit drei blitzschnellen Einstellungen von nah auf total. Kennen wir das nicht? Richtig, es ist ein saloppes Montagezitat, das an die drei berühmten Löwen in Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) erinnert. 
Metaphorische Montage? Bei Luc Besson? Das kann ja heiter werden.

Lucy fühlt sich nicht geschmeichelt. Richard lässt nicht locker. Im besten Tarantino-Style quatscht er die junge Frau zu. Schnitt auf eine Mausefalle mit einem Stück Käse: eine weiße Ratte tappt heran. Richard selbst möchte aus bestimmten Gründen den Koffer nicht übergeben. Für den Job bekommt er 1000 Dollar und die könne man ja teilen. Überhaupt sei alles ja harmlos.
In einem Forum beschwerte sich ein Filmegucker: Die Mausefalle sei wohl der Scherz des besoffenen Cutters gewesen. Nein. Besson verwendet die Assoziationsmontage (1) ähnlich wie in Alain Resnais „Mein Onkel aus Amerika“ (1980), wo Resnais ebenfalls fiktives und dokumentarisches Material montierte, um den Einfluss archaischer Verhaltensmuster auf das menschliche Verhalten zu demonstrieren. Natürlich auch mit Ratten, was vor 35 Jahren übrigens ziemlich humorlos aufgenommen wurde und sogar Proteste auslöste.

Dann schnappen plötzlich die Handschellen zu. Lucy wurde von Richard überlistet und muss nun doch ziemlich verängstigt ins Hotel. Doch Mr. Jang taucht nicht auf, vielmehr kommt eine Horde grimmiger Yakuza-Typen auf Lucy zu, was Besson mit den Aufnahmen einer Gruppe von Geparden parallel montiert, die erfolgreich Jagd auf Gazellen machen. Lucy wird fortgeschleppt und sie sieht gerade noch, dass Richard draußen von einer Kugel tödlich getroffen zu Boden sinkt.

Es sind noch nicht einmal fünf Minuten vergangen und Luc Besson hat bereits mit aberwitzigem Tempo Kubrick, Eisenstein, Resnais, Tarantino und natürlich auch ein wenig sich selbst zitiert. Und als würde das nicht reichen, wird in einer Parallelmontage der Hirnforscher Samuel Norman (Morgan Freeman) gezeigt, der in einem Vortrag dem staunenden Publikum erklärt, dass der Mensch zwar nur 10 Prozent seiner Gehirnkapazität nutzt, dies aber gereicht habe, um ihn zum evolutionären Gewinner zu machen. Aber, so der skeptische Professor, das habe nur dazu gereicht, dass der Mensch das Haben dem Sein vorzieht.

Was aber passiert, wenn er 20 und dann gar 30 Prozent abrufen kann?
Die Montage springt zwischen beiden Sequenzen hin und her, man ahnt, dass Lucy diese Frage beantworten wird. 
In dem Koffer befindet sich die neue Designerdroge CPH4, die Mr. Jang (Chou Min-sik) einer Handvoll Drogenschmugglern in den Unterleib implantieren lässt, um sie nach Europa zu transportieren. Lucy ist nun eine von ihnen und als sie während der Überfahrt angekettet in einem Container sitzt, tritt ihr einer der Bösewichter in den Bauch, was das CPH4 in Lucys Körper frei setzt. Das hat Folgen.


Stil vor Inhalt: Lucy ist ein anthropologischer Comicfilm

In knapp zehn Minuten hat Besson diesen Prolog abgewickelt, eine Tour de Force, die allein schon ausreichend Stoff für einen abendfüllenden Film abgeben könnte. Aber weder das enorme Tempo noch die vielen Zitate und visuellen Gimmicks verlieren die Geschichte aus dem Auge, der präzise Montagerhythmus ist ein Lehrstück in Sachen Tempo und erzählerischer Konsistenz. Das kriegt nicht jeder so elegant hin und schon lange nicht mehr war der Besson-Stil so ausgefeilt.

Besson wurde in der 1990er Jahren zugeschrieben, dass er ein Repräsentant des „Cinéma du look“ sei. Diese Definition spiegelt aber weniger einen epochemachenden Kinostil wider, sondern war der Versuch eines französischen Kritikers, gewisse Merkmale in den Arbeiten von Jean-Jacques Beineix („Diva“, 1981), Leos Carax („Les Amants du Pont-Neuf“, 1991, „Holy Motors“, 2012) und eben auch von Luc Besson auf einen Begriff herunterzubrechen. Dabei ging es um das Primat des Stils. Inhalt ist nachrangig, es zählt der „Look“.
Von den drei Genannten ist wohl nur Luc Besson heute größeren Kreisen der Kinogänger bekannt. Das liegt nicht nur an seinen stil- und genreprägenden Filmen wie „Léon – Der Profi“ (1994) oder „Das fünfte Element“ (1997), sondern noch mehr an den von ihm produzierten massenkompatiblen Action-Krachern wie der „Taxi“-Quadrologie (1998-2007) oder der „Transporter“-Trilogie (2005-2008). Sie prägten zuletzt das Bild eines Filmemachers, den man danach voreilig mit „Filmmüll“ assoziieren konnte. Von Besson erwartete man nichts mehr. Möglicherweise war dies zu kurz gesprungen, denn Besson produzierte halt auch
The Three Burials of Melquiades Estrada von Tommy Lee Jones (2005) und den experimentellen „Revolver“ von Guy Ritchie (2005). Nun ist Besson mit überbordender Erzähllust und stilistischer Phantasie zu seinen großen Filmen aus den 1990er Jahren zurückgekehrt.

In „Lucy“ sollte man deshalb nicht bierernst die Plausibilität des Inhalts prüfen. Zum Beispiel den sogenannten „10-Prozent-Mythos“. Er wurde von der modernen Hirnforschung umfassend widerlegt. Besson nutzt die Idee nur als Vehikel, um möglichst schnell zum Kern der Geschichte zu kommen. 
Nach der Freisetzung der neuen Droge entfalten sich in Lucy innerhalb weniger Minuten übermenschliche Fähigkeiten. So wie Neo in „Matrix“ die virtuelle Welt beherrschen lernt und dabei nicht die Bedeutung der Martial Arts vergisst, entwickelt Lucy mit unheimlicher Geschwindigkeit eine perfekte Körperkontrolle, dank derer sie perfekte Nahkampftechniken besitzt und beidhändig schießen kann. Ihre geistigen Fähigkeiten steigern sich ebenfalls exponentiell und während kurze Einblendungen im Film auf den jeweiligen Prozentanteil der freigesetzten Hirnkapazitäten verweisen, lernt die plötzlich hochintelligente Kampfmaschine elektromagnetische Wellen zu kontrollieren, Gangster per Telekinese von der Schwerkraft zu befreien, Gedächtnisengramme in 3-D-Holografie zu transkodieren und ganz nebenbei auch noch die Gedanken anderer zu lesen. Und sie hat ein Ziel: Lucy will die drei anderen Drogenpakete haben und sie will ein Teil ihres Wissens mit Samuel Norman teilen.

Scarlett Johansson muss sich in Bessons Film nicht sonderlich anstrengen, denn Lucy büßt mit zunehmender Geisteskraft unübersehbar menschliche Eigenschaften wie Empathie, Freude und Mitleid ein. So kämpft und schießt sich Scarlett Johansson überwiegend mit unbewegtem Gesicht durch die Hundertschaften von Yakuza-Gangstern, die Mr. Jang ausschickt, um die Drogen zurückzuerobern. Staunen darf dagegen Amr Waked als französischer Cop, der als Sidekick
Lucy nicht groß helfen kann und nur wegen des Comic Relief und der „Erinnerungen“, so Lucy, mit von der Partie ist. 
Grenzenloses Staunen darf auch Morgan Freeman mimen, der sein hypothetisches Evolutionsmodell auf eine Weise bestätigt sieht, das ihm Hören und Sehen vergehen. Leider kommt Freeman über eine Nebenrolle nicht hinaus, macht das Wenige aber in bewährter Manier recht gut.
 

Das finessenreiche Spektakel, das Besson in der letzten halben Stunde des knapp 80-minütigen Films ins Bild setzt, hat man in dieser Form wohl noch nie gesehen. Lucy führt sich die restlichen Drogen per Infusion zu und mutiert von einem Comicgirl zu einem Superwesen, das locker ihren Kollegen Dr. Manhattan aus den „Watchmen“ in den Schatten stellt. Mit der Überwindung von Raum und Zeit ist sie in der Lage, die Raumzeit einzufrieren und mit lockeren Handbewegungen wegzuzappen, während sie entspannt in einem Stuhl sitzt, ins Paris des 19. Jh. reist, dann einer Gruppe berittener Indianer gegenübersitzt und anschließend durch die Jahrmillionen kosmischer Geschichte rast. Die Begegnung mit ihrer vorzeitlichen Namensvetterin, die immer noch trinkend am Gewässer sitzt, stellt Michelangelos berühmten Fresko „Die Erschaffung Adams“ hypersymbolisch nach, ehe Bessons Bilderorgie wie in Terrence Malicks „The Tree of Life“ auf den Urknall zurast, während Lucy dabei locker die 100 %-Marke knackt.

Luc Besson serviert dies spielerisch und mit augenzwinkerndem Witz. Stil vor Inhalt. Dass dabei die „Ich will haben“-Spezies nicht gut davonkommt, ist unübersehbar. Ob die drogeninduzierte Allmacht eines neuen Lichtwesens die probate Alternative ist, sei dahingestellt.
Bemerkenswert ist Bessons clevere Doppel-Strategie: einerseits füttert er das Publikum randvoll mit berserkerhafter Action ab, andererseits irritiert er wohl einige seiner Fans mit offenbar nicht leicht zu verdauenden Themen und einer Bildmontage, die sich virtuos durch die Welten der Wissenschaft und der Kunst, der Literatur und des Kinos bewegt. Arthouse meets Pulp.
Am Ende ist Lucy in etwa das, was sich der deutsche Philosoph G.W.F. Hegel möglicherweise unter dem Weltgeist vorgestellt hat, allerdings präsentiert Besson uns seine philosophische Light-Version des Themas. Lucys letzte Mitteilung an Professor Norman ist die lapidare Beschreibung ihrer Allgegenwart. Die erscheint – natürlich – auf dem Display eines Smartphones. Das ist in etwa eine Pop-Version der pantheistischen Vorstellung eines Geistes, der frei von allen durch Raum und Zeit gesetzten Schranken existiert. Zweifellos eine Eigenschaft Gottes. Das wird Slavoj Žižek wohl große Freude bereiten (2). Oder auch nicht.
 
 

Am Ende also ein mythologischen Treppenwitz. Besson nimmt damit einige todernst gemeinte Vorbilder auf die Schippe und macht aus dem Rätselspiel mit faszinierender Brillanz einen stilistischen Genre-Meilenstein, der atemberaubend ist. Der Film endet nach Lucys letzten überraschenden Offenbarungen über die Natur des Kosmos dann abrupt mit der lapidaren Feststellung aus dem Off: „Vor einer Milliarde Jahren wurde uns das Leben geschenkt. Macht etwas daraus!“
Das hat viele auf die Palme gebracht und natürlich ist diese scheinbar banale Quintessenz etwas spöttisch. Einige Besson-Fans werden wohl sprachlos zurückbleiben, aber eher wegen dem, was sie ganz zum Schluss zu sehen bekommen, wenn der Regisseur ihnen mal eben locker vorführt, dass er sowohl ein „Homme des lettres“ als auch ein Meister des Pulps ist. Schade für die, die nur Bahnhof verstehen.

Luc Besson hat das 40 Mio. $-Budget des Films mittlerweile verzehnfacht. „Lucy“: phantastisches Achterbahn-Kino, das nur wenig Rücksicht auf Logik und Vernunft nimmt. Virtuose erste zehn Minuten: Stilmix und Verzahnung der Themen verblüffen, was den Film allein schon sehenswert macht. Gepflegter wissenschaftlicher Nonsens und anthropologische Skepsis garniert mit grandiosen visuellen Einfällen und phantastischen Visionen. Rotzfrech, aber immer voller Überraschungen. So macht man Filme, die man sich mehr als einmal anschauen wird.

Der Film ist seit Mitte Januar mit unterschiedlichen Alters- und Laufzeitangaben auf DVD (ab 16, 85 min) und Bluray (ab 12, 89 min) erhältlich. Die FSK 12-Fassung soll uncut sein. Die Bluray entspricht der ungekürzten US R-Rated Kinofassung.

Noten: BigDoc, Klawer = 1,5, Melonie = 2, Mr. Mendez = 3

(1) „Assoziationsmontage basiert auf der elementaren Fähigkeit des Menschen, aus signifikativen Bruchstücken höhere Einheiten des Denkens zu synthetisieren: Fügt man Einstellungen aneinander, die keine Handlung gemein haben, keinen gemeinsamen Raum, keine Ähnlichkeit, stellt sich doch der Eindruck eines Zusammenhangs her. Dabei treffen u.U. Bedeutungen aufeinander, die – in Eisensteins Metapher – miteinander kollidieren und dabei Bedeutungsimpulse freisetzen, die zu einem Dritten, Nichtgezeigten voranschreiten“ (Lexikon der Filmbegriffe, 2012).

(2) Slavoj Žižek ist ein Philosoph, der sich mit seinem umstrittenen Buch „Weniger als Nichts“ erneut als profunder Hegel-Kenner präsentiert hat und ebenfalls ein großer Freund des europäischen Kinos ist.

Lucy – Frankreich 2014 – Regie und Buch: Luc Besson – Kamera: Thierry Arbogast – D.: Scarlett Johansson, Morgan Freeman, Choi Min-sik, Amre Waked - Laufzeit: 85/89 Minuten