Mittwoch, 5. September 2007

Bilder des Bösen II: Pans Labyrinth

Mexiko / Spanien / USA 2006 - Originaltitel: El Laberinto del Fauno - Regie: Guillermo del Toro - Darsteller: Ivana Baquero, Doug Jones, Sergi López, Ariadna Gil, Maribel Verdú, Álex Angulo, Roger Casamajor, Sebastián Haro - FSK: ab 16 - Länge: 114 min.

Mitten im Deutungsloch
In einem Gespräch in der Charlie-Rose-Show fasste Guillermo del Toro die Quintessenz seines Films „Pans Labyrinth“ mit einem Kierkegaard-Zitat zusammen: „Die Herrschaft des Tyrannen endet mit dessen Tod und die Herrschaft des Märtyrers beginnt mit dessen Tod“. Es ist gut, wenn man prägnante Sprüche zur Hand hat, denn del Toros Film verstört nicht nur am Schluss durch den Tod der Hauptfigur und deren märchenhafter Metamorphose, sondern auch vorher durch eine komplexe und schwer verdauliche Erzählstruktur. Dies verlangt nach Deutungen.

Irritation und Kopfschütteln daher auch im Filmclub, dazu ungläubiges Staunen und Sprachlosigkeit: der als Masterpiece angekündigte Film hatte einen mittleren Kulturschock ausgelöst. Dies lag nicht unbedingt an der Komplexität der Story (zwei Wochen später erhielt der aus meiner Sicht gewiss nicht einfachere Film „Babel“ von Alejandro González Iñárritu vortreffliche Höchstnoten), sondern war wohl eher dem Aufeinanderprallen zweier Erzählwelten zu verdanken: auf der einen Seite muss man die „realistische“ Darstellung des mörderischen Wütens faschistischer Franco-Truppen verdauen und auf der anderen Seite Feen und Faune in einer kindlichen, aber keineswegs harmlosen Märchenwelt, ohne genau zu wissen, ob diese „Welt“ innerhalb der Fiktion „real“ ist oder nicht. Starker Tobak.

Ofelia im Horrorland
Wir befinden uns im Spanien des Jahres 1944, kurz nach dem Sieg Francos gegen die Republikaner. Hauptmann Vidal reist mit seiner gerade geheirateten und hochschwangeren Frau Carmen und deren 12-jähriger Tochter Ofelia in ein armseliges nordspanisches Dorf. Dort, auf dem Gutshof der Familie, soll sein eigenes Kind geboren werden, während er gleichzeitig den Auftrag hat, die versprengten Reste der republikanischen Widerstandskämpfer zu bekämpfen.

Durch einen Zufall entdeckt die junge Ofelia (Ivana Baquero) in der Nähe des Gutshofes ein uraltes steinernes Labyrinth. Dort begegnet ihr nächtens ein Pan, der ihr eröffnet, dass sie unter Umständen die Prinzessin eines unterirdischen Reiches sein könnte. Vor langer Zeit habe sie dieses Reich verlassen und in der Welt der Menschen ihre Herkunft vergessen. Seit Jahrhunderten warte ihr Vater, der König, auf ihre Rückkehr. Um aber herauszufinden, ob sie wirklich die verlorene Prinzessin sei, müsse sie erfolgreich drei Aufgaben lösen.

Ofelia im Horrorland: während im realen Leben der Stiefvater (grandios: Sergi López) barbarisch Aufständische foltern lässt und die schwangere Mutter zusehends verfällt, taucht das Mädchen in eine mystische Parallelwelt ab, in der sie Feen sorgenvoll begleiten und grässliche Monster ihren Mut auf eine harte Probe stellen. Nur die Haushälterin Mercedes (Maribel Verdu), die in Wirklichkeit für die Widerstandskämpfer arbeitet, steht Ofelia zur Seite, ohne allerdings ihr Geheimnis zu kennen, und nimmt es mit dem faschistischen Hauptmann auf.

Fiktive Welten und das Problem der Ambivalenz
Fiktive Geschichten im Kino sind in der Regel verständlich. Sonst fallen sie an der Kasse durch. Was im Einzelnen als „verständlich“ durchgeht, ist in der Regel dem Bestand an erlernten Kulturtechniken zu verdanken, die bei der Masse des Publikums vorhanden sein müssen. Schwierig wird es aber immer dann, wenn die Fiktion sich selbst bespiegelt, zum Beispiel in einer „Film-im-Film“-Konstruktion.

Generell haben es Fiktionen, die dem Realitätsprinzip folgen, deutlich einfacher, da die „fiktive Welt“ den Mustern der realen Welt nachempfunden ist. „Realistische“ Fiktionen besitzen einen hohen Akzeptanzgrad, da man über die fiktiven Geschehnisse und Figuren so reden kann, als wären sie real: z.B. über eine problematische Handlung mit der Aussage „So etwas hätte ich nie getan!“, oder über ein fiktives Liebespaar mit der Frage „Was wird nur aus den beiden?“. Dies ermöglicht Interpretationen und Deutung via Einfühlung und Psychologisierung. Und es funktioniert sogar in Sci-Fi-Epen wie „Star Wars“, weil die die Figuren psychologisch kaum anders gestrickt sind als der Zuschauer. Auch wenn Luke Skywalker in fernen Welten mit skurrilen Aliens kämpfen muss, geht es doch um Liebe, Treue und Freundschaft, der Verrat, Gier und Machtlust gegenüberstehen. Das versteht man. Also: „Realistisch“ bedeutet eben nicht immer „genaue Abbildung unserer eigenen Lebenswelt“, auch wenn dies einige Kinofreunde aus ideologischen Gründen glauben müssen oder wollen.

Wie problematisch komplexere Konstruktionen werden können, bewies andererseits vor etlichn Jahren der keineswegs über-intellektualisierte, aber raffinierte „Last Action Hero“ von John McTiernan mit Arnold Schwarzenegger in zwei Hauptrollen. Der „Film-in-Film“, der zudem auch noch zitatenreich war (Shakespeare! Ingmar Bergman!) fiel zunächst an der Kinokasse durch, mauserte sich aber im Laufe der Zeit zum Geheimtipp und stellte damit unter Beweis, dass intelligentere Konzepte auf Dauer durchaus vermittelbar sind.

In „Pans Labyrinth“ geht es aber nicht um fiktive Verdoppelungen oder Metalepsen, in denen fiktiven Figuren bewusst wird, dass sie fiktiv sind, sondern um die uneindeutige Zuordnung des Realitätscharakters zweier grundverschiedener Erzählebenen.
Würde man beispielsweise in „Pans Labyrinth“ die beiden Erzählebenen „Spanien 1944“/“Märchenwelt“ deutlicher voneinander trennen und Ofelias Visionen formal und ästhetisch als Traum darstellen, wäre die erste Erzählebene, die „reale“, vor der zweiten gerettet und wir hätten alle kein Problem. Aber tatsächlich durchdringen sich beide Welten, die eine scheint in das Geschehen der anderen einzugreifen und umgekehrt.
Diese Deutung erledigt sich allerdings in der Schlussszene, als klar wird, dass alles, was Ofelia sieht, von den anderen nicht gesehen wird: Vidal kann, bevor er das Mädchen erschießt, den Faun, mit dem Ofelia spricht, nicht sehen und dies macht deutlich, dass das Märchen nur in Ofelias Kopf existiert.
Gut, auch dies wäre nicht wirklich ein Problem und könnte bequem mit dem Begriff „Genre-Mix“ erledigt werden, aber das Deutungsangebot, dass die Märchenwelt nur in Ofelias Kopf existiert und als regressive Fluchthandlung notwendig geworden ist, um den Schrecken der Wirklichkeit zu entkommen, ist ambivalent, denn wenn Vidal den Faun nicht sehen kann, dann kann dies auch bedeuten, dass Ofelia mystische Fähigkeiten besitzt und die Märchenwelt ebenso real ist wie die Erzählebene „Spanien 1944“.

Aus meiner Sicht besteht das Problem einzig und allein darin, dass wir kulturtechnisch so konditioniert wurden, dass wir uns innerhalb von Fiktionen nur orientieren können, wenn die Erzählebenen eindeutig (und nicht ambivalent) sind und die Konventionen der Zuordnung stimmen. Ambivalenzen und Konventionsbrüche räumen dagegen einen zu großen Deutungsspielraum ein. Das schafft Probleme.

Guillermo del Toro hat sich meiner Meinung nach als auktorialer (allwissend, allmächtig) Erzähler die Freiheit genommen, seine Welt so zu arrangieren, wie es ihm gefällt. Dabei besteht das auktoriale Moment nicht in der Art, mit der ein Erzähler in das Innenleben seiner Figur eindringt und eingreift (wie wir es aus der Literatur kennen), sondern in der Souveränität, mit der del Toro ästhetisch und formal seine Erzählwelten arrangiert und dabei bei der Sprengung von Konventionen die Imaginationsfähigkeit des Zuschauers bis an die Grenze ausreizt oder im ungünstigsten Fall restlos überfordert.

Tja, und jetzt dürfte dem einen oder anderen endgültig der Hut hochgehen, denn die aus der Literatur bekannte Problematik der Erzählperspektive oder des Erzählers („wer erzählt wem und vor allen Dingen was?“) ist keineswegs einfach auf das Kino und seine Fiktionen zu übertragen, da der Gestus des „als ob“ in der Kinofiktion scheinbar stärker dem Realitätsprinzip verpflichtet ist und der Erzähler völlig verschwindet, es sei denn, er wird formal (z.B. im Off) integriert. In „Pans Labyrinth“ haben wir es jedoch mit einem Filmemacher zu tun, der sich die Freiheit der Fantasie nimmt und uns (in aller Freiheit) überlässt, ob wir den Film als spirituelle Erfahrung konsumieren oder anderweitig zu Tode deuten.

Die Innenwelt des Bösen
Ungeachtet dieser theoretischen Probleme ist „Pans Labyrinth“ einfach ein fantastischer Film, der sich dem Zuschauer auch emotional erschließen soll und kann. Die Reise eines jungen Mädchens in eine unbekannte, bedrohliche Gegend fernab der urbanen Zivilisation, der Schrecken des Krieges, der ungeliebte Stiefvater, die Begegnung mit Terror und Folter – angesichts dieser Erfahrungen ist die Flucht in eine Märchenwelt auch ohne literatur- und kinotheoretische Diskussionen nachvollziehbar. Dabei kann man sich auch ruhig seinen Gefühlen und seiner Phantasie überlassen.
All dies wird zudem noch in eine sinnliche, überbordenden Filmsprache übersetzt, die durch opulente Szenarios den Zuschauer unwiderstehlich in die magische Welt Ofelias hineinzieht, ohne ihn völlig von den Schrecken der Außenwelt zu entlasten.

Dass in der Welt der Faune die Grausamkeit im selben Maße zunimmt wie in der Außenwelt zeigt zudem, wie beide Welten sich in den Fluchtphantasien Ofelias bespiegeln. Besonders in dem Moment, als ihre Mutter bei der Geburt stirbt und sie ihren gerade geborenen Bruder dem Faun übergeben soll, nur um von ihm zu erfahren, dass der Säugling als letzter Teil der Prüfung rituell geopfert werden soll.

Bei all diesen Grausamkeiten gibt es nur einen kleinen Unterschied: die Schrecken der Märchenwelt spiegeln die kulturell codierten Grausamkeiten der Märchen und der Initiationsriten wider, die Perversionen eines Hauptmann Vidal jedoch sind Guillermo des Toros ureigene Auslotung einer nihilistischen Ideologie, die der Moderne ihre Todessehnsucht und Barbarei entgegenschleudert und gleichzeitig die kathartische Funktion der Mythen verloren hat. Letzteres bietet del Toro mit seinem scheinbar infantilen Filmschluss an, den man sorgfältig bedenken sollte, bevor man ihn als sentimentalen Kitsch in die Tonne tritt.

Melonie = 3, Mr. Mendez = 3,5, BigDoc = 2, Klawer = 2,5

Noch eine Bemerkung: „Pans Labyrinth“ gewann drei Oskars – den für die beste Kamera, einen für die beste Maske und noch einen für die beste Ausstattung. Mehr hatte die Jury sich und dem Film nicht zugetraut.
Die dieser Kritik zugrunde liegende „3-Disc Collector’s Edition“ gehört zum Besten, was derzeit auf dem Markt ist. Das sechsstündige Bonusmaterial erschöpft sich nicht in den üblichen Making Of’s und Featurettes, sondern bietet klärende Dokumentationen und als Einführung in das mexikanische Kino ein cineastisch spektakuläres Studiogespräch zwischen Charlie Rose, Guillermo del Toro, Alejandro González Iñárritu und Alfonso Cuarón an. Und das wiederum ist schon fast alleine das Geld für das 3er-Set wert.