Freitag, 4. September 2009

Der diskrete Charme der Bourgeoisie

Herausragende DVD-Edition
Die Editoren der KINOWELT geben sich mit ihren ARTHAUS-Editionen sehr viel Mühe. Vom Filmklassiker bis zum Dogma-Kino, von Dreyer bis Wong-Kar-Wai: Cinephile kommen auf ihre Kosten, vorbei auch in technischer Hinsicht Kosten und Mühen nicht gescheut werden. Ein gutes Beispiel ist die Neuauflage des Buñuel-Klassikers „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“, der exzellent gemastert auf DVD vorliegt und mit atemberaubenden Boni ausgestattet wurde.
Ich frage mich: Wer soll sich das anschauen?

Es fehlt uns die Sprache, deshalb haben wir Begriffe
Luis Buñuel und sein langjähriger Co-Autor Jean-Claude Carrière brüten im Café und suchen verzweifelt nach einer neuen Filmidee. Der Produzent sitzt ihnen im Nacken und will etwas Handfestes. Ideen werden durchgespielt und verworfen. Ein Zufall hilft, als ihnen eine Geschichte erzählt wird, die sich tatsächlich so zugetragen hat: gemeinsame Freunde laden zwei Brasilianer zum Essen ein, doch die Geladenen erscheinen einen Tag zu früh, die Gastgeber sind perplex und nicht vorbereitet. Das gemeinsame Essen scheitert.
Bingo! Die erste Szene des Films steht und nun muss die Geschichte 'nur noch' weiterentwickelt werden. Wie in einem Running Gag werden sich in Buñuels Film die getriebenen Mitglieder der Obersicht immer wieder zum Essen verabreden und immer wieder wird alles scheitern, verwoben mit Traumsequenzen, die den Bezug von Fiktion und Realität so auseinandersprengen, dass man am Ende nicht mehr weiß, was man überhaupt sieht.

Als das Script steht, müssen Buñuel und Carrière dem Kind noch einen Namen geben. Wie es sich für guten Surrealisten gehört, soll der Titel a posteriori dem Ganzen eine Deutungsebene geben, die bei der Stoffentwicklung noch nicht erkennbar war. Man schlägt sich gegenseitig einiges vor, aber nur Buñuels „Der Charme der Bourgeoisie“ hält der Prüfung stand. Rund ist das noch nicht, aber Carrière hat die rettende Idee: ein Adjektiv muss her! Man stellt eine Liste zusammen und hat zweifellos viele nette Ideen, aber am Ende bleibt nur das Wörtchen „diskret“ übrig.
Ist das alles? Eine Ausgangsszene suchen und dann einfach erzählen, was einem gerade so einfällt. Und ganz zum Schluss als Taschenspieltrick und Dreingabe der Titel als Bedeutungsgenerator?
Tagträumend begebe ich mich in meine Schulzeit, in der mir eingehämmert wurde, dass Kunst tiefe Wahrheiten in unsere Wahrnehmung befördert, dass die Werke allerdings einer korrekten Deutung bedürfen, um erkennbar zu werden. Alles andere fällt hintenüber, ausgesondert als unzulässiges Phantasiematerial.
Bis zum Erbrechen von der hermeneutischen Deutungslehre oder den positivistischen Puzzelspielereien durchsozialisiert, suchen unsere malträtierten Hirne seither bis ans Lebensende nach dem Schlüssel für die Rätsel der Kunst.
Und was passiert, wenn wir ihn gefunden haben?

Was soll’s. Buñuel ist sowieso vergessen. Vermutlich.
Ich habe schon mächtig gestaunt, als neulich zu nachtschlafender Zeit das „Gespenst der Freiheit“ im TV wiederholt wurde. In den 70er Jahren gab es, falls ich mich recht entsinne, mal eine Buñuel-Schwemme im TV und einige seiner schönsten Arbeiten wurden so zugänglich. Keine Ahnung, ob sie damals gekürzt wurden. In den 50er Jahren hat man ja im TV alles Surrealistische rausgeschnitten. Da wir in der Post-Post-Moderne alle viel cooler sind, wäre es spannend, wenn man L'Âge d'Or zur Hauptsendezeit zu sehen bekäme. Die Zeit ist reif. Das Aufführungsverbot von Buñuels zweitem Film wurde schließlich 1981 aufgehoben.

Wanderungen
Die Widerbegegnung mit „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ war nach fast 35 Jahren zunächst eine kleine Enttäuschung. Irgendwie war mir Buñuels Film viel radikaler im Gedächtnis geblieben. Man hat mittlerweile so viele Attacken auf’s frivole Bürgertum gesehen, dass man alle Spielarten durchgenommen hat. „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ wirkt in seiner ruhigen und sorgfältigen Erzählweise dagegen geradezu unpathetisch, erst Recht, wenn man sich direkt davor „Magnolia“ angeschaut hat. Böser Vergleich.

Vielleicht musste ich erst eine Kurve machen, etwas durch die Lebens-, Traum- und Kinolandschaft wandern. Da hilft einem die KINOWELT weiter. Auf der Bonus-DVD findet man einen wunderbaren Film: „Das letzte Drehbuch – Erinnerungen an Luis Buñuel“ (El último guión - Buñuel en la memoria). Der Dokumentarfilm von Javier Espada und Gaizka Urresti (Spanien/Frankreich/Deutschland 2008, 94 Minuten) ist besser als der Hauptfilm oder anders gesagt: man sollte sich diese ungewöhnliche Wanderung anschauen, bevor man sich „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ anschaut.
„Das letzte Drehbuch“ wurde bereits anlässlich des 25. Todestages Luis Buñuels (29. Juli 1983) von 3sat gezeigt. Zusammen mit zwei Vertrauten des Regisseurs, dem Drehbuchautor und langjährige Mitarbeiter Jean-Claude Carrière und Buñuels Sohn, dem Filmemacher Juan Luis Buñuel, durchwandert man die Lebensstationen Luis Buñuels in Spanien (Calanda, Zaragoza, Toledo und Madrid), Frankreich, Mexiko und den USA. Zunächst wirkt das im Stile eines Video-Tagebuchs gedrehte Abschreiten irgendwie versponnen und nostalgisch, dann schält sich immer mehr das heraus, was Buñuels Leben und seine Filme ausmacht: die enge Freundschaft mit Künstlern und Literaten wie García Lorca und Salvatore Dali (der Buñuel später in den USA als Kommunist anschwärzen sollte und jawohl, es wurde in diesem elitären Freundeskreis gesoffen), die ambivalente Beziehung der Spanier zum Tod, die Architektur der Städte, frühe Kinoerfahrungen wie Fritz Langs „Der müde Tod“, der Geist des Surrealismus und die Lust am Kino und am Fabulieren, die Buñuel eigentlich nur dann leben ließ, wenn er einen Film drehen durfte.
Anschließend weiß man, warum es absurd ist, Buñuels Traumlandschaften in „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ in dem bedeutungsgeladenen Begriff „Satire“ einzufrieren.

Vom ungelösten Geheimnis
Vielen Menschen ist die Fähigkeit, sich über Filme zu freuen, völlig abhanden gekommen. Erst werden sie durch das Erwachsenwerden zugerichtet und schämen sich über die Filme, von denen sie als Kinder begeistert waren, dann werden durch ihren Beruf endgültig ihrer Phantasie beraubt.
Besonders Freunde, die in technischen Berufen arbeiten, können einen in die Verzweifelung treiben. In einer Welt, in der alles funktionieren muss, hat das Objekt keine obskuren Eigenschaften, sondern muss einen klaren Zweck haben, der gleichzeitig auch Sinn ist. Eine unheilige Beziehung.
„Was hat dieser Film zu bedeuten?“, fragen sie mit leuchtenden Augen, was immerhin andeutet, dass irgendetwas sie berührt hat.
Normalerweise beantworte ich solche Fragen nicht.

Machen wir eine Ausnahme: „Buñuel zeigt uns, dass das, was wir im Kino in unseren Köpfen zusammensetzen, auf Gewohnheiten basiert. Deshalb infiltrieren Träume den Film solange, bis man die fiktive Realität nicht mehr von den Träumen der Figuren unterscheiden kann. Würden wir erkennen, wie sehr uns unsere Träume im Leben verfolgen, dann würden wir auch erkennen, wie brüchig unser Konzept von Wirklichkeit ist!“
Enttäuschung auf dem Gesicht des Angesprochenen. „Das ist alles? Mehr ist in dem Film nicht drin?“.
Da haben wir es: kaum haben sie ihre Bedeutung, wollen sie schleunigst das Geheimnis zurück.

Epilog
Wenn man in „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ jene sinnlose Szene sieht, in der die Protagonisten über eine Landstraße marschieren, eine Szene, die so sinnlos ist, dass sie sich jeder vernünftigen Deutung widersetzt, sträuben sich bei den Meisten die Nackenhaare.
Luc Lagier hat einen kleinen Film gemacht, der mit dieser Szene beginnt. Eine wirklich diskrete und luzide Deutung: „Ein Spaziergang unter Schatten“ (2005). Die KINOWELT hat Lagiers Film zum Glück mit auf die Bonus-DVD gepackt. Lagier, der übrigens ein bekannter Spezialist für die Zusammenstellung von Bonusmaterial ist, entfaltet ein Deutungspanorama, das nach 28 Minuten erneut auf der erwähnten Landstrasse landet. Nichts ist wahr daran und alles ist richtig. Die Phantasielosen haben endlich ihre Deutung, alle anderen dürfen sich ans Werk machen und sich selbst etwas ausdenken. Ich glaube, das würde Luis Buñuel noch im Grab begeistern.

(Zu empfehlen ist http://www.kunst-der-vermittlung.de/artikel/luc-lagier-ueber-dvd-boni/. Der kleine Text von Lagier über die Gepflogenheiten beim Zusammenstellung von Bonus-Disks ist sehr witzig).