Samstag, 1. Juni 2013

Klein, aber fein: „Die Verschwörung“ und „God Bless America“

Die Verschwörung

GB 2011, Originaltitel: Page Eight, R,: David Hare, D.: Bill Nighy, Rachel Weisz, Ralph Fiennes, Michael Gambon, Laufzeit: 99 Minuten, Altersfreigabe: ab 16 Jahren.

Ein Film, in dem die Protagonisten die ganze Zeit in irgendwelchen Zimmern herumsitzen und kaum etwas anderes tun, als miteinander zu reden, ist natürlich Kassengift. Es war daher eine kluge Entscheidung, die bei den 2011 Satellite Awards mehrfach nominierte BBC-Produktion „Page Eight“ gleich in die Direct-to-DVD-Vermarktung abzuschieben. Dort werden nichtsahnende Konsumenten den Film vermutlich nach einer Viertelstunde entsetzt aus ihrem DVD-Player reißen, denn mit James Bond hat er, wie das Cover andeutet, nun wirklich nichts zu tun. Über 90 Minuten wird lang nur geredet, aber wie!

Agenten-Thriller als moralisches Kammerspiel

Der kammerspielartige Geheimdienst-Thriller beginnt entsprechend verhalten. Johnny Worricker (Bill Nighy), ein MI5-Routinier im Pensionsalter, erfährt von seinem Chef Benedict Baron (Michael Gambon) von der Existenz eines brisanten Dossiers, das genug Stoff bietet, um die nationale Sicherheit zu gefährden. Während einer Konferenz mit der Innenministerin (Saskia Reeves) präsentiert MI5-Director Gambon das Paper genüsslich seiner Vorgesetzten, dann liefert Worricker den eigentlichen Clou: auf der ominösen Seite Acht des Dossiers verrät eine Randnotiz, dass der britische Premierminister (Ralph Fiennes) Kenntnis davon hat, an welchen Orten US-Dienste heimlich Terrorverdächtige festhalten und foltern. Von den gewonnenen Kenntnissen und damit auch den Namen der Terroristen, die auf englischen Boden operieren, wurde das MI5 allerdings nicht informiert: ein schwerer Schlag für die inländische Anti-Terror-Abwehr und die politische Moral. Denn so etwas ist nur peinlich, „wenn die Öffentlichkeit davon erfährt“, erfahren Gambon und Worricker.

Dass Page Eight ein politischer Thriller ist, aber ein moralischer dazu, muss nicht betont werden. Die Bezüge zur jüngeren Geschichte sind offenkundig. Aber im Gegensatz zu klassischen Paranoia-Filmen, die ihre Probleme in der Regel gewalttätig lösen, wird in David Hares Filme nicht gerannt und geschossen, sondern mit der rhetorischen Klinge gefochten. Es ist ziemlich vergnüglich, den Damen und Herren der gebildeten britischen Oberschicht dabei zuzuhören, wie sie mit Understatement und Noblesse ihre sprachlichen Klingen in die Gegner treiben und dabei schwere Verletzungen hinterlassen.

Überragend: Bill Nighy, ein möglicherweise nicht allen bekannter, aber ausgesprochen exzellenter Mime (The Best Exotic Marigold Hotel). Als Johnny Worricker ist er ein Anti-Bond par excellence, cool dank guter Manieren, professionell und verschwiegen. Ein Analyst mit Erfahrung, der bald weiß, was die Stunde geschlagen hat. Gleich zu Beginn lernt Worricker seine Nachbarin Nancy Pierpan (Rachel Weisz, The Bourne Legacy) kennen, eine politische Aktivistin, deren Bruder während einer politischen Demonstration von der israelischen Armee getötet wurde – ein Mord, wie sich herausstellt, der auch mithilfe der Briten vertuscht wurde. Worricker fühlt sich hingezogen, lässt Nancy aber trotzdem abhören – eine gewöhnungsbedürftige Grundlage für eine charmante, platonische Romanze. 
Es ist einer der stärksten Momente des Film, wenn der Jazzfan Worricker mit exquisitem Einfühlungsvermögen Nancy ein altes Video mit Billie Holiday und Lester Young vorführt und erklärt, warum Holidays Mimik verrät, dass sie auf den Saxofonisten scharf ist, aber deshalb noch lange nicht ihren Einsatz verpasst. 
So kann man sich auch mitteilen. Das ist sophisticated, und zwar in Vollendung. Man muss so etwas schon mögen, um an diesem kleinen, feinen Film Freude zu haben.

Die Nebenhandlung in „Page Eight“ ist aber trotz des Einblicks in Worrickers diskrete Gefühlswelt und in die komplizierte Beziehung zu seiner Tochter kein überflüssiges Beiwerk, sondern wird bald zu einem Teil der clever arrangierten Verschwörung. Der Film hält nämlich, was der Titel verspricht: „Page Eight“ ist ein Thriller in bester John le Carrè-Tradition.
Die Themen werden von David Hare (Wetherby), der auch das Buch geschrieben hat, finessenreich durchdekliniert: Loyalität und Patriotismus, die zynische Anpassungsfähigkeit einer neuen Generation von Politikern. Vater-Tochter-Konflikte. Ein wenig Altersliebe. Die Politiker arbeiten gegen die Dienste, es gibt Verschwörungen und eine Schattenwelt innerhalb des MI5, kalt arrangierte Karriere-Interessen und eine tiefe Amoralität unter den Intriganten, die vor allen Dingen die Geheimdienst-Fossile Gambon und Worricker angeekelt und fast hilflos zur Kenntnis nehmen müssen. Während private Beziehungen ein wenig „susceptible“, also anfällig bleiben, sind sie in der Politik völlig ruiniert.

Wunderbarer Schauspielerfilm

Als Worrickers Freund Gambon plötzlich einem Herzinfarkt erliegt, taucht Worricker mit dem Dossier unter. Der Besitz des Dossiers ist lebensgefährlich und die Kenntnisse, die der alternde Agent nun besitzt, können innerhalb des Apparats nicht mehr gegen die Mächtigen eingesetzt werden. Worricker wird dies während seiner ersten und letzten Begegnung mit dem Premierminister klar: in England ist er nicht mehr sicher. Dass es Worricker am Ende dennoch gelingt, einen cleveren Deal auszuhandeln, bei dem auch der Mord an Nancys Bruder öffentlich gemacht wird, ist allerdings nicht die Schlusspointe. Die hat etwas mit einem Abfalleimer zu tun.
Page Eight ist abgesehen von seinen beißenden politischen Kommentaren ein wunderbarer Schauspielerfilm: Bill Nighy hat einfach Klasse, Rachel Weisz spielt beeindruckend eine Frau mit undurchsichtigen Geheimnissen und dem Herz am rechten Fleck, Ralph Fiennes brilliert in einem Kurzauftritt als moralisch durch und durch verkommener ‚Landesvater’: Vertrauen ist verdächtig im Mutterland der Demokratie und ein repressiver Überwachungsstaat, der Folter für legitim hält, ist im Zweifelsfall wichtiger als die Freiheitsrechte, die er doch angeblich verteidigen will.
Dass all dies in „Page Eight“ nicht schwer und geschwätzig vorgetragen wird, sondern sich als moralisches Dilemma in den Hauptfiguren bis ins Private sehr authentisch widerspiegelt, macht den Film zu einem intelligenten, eleganten und überdies vorzüglich fotografierten Vergnügen. Ein Dialogfilm, in dem die Finessen des Plots sich mit unaufdringlicher, aber konsequenter Folgerichtigkeit entwickeln. Dass das Happy-End am Ende ebenfalls ganz subtil angedeutet wird, überrascht auch nicht wirklich. Page Eight ist einer der unterhaltsamsten Filme, die ich in diesem Jahr gesehen habe.

Noten: BigDoc = 1, Klawer = 2, Melonie, Mr. Mendez = 3


God Bless America

USA 2011, Originaltitel: God Bless America, R,: Bobcat Goldthwait , D.: Joel Murray, Tara Lynne Bar, Laufzeit: 105 Minuten, FSK: ab 16 Jahren.
 

God bless America, Land that I love.
Stand beside her, and guide her
Through the night with a light from above.

Dass Frank Murdoch (Joel Murray) das nicht mehr hören mag, hat seine Gründe. Der Versicherungsangestellte in den mittleren Jahren lebt allein, seine Frau hat ihn verlassen, die achtjährige Tochter ist eine skrupellose Nervensäge und Franks Nachbarn sind der reine Trash. Während Frank mit Migräne im Bett liegt, lärmen sie rücksichtslos in ihren vier Wänden und ihr Säugling kreischt wie eine schlecht geölte Kettensäge. Da träumt man schon mal davon, einfach sein Pumpgun zu nehmen, nach nebenan zu marschieren, den Familienvater mit Schrot abzufüllen und anschließend den plärrenden Nachwuchs der Mutter zu Mus zu schießen.Natürlich zeigt die 2011 produzierte und nun auf dem deutschen Videomarkt angekommene Splatter-Satire God Bless America mit naturalistischer Konsequenz sogleich die Umsetzung von Franks Traum.

Ein Mann am Rande des Nervenzusammenbruchs

Regisseur Bobcat Goldthwait ist in der 1980er Jahren als Stand-up-Comedian bekannt geworden. In seiner ellenlangen Filmografie befinden sich eigentlich keine Perlen der amerikanischen Filmgeschichte, aber in God Bless America schafft er es, den geschmacklich fragwürdigen Fantasien eines genervten Mannes einen kulturkritischen Impetus zu verleihen. Denn bei der Fantasie bleibt es nicht lange. Zuvor müssen sich die Zuschauer zusammen mit dem Helden am Rande Nervenzusammenbruchs auf einen Höllentrip durch eine wahnwitzige Medienkultur begeben, die weißgott kein Privileg von God’s own country, sondern bereits auch in Europa angekommen ist: in Italien strippten im TV vor Dekaden die Hausfrauen, andere zivilisierte Länder haben ihr Dschungelcamp und eklige Reality Shows, Frank dagegen zappt sich durch Shows wie Tuff Gurlz, wo sich intelligenzfreie Zicken ihre Tampons ins Gesicht werfen, oder Lächerlichkeiten wie American Superstarz, wo ein vermeintlich grenzdebiler und grantiert talentfreier Jugendlicher erst zum Clown gemacht und dann zum Star aufgebaut wird. Auch Talk- und Politshows, die Barack Obama als jüdisch-muslimischen Nazi mit Hitlerbärtchen verkaufen, können Franks Laune nicht aufbessern. Dieses Land ist eine einzige Horror-Show und er hasst es aus ganzem Herzen. Als er zudem erfährt, dass ein Hirntumor sein Ende naherücken lässt, beschließt er, die Irren da draußen einfach abzuknallen: weg mit Tea-Party-Anhängern, die in aller Öffentlichkeit hilflose Parkinson-Erkrankte verprügeln, weg mit den religiösen Narren, die Plakate hochhalten, auf denen „Gott hasst Juden“ und „Gott liebt tote Soldaten“ steht.
Mit anderen Worten: in God Bless America lässt das Blutbad nicht lange auf sich warten.

Der Film funktioniert sogar ...

Über das Verhältnis von Satire und Gewalt lässt sich streiten. Über die globale Kulturindustrie schon weniger. Mit seriösem Realismus scheint aber schon längst kein Blumentopf mehr zu gewinnen sein, denn wir sind seit den 1990er Jahren von Quentin Tarantino und etlichen seiner Epigonen geduldig darin trainiert worden, dass man nur einem grellen Genre-Mix, cleveren Filmzitaten, endlosen Nonsense-Dialogen und cleveren Pulp-Allegorien die wahren Dimensionen des globalen Irrseins aufzeigen kann. Das ist nun mal die Post- und Pop-Moderne im Kino und da herrscht die Regel, dass Gewalt o.K. ist, wenn sie saukomisch zelebriert wird.
In God Bless America gibt es von diesen Zutaten etliche und offen gestanden: der Film funktioniert sogar. Goldthwait verzichtet clever darauf, die Story in einem ‚Hit and Run’ versanden zu lassen, Franks Rache wird vielmehr kalt serviert. Großen Anteil daran hat Joel Murray (The Artist, Mad Men, Two and a Half Men). Murray ist ein fantastischer Komiker, der nicht nur Franks Wut glaubhaft verkörpert, sondern auch in langen ideologiekritischen Monologen über den Verfall der Medienkultur und der gesellschaftlichen Moral seinen intellektuellen Mann steht. Natürlich versteht ihn im Büro keiner und dass er zu einer schüchternen Kollegin höflich gewesen ist, wird im Land der Political Correctness sofort mit der Kündigung wegen sexueller Belästigung quittiert.
Aber es sind die fast monotonen, unaufdringlichen Analysen der kulturellen Verfasstheit seines Landes, die aus Frank mehr als nur einen schießwütigen Vigilanten machen.
Sie stimmen leider.
Um Frank also möglichst ausführlich dozieren zu lassen, bekommt er einen Sidekick. Roxanne “Roxy“ Harmon (Tara Lynne Bar, The Bold and the Beautiful) ist ein Girl mit deutlich manisch-depressiven Zügen, das von Frank völlig begeistert ist, nachdem dieser einer zickigen Klassenkameradin den Garaus bereitet hat. Sozusagen als Stand-alone-Groupie hält sie Frank vom Selbstmord ab und überzeugt ihn davon, dass er zum Leitwolf einer landesweiten Bewegung werde könne, wenn er nur weiterhin alle nervigen Quälgeister abknallt. Und so ziehen Frank und Roxy wie Bonnie und Clyde fortan durchs Land und räumen auf, während Frank sorgsam darauf achtet, dass sich zwischen ihnen in den Pausen zwischen den endlosen Morden keine erotischen Avancen entwickeln können. Frank ist schließlich kein Pädophiler!

...zielt aber eher auf den Bauch!

Bobcat Goldthwait ist kein intellektueller Filmemacher. Anders als in Andrew Dominiks Killing Them Softly, der das Amerika in der Endphase der Bush-Administration als schmutzige Industriebrache zeigt, in der Killer in ebenfalls endlosen, aber auch banalen Dialogen ihr Tagesgeschäft organisieren, ist Goldthwait nicht analytisch. Während bei Dominik im Hintergrund ständig das TV läuft und das endlose Gerede von Bush, McCain und Obama dem Zuschauer klarmachen sollen, dass man das Salbadern der Krisenmanager nach dem Beginn der Finanzkrise ziemlich gut mit der Verfasstheit der lokalen Mafia vergleichen kann, will Goldthwait einfach nur die Sau rauslassen. Sein Held ist ein gebildeter Vigilant, dessen rabenschwarzer Nihilismus nicht einmal unsympathisch wirkt, wenn er in einem Kino einen Haufen Teenager abschlachtet, die während eines Dokumentarfilms über My Lai feixen und pöbeln. Hat man sich so was nicht auch schon einmal heimlich gewünscht? Immerhin bedankt Frank sich ja bei der einzigen Überlebenden dafür, dass sie ruhig war und während der Vorführung ihr Handy ausgeschaltet hat.
 

Am Ende ist alles wie in „Bonnie and Clyde“ oder „Butch Cassidy and the Sundance Kid“. Bobcat Goldthwait hat seine Schlüsselidee - zugegeben mit viel Raffinesse - umgesetzt, aber doch wohl nur auf den Bauch und die Instinkte der Zuschauer abgezielt. In Wirklichkeit ist Frank nur ein Spießer mit Kopfschmerzen, der glaubt, ein Serienkiller mit moralischen Ambitionen zu sein. Wenn wir mit Frank gehässig lachen, dann sind wir schon ein Teil des Irrsinns geworden. Warum hat man dann aber verdammt noch mal ständig das Gefühl, das God Bless America trotzdem den Nerv trifft?

Noten: Mr. Mendez, Melonie = 1, BigDoc, Klawer = 2