Donnerstag, 4. Februar 2016

The Hateful Eight

Quentin Tarantinos achter Film soll sein drittletzter sein. Der Meister will abtreten, auf der Höhe seiner Kunst, wie er sagt. Und dann Romane schreiben. Das wäre schade, denn Tarantinos aktueller Film ist großes, klassisches Kino. Und je mehr man sich in „The Hateful Eight“ umschaut – und das kann man wirklich – desto deutlicher wird, dass der Regisseur und Autor Quentin Tarantino nicht nur ein auteur ist, sondern zuallererst ein Stilist. Ein Meisterwerk.

Am Ende sind fast alle tot und die einzigen Überlebenden sind ein rassistischer Südstaatler und der einzige Farbige. Dazu noch die Person, die sie lustvoll aufhängen, weil eine Kugel für sie zu schade wäre.
Ob die Henker dies überleben? Wir werden es nicht herausfinden, wahrscheinlich ist es nicht. Eins steht aber fest: zynisch waren Quentin Tarantinos Filmenden schon immer, hoffnungsloser als „The Hateful Eight“ war ein Tarantino-Film lange nicht mehr. 
In „Inglorious Basterds“ und „Django Unchained“ wird den Helden eine fiktive Zukunft geschenkt, „The Hateful Eight“ tut dies nicht. Vielleicht auch deswegen, weil es keine Helden mehr gibt in diesem Noir-Western, der im einem zeitlichen Niemandsland nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs spielt. 

Wer diese einleitende Vorwegnahme des Endes für einen Spoiler hält, sollte erst ins Kino gehen und dann die Kritiken lesen. Filmkritiken sind nämlich keine Produktbeschreibungen, in denen die Nebenwirkungen verschwiegen werden können. Betrachtet man „Inglorious Basterds“, „Django Unchained“ und „The Hateful Eight“ nämlich als zusammenhängenden filmischen Kosmos, begegnen uns zwei lustvoll inszenierte Geschichtsrevisionen (blutrünstige Rache an den Nazis und blutrünstige Rache an den Sklavenhaltern) und nun ein skeptisches Finale, dessen blutrünstiges Filmende beinahe eine rückwärts auf die anderen Filme gerichtete Conclusio ist. Eben noir, schwarz. Aber mit klassischem Geschmack.


Chapter One: Last Stage to Red Rock

Ein Noir-Western ist Tarantinos achter Film (wie auch der Vorspann ihn ankündigt) auch deswegen, weil eine Femme fatale eine zentrale Rolle spielt. Es ist Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh als „The Prisoner“), die von dem berüchtigten Bounty Hunter John Ruth (Kurt Russell als „The Hangman“) nach Red Rock gebracht wird, um dort gehängt zu werden. Die Kutsche wird von Major Marquis Warren (Samuel L. Jackson als „The Bounty Hunter“) aufgehalten. Warren trägt immer noch die Uniform der Unions-Truppen. Sein Pferd ist zusammengebrochen und er will die Leichen von drei Verbrechern nach Red Rock bringen, um wie Ruth ein Kopfgeld zu kassieren. Ruth, der die Kutsche exklusiv angemietet hat, ist fast schon paranoid. Er erwartet, dass konkurrierende Kopfgeldjäger ihm die Beute abjagen, aber auch, dass seine Gefangene befreit werden soll. Erst nach einer weitschweifigen Diskussion und peniblen Sicherheitsmaßnahmen ist er bereit, seinen ‚Kollegen’ mitsamt der Leichen mitreisen zu lassen. Das hat einen Grund: der knurrige Ruth ist ein heimlicher Bewunderer von Warren, der einen Brief von Abraham Lincoln bei sich trägt. Nicht nur das: Warren rühmt sich auch einer Brieffreundschaft mit dem berühmten US-Präsidenten. Und Ruth ist begierig, dies noch einmal nachzulesen. Als Domergue verächtlich auf das Dokument spuckt, rammt ihr Ruth den Ellenbogen ins Gesicht. 

Chapter Two: Son of a Gun

Damit endet das erste Kapitel. Wie so oft hat Quentin Tarantino auch diesen Film in Episoden mit eingeblendeten Überschriften unterteilt. „Son of a Gun“ kündigt nun einen weiteren Fahrgast an, der angesichts des heraufziehenden mörderischen Schneeblizzards nur widerwillig in die Reisegruppe aufgenommen wird. Es ist Chris Mannix (Walton Goggins als „The Sheriff“). Mannix erklärt, dass er der neue Sheriff von Red Rock ist, aber als klar wird, dass er auch der Sohn eines berüchtigten konföderierten Rebellenführers ist, werden die Frontlinien in der Kutsche neu arrangiert. Mannix ist ein Rassist, der einem farbigen Kopfgeldjäger gegenübersitzt, der sich als ehemaliger Unions-Offizier ausgibt und ausführlich schildert, welches Vergnügen ihm das Killen von Südstaatlern bereitet hat. Natürlich fliegen die Fetzen und Ruth und Warren schließen einen befristeten Sicherheitspakt gegen den undurchsichtigen Reisegefährten.

Tarantino inszeniert die „Höllenfahrt nach Red Rock“ mit fast manischer Ausführlichkeit. Man kennt dies: Es wird gern und viel geredet. Die Dialoge wirken umständlich, fast schon redundant. Während in vielen Western nicht besonders viel geredet wird, weil der schnelle Colt und der schnelle One-Liner mehr als viele Worte sagen, dehnt Tarantino nicht nur rhetorisch die Kutschenfahrt in die Länge, sondern richtet einmal sogar fast 45 Sekunden die Kamera auf ein Gesicht, ohne dass etwas geschieht. 

Nicht nur die Montage konterkariert hier geläufige Genreerwartungen. Wir sind im Tarantino-Land und dort werden Genres eben nicht nur zitiert, sondern kräftig gegen den Strich gebürstet. Tarantino hat auch in früheren Filmen die Quasseleien der Akteure kontrapunktisch eingesetzt (Unterlaufen von Erwartungen, unpassende Witzigkeit in unpassenden Situationen).
Ein weiterer Aspekt ist nicht auf Anhieb zu erkennen: Es ist der eigenen Rhythmus’ und die Melodik der Sprache, die Tarantino schätzt und die den Szenen eine eigene, von den Gesprächsinhalten abgekoppelte Metrik gibt. Auch das kennen wir: die Handlung wird von Figuren gelenkt, die rhetorisch ihrer Umgebung überlegen und besonders charismatisch sind. Das gilt besonders für die Bösewichte, wie es Christoph Waltz nicht nur in „Inglorious Basterds“ unter Beweis stellte, sondern in „Django Unchained“ sogar noch toppte.

Noch etwas fällt auf. Wenn Samuel L. Jackson sich zu Beginn in der schneebeladenen Landschaft der Kutsche in den Weg stellt, dann erinnert dies nicht nur zufällig an Ringo Kid (John Wayne) in John Fords „Stagecoach“ (Höllenfahrt nach Santa Fé; Ringo, 1939). Tarantinos Kutschfahrt sucht diesmal also keine Referenzen in seinen heiß geliebten Trash-Movies, sondern in Kinoklassikern. Dies wird auch später zu sehen sein. An dieser Stelle soll nur darauf hingewiesen werden, dass die Schuhe, in die Tarantino steigt, natürlich groß sind. Der berühmte Filmkritiker Andre Bazin fasste Fords Film nämlich so zusammen: „Die Kunst hat ihr vollkommenes Gleichgewicht gefunden, ihre ideale Ausdrucksform.“ Das ist unter anderem auf die von Bazin bevorzugte Ästhetik der tiefenscharf gefilmten Aufnahmen zurückzuführen, die Ford gezielt einsetzte. Wer sich an John Ford anlehnt, muss schon ein großes Ego haben.
Aber Tarantino wäre nicht Tarantino, wenn er die Schicksalsgemeinschaft in der Kutsche nicht kräftig umdefinieren würde. In „The Hateful Eight“ werden die ungleichen Reisenden es nicht mit einem Indianerüberfall zu tun bekommen wie in
„Stagecoach“, sondern mit sich selbst. Ähnlich wie Ford stellt auch Tarantino die größtmöglichste Einheit von Ort, Zeit und Raum bei der Inszenierung der Kutschenfahrt her, aber in „Stagecoach“ sind es die Außenseiter in der Kutsche, die sich moralisch bewähren müssen, um die Gemeinschaft zu retten. Davon sind die Reisenden in Tarantinos Film meilenweit entfernt. „Son of a Gun“ heißt nämlich übersetzt ‚Scheißkerl’.

Chapter Three: Minnie's Haberdashery

Die zentralen Figuren sind etabliert, der Prolog ist beendet. Warren, Ruth, Mannix und Domergue erreichen kurz vor dem Ausbruch des Schneesturms „Minnies Kurzwarenladen“, eine gut befestigte Postkutschenstation, die ausreichenden Schutz bietet. Dort treffen sie auf Bob (Demián Bichir), einen Mexikaner, der die Geschäfte für die abwesende Ladenbesitzerin Minnie Mink führt, und auf einige Gäste: den schweigsamen Cowboy Joe Gage (Michael Madsen), den ehemaligen Konföderierten-General Sanford „Sandy“ Smithers (Bruce Dern) und den gesprächigen Oswaldo Mobray (Tim Roth), der angibt, der neue Henker von Red Rock zu sein. Die Hateful Eight sind nun zusammen. Etwas irritiert allerdings: Die Eingangstür ist stark beschädigt und muss immer wieder vernagelt werden, um dem Sturm standzuhalten.

Der Blizzard ist mittlerweile so stark geworden, dass die Zwangsgemeinschaft wohl einige Tage zusammenbleiben muss. Das bringt John Ruth in Rage. Um die Situation unter Kontrolle zu halten, nimmt er bis auf Warren allen anderen die Waffen ab. Beim gemeinsamen Essen erklärt Mannix genüsslich, dass Warrens Lincoln-Brief eine Fälschung ist. Zur allgemeinen Überraschung gibt dieser den Fake lässig zu. Dies habe ihm neben allgemeiner Bewunderung auch Bewegungsfreiheit gegenüber den Weißen verschafft. Ruth registriert diese Enthüllung mit unverhohlener Wut. Später provoziert Warren mit sichtlichem Vergnügen den altersschwachen Konföderierten-General mit dezidierten „Suck my dick“-Details des qualvollen Sterbens von Smithers Sohn. Da Warren dem Alten fürsorglich einen Revolver auf die Sessellehne gelegt hat, stirbt der Einzige, der das Geheimnis von Minnies Kurzwarenladen kennt, umgehend. Er war nicht schnell genug.

Eine konventionelle Szenenauflösung würde die Handlung in der Hütte in zahlreiche Handlungs- und Blickachsen zerlegen und die Montage an den jeweils involvierten Personen ausrichten. Das von Tarantino gewählte extreme Breitwandformat erschließt den Erzählraum auf andere Weise. Tarantino, der nicht gerade ein Freund der digitalen Technik ist, konnte die Entscheider in der Weinstein Company davon überzeugen, den Film im Ultra-Panavision-70-Format drehen zu dürfen. „The Hateful Eight“ ist damit der elfte Film, der in diesem recht teuren und extrem breitem Bildformat gedreht wurde. Der Film reiht sich damit auch technisch in die Tradition einiger Klassiker wie „Ben Hur“ (1959) oder „Meuterei auf der Bounty“ (1962) ein. Aber nicht, um erlesene Schauwerte zu präsentieren, sondern um Zimmertheater zu zeigen.
Glücklicherweise besaß Panavision noch die alten Kamera und die erforderlichen Linsen. Aus dem Master wurden dann 70- und 35 mm-Kopien gezogen. Die breite 70 mm-„Roadshow“-Version zeigte die Company zum US-Start in ausgewählten Kinos, die entsprechend breite Leinwände und Projektoren besaßen (2).

„Es sind acht Leute im Raum, und so können wir das Bild nach und nach mit immer mehr von ihnen füllen“, erklärte Kameramann Robert Richardson. „Das Publikum kann in fast jeder Einstellung sehen, wo die Figuren sich befinden. Die Breite des Bildes erzeugt ein klaustrophobisches Gefühl, weil man alle Wände gleichzeitig sieht. Du wirst eingeschlossen, und die Erfahrung des Schauspiels wird meiner Meinung nach multipliziert.“
Tarantino und sein Kameramann erzählen die Geschichte von „The Hateful Eight“ deshalb überwiegend in Totalen und Halbtotalen. Es sind nicht die Schnitte, mit denen eine Fokussierung des Zuschauers gelenkt wird, sondern der Zuschauer ist es, der die erforderliche Zeit besitzt, um sich in den Plansequenzen umzuschauen. Nur gelegentlich nähert sich das Objektiv den Figuren, aber nur dann, wenn die Aufmerksamkeit auf wichtige Details gelenkt werden soll.
„Endlich hatten wir ein Kamerasystem, mit dem sich auch die winzigen Details in ihrer ganzen Pracht einfangen ließen. Es gibt viel mehr Informationen in den Bildern. Sie sind wunderschön und bringen etwas von der Ehrfurcht zurück, die wir als Kinder empfanden, wenn wir Breitwandbilder im Kino sahen“ (Kameraassistent Gregor Tavenner).

Während (nicht nur) Hollywood-Blockbuster ihre Szenen zunehmend mit 2-3 sec-Takes häckseln (1), verteidigte Tarantino mit der Wahl der Aspect Ratio die Integrität seines Erzählraums. Richardsons Kamera gleitet durch den Raum, hin zu einem Akteur, dann weg von ihm und anschließend zum Ausgangspunkt. Dies ist keine Spielerei. Vielmehr gibt Tarantino dem Zuschauer die Souveränität des Sehens zurück. Nicht die hektischen Bildfolgen und damit die entfesselte Montage kontrollieren das Sehen, sondern der Zuschauer entscheidet, wo er hinschaut und wie lange er dies tut. Damit wird er zu einem autonomen Teil der filmischen Diegese.

Über die Ästhetik in „Django Unchained“ schrieb ich vor drei Jahren: „(...) erzählt uns Tarantino die (Geschichte) in so ausgesucht altmodischen Bildern, dass man versucht ist, dies als Kommentar zu lesen. Kadrierung und Kameraführung und dazu die klassisch anmutende Montage der ersten Sequenzen haben fast nichts mit den vielzitierten Spaghetti-Western zu tun (...), sondern viel mit der offenen Bildsprache eines John Ford. Das ist natürlich auch dem großartigen Robert Richardson zu verdanken („Kill Bill – Volume 1 und 2“ und „Inglorious Basterds“). Und da sitzt man im Kino und sieht, wie ein Regisseur in aller Seelenruhe das Kino entschleunigt und einen Erzählraum konstituiert, wie man ihn lange nicht mehr im Mainstream-Kino gesehen hat. Tarantino etabliert bereits zu Beginn die formalen Gesetze seiner Geschichte, dann beginnt er damit, sie zu erzählen. Tarantino hat Stil und man sieht das.“
Das gilt ohne Abstriche auch für „The Hateful Eight“ und bedeutet einen signifikanten Wechsel von der Montage in „Inglorious Basterds“ hin zu klassischen Bildkompositionen in
„The Hateful Eight“. Stil ist etwas, was der Handlung dient. Alles andere ist Formalismus. Tarantino hat dies meisterlich umgesetzt.


„The Hateful Eight“ – ein stilistisches Meisterwerk

„The Hateful Eight“ kehrt erzählerisch und stilistisch zurück zu mehr Linearität, allerdings nicht durchgehend. In Chapter Four: Domergue’s Got a Secret“ setzt Tarantino sehr originell die Suspense-Technik Alfred Hitchcocks ein und deckt einen Teil der Verschwörung auf. Cliffhanger inklusive. „Chapter Five: The Four Passengers“ ist komplett ein Flashback, der die gesamte Vorgeschichte enthüllt und einleitend vom Regisseur als Off-Narrator – wieder einmal vermeintlich umständlich – erläutert wird. Und das letzte Kapitel „Black Man, White Hell“ steigert das blutige Inferno hin zu einer Hommage an den verblichenen John „The Hangman“ Ruth. Denn eins ist klar: Es wird gestorben in Tarantinos Film. Gift, Kugeln, Messer befördern die meisten der „hassenswerten Acht“ in die ewigen Jagdgründe, wobei einige noch nicht einmal in der letzten Filmminute tot sind, sondern zuckend irgendwo in Minnie’s Laden herumliegen.

Quentin Tarantino, der freimütig seine Referenzen aufgezählt hat, hatte mit seinem achten Film weniger eine erneute Rassismus-Debatte im Sinn, sondern ganz andere Vorbilder. Insbesondere TV-Western-Serien wie „Bonanza“, „Die Leute von der Shiloh Ranch“ oder „High Chaparral“. Dort tauchten in einzelnen Episoden Gaststars auf, die als Gesetzlose die eigentlichen Hauptfiguren überrumpelten und komplett das Kommando übernahmen. „Ich wollte nichts als einen Haufen ruchloser Typen, die sich gegenseitig ihre Vorgeschichte erzählen, die wahr sein kann oder auch nicht“, erklärte Tarantino die Kernidee seines Film. Dann wollte er ihnen eine Knarre in die Hand drücken und abwarten, was passiert. Mit Spaghetti-Western, wie dies eine Kritikerin zu sehen glaubte, hat dies nichts zu tun.


Ganz so cool hat Tarantino „The Hateful Eight“ dann doch nicht geplant und vorbereitet. Immerhin waren drei Drehbuchversionen nötig, um sich seinen Figuren zu nähern und sie zu verstehen. Herausgekommen ist ein Western-Krimi in Agatha Christie-Manier, der nur bedingt – vielleicht für den einen oder anderen Zuschauer unbefriedigend – eine ideologische Debatte über die aktuellen Auswüchse des Rassismus in den Vereinigten Staaten führen will. „The Hateful Eight“ wendet sich deshalb auch von der inhaltlichen Komplexität der Dialoginhalte in „Django Unchained“ ab.
„Ich wollte keine politische Polemik schreiben. Andererseits waren Western schon immer politisch in dem Sinn, dass sie das Jahrzehnt reflektierten, in dem sie entstanden“, resümierte Tarantino in einem Interview mit der WELT. „Ich bin sicher, wenn Sie ‚The Hateful Eight’ in zwanzig, dreißig Jahren ansehen, bekommen Sie eine ziemlich gute Vorstellung von dem, was heute in Amerika abläuft.“

Gedreht wurde in Colorado bei eiskalten Temperaturen. Auch am Set lagen die Werte nahe am Gefrierpunkt. Quentin Tarantino wollte, dass man im Kino die eisige Kälte sieht. Vielleicht sind es genau die richtigen Bilder, um seine Sicht der Dinge auf den Punkt zu bringen.


Pressespiegel

„Wie immer bei Tarantino lösen sich epische Dialogpassagen mit stummen Sequenzen ab, jeweils überproportioniert und doch nie langweilig. Auf positive Charaktere wartet man dieses Mal vergeblich, es ist sein schwärzester Film und das heißt schon einiges bei Tarantino“ (Daniel Kothenschulte in: Frankfurter Rundschau).

„Das Ergebnis ist dieses Mal, dass der dumpfe Rachereflex in The Hateful Eight offenbar überhaupt nicht weiß, gegen wen oder was er sich richten soll. Also schlägt er scheinbar blind um sich. Ein Kollege stellte nach der Vorführung fest, dass er das dringende Bedürfnis nach einer Rosamunde-Pilcher-Verfilmung verspürt. So weit muss es nicht kommen. Aber der Geschmack, der nach diesem Tarantino zurückbleibt, ist besonders metallisch“ (Wenke Husmann in: DIE ZEIT).

Über die Wahl der Breitwand-Format schreibt Verena Luecken in der FAZ: „Und wozu das alles? Für „The Hateful Eight“, Quentin Tarantinos achten Film, wie der Vorspann vermerkt. Einen Western, für den nicht die gloriose Geschichte des Hollywood-Genres Vorbild und Weidefläche war, sondern der Spaghetti-Western der Sechziger. Und dort nicht etwa eine Serie wie „Django“, sondern ein Solitär, nämlich Sergio Corbuccis „Leichen pflastern seinen Weg“, der im Schnee spielt und im Original „Il grande silenzio“ hieß, was Tarantino offenbar zum Anlass genommen hat, in seinem Schneewestern für ununterbrochenes Gequassel zu sorgen. Dies ist sein, das darf verraten werden, in Bild und Ton geschwätzigster Film.“

„Mit dem aus zwei sehr unterschiedlichen Hälften bestehenden Western „The Hateful 8“ beweist Quentin Tarantino einmal mehr, warum er zu den außergewöhnlichsten und kompromisslosesten Filmemachern unserer Zeit gehört – wobei er es seinem Publikum allerdings auch nicht ganz leicht macht“ (Björn Becher in: FILMSTARTS). 


Fußnoten


(1) Ein besonders abstoßendes Beispiel konnte man am 21. Januar im Tatort „Hundstage“ sehen. Regisseur Stephan Wagner und Cutterin Susanne Ocklitz, mit der Wagner regelmäßig zusammenarbeitet, häckselten die Szenen mit Schnittfolgen, die eine kontinuierliche Wahrnehmung bereits im Ansatz zerstörten. Die Einstellungslängen folgten häufig einem 2-2-3-Schema (Takelänge in sec), nur gelegentlich unterbrochen von längeren Takes. Christian Buß nannte dies im SPIEGEL den „wahrscheinlich am schnellsten geschnittenen deutschen Fernsehkrimi aller Zeiten“ und glaubte zu erkennen, dass „die Kleinteiligkeit in den Sequenzen konsequent der Dynamik der Interaktion (folgt)“.
Ich behaupte einfach mal, dass man die Interaktion zwischen Personen am besten verarbeiten kann, wenn sie beide in einer Einstellung zu sehen sind. Die Dynamik entsteht dann im filmischen Raum und nicht am Schneidetisch.

„Per definitionem gibt es im Gedächtnis nichts (außer es ist genetischer Art), was nicht gelernt wurde, und etwas zu lernen bedeutet, ihm Aufmerksamkeit zu schenken" (Lefrancois, 1994: Psychologie des Lernens, S. 162).
Doch was bedeutet Aumerksamkeit in Bezug auf die Länge eines Ereignisses und dessen Darstellung im Kino? Wer mehr darüber erfahren will, sollte sich mit den Arbeiten Ernst Pöppels beschäftigen, der sich aus psychologischer, aber auch hirnphysiologischer Sicht mit dem Erleben von Zeit und Gegenwart auseinandersetzte. Die Thesen Pöppels konnten experimentell bestätigt werden.
Demzufolge geschieht die zeitliche Integration von Ereignissen in einem 3-Sekunden-Fenster, das wir als subjektive Gegenwart erleben. Ein länger andauerndes Ereignis kann, so Pöppel, nicht festgehalten werden. Mit anderen Worten: es wird zu einem bereits vergangenen Erlebnis. Offenbar sind die Pöppelschen „Drei-Sekunden-Pakete“, die unser Hirn integrieren muss, aber sehr angenehm für uns. Besonders in ästhetischer Hinsicht. Pöppel untersuchte Gedichte und fand heraus, dass „in allen Sprachen eine bemerkenswerte Bevorzugung des Drei-Sekunden-Verses zu beobachten ist.“
Offenbar funktioniert auch Musik auf die gleiche Weise. Es sollte untersucht werden, ob wir die gleichen befriedigenden ästhetischen Erfahrungen (Pöppel nennt sie Gestalteinheiten) auch mit der Einstellungslänge von Filmtakes machen. Dies ist wahrscheinlich, wenn man sich vorstellt, dass eine Szene, die aus Ein-Sekunden-Einstellungen besteht, wahrscheinlich nicht mehr im Gedächtnis konsolidiert werden kann. Deshalb heißt so etwas auch „Schnittgewitter“.
Auf Tarantinos Einstellungslängen übertragen, bedeutet dies, dass wir in den Plansequenzen die Gegenwart von Ereignissen erleben, die in der Vergangenheit langsam verschwinden. Filmzeit und subjektive Zeit synchronisieren sich, wir sind aufmerksam – und das kann nicht schlecht sein.

(2) In Deutschland ist dies in Berlin, Essen, Karlsruhe und Hamburg zu sehen.


Quellen


SPIEGEL-ONLINE: Aus jeder Pore tropft die Wahrheit

Ernst Pöppel, Stuttgart 1985: Grenzen des Bewusstseins, S. 76

Scott Eyman, Paul Duncan (Hg.), Köln 2004: John Ford



Noten: BigDoc, Melonie = 1
 

The Hateful Eight - USA 2015 - Regie und Buch: Quentin Tarantino - Kamera: Robert Richardson - Musik: Ennio Morricone - D.: Samuel L. Jackson, Kurt Russell, Jennifer Jason Leigh, Tim Roth, Walton Goggins, Michael Madsen, Bruce Dern, Démian Bishir, Channing Tatum. Laufzeit: 169 Minuten (Kinoversion), 187 Minuten (Roadshow Version).