Dienstag, 9. August 2016

Die Schüler der Madame Anne

Was mit einem pädagogischen Experiment für prekäre Schüler beginnt, endet mit einem grandiosen Erfolg: Die Schüler eines französischen Gymnasiums, allesamt auf dem Weg zum Bildungsverlierer, gewinnen den 1. Preis in einem Schulwettbewerb. Das Thema: Holocaust. Und alle Kids, die glaubten, nichts dazu sagen zu können, stellen fest, dass sie eine Menge berichten können.

Engagierter Trainer übernimmt ein Sportteam voller Loser, impft den Widerspenstigen nach vielen Mühen endlich Courage ein und macht sie zu Siegern.
Das ist die Erfolgsformel vieler US-Sportfilme, zuletzt hat es Niki Caro in „City of McFarland“ (2015) mit ihrem Hauptdarsteller Kevin Costner erstaunlich überzeugend vorgeführt. Und genauso funktioniert auch „Die Schüler der Madame Anne“ über weite Strecken. In dem Film der Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar (
„Willkommen in der Bretagne“, 2012) steht die Lehrerin Anne Guegen (Arian Ascaride) an vorderster Front. Ihre neue 11. Klasse steht zwei Jahre vor dem Abitur, präsentiert sich aber überwiegend desinteressiert und gehört zu den schwächsten des Leon Blum-Gymnasiums. Zerfallen in disparate Gruppen, mit Schülern aus unterschiedlichen Ethnien und Religionen, sind die Lustlosen nicht ansprechbar, hören Musik oder spielen mit dem Smartphone. Ausgerechnet diesen Verlierern aus einem Pariser Vorort schlägt die neue Klassenlehrerin vor, sich an einem nationalen Schulwettbewerb zu beteiligen. Das Thema lautet: "Les enfants et les adolescents dans le système concentrationnaire nazi" (Kinder und Jugendliche in den Konzentrationslagern der Nazis). Wie soll das gehen?

Formelhaft, unglaubwürdig, gibt’s nicht – geht nicht! So in etwa dürfte man nach kurzem Nachdenken reagieren, wenn man mit der Synopsis des Films konfrontiert wird. Was aber „City of McFarland“ und „Die Schüler der Madame Anne“ gemeinsam haben, ist, dass beide Filme auf authentischen Vorbildern basieren. In dem französischen Schulfilm wurde das Sujet aber nicht von einem professionellen Drehbuchschreiber adaptiert. Ahmed Dramé heißt der Scriptwriter und er ist einer der Schüler, die 2009 in realita von ihrer Lehrerin Anne Anglès auf den Wettbewerb vorbereitet wurden – und gewannen. Ahmed Dramé spielt in „Die Schüler der Madame Anne“ die Rolle des Malik, für die er 2015 beim César, dem nationalen Filmpreis Frankreichs, als Vielversprechendster Schauspieler nominiert wurde. Macht das aber aus einem Film auch einen guten Film, nur weil alles „in echt“ so passiert ist?


Praxisorientierte Scriptentwicklung

Vor sieben Jahren entstand meine Kritik des französischen Schulfilms „Die Klasse“, der 2008 die Goldene Palme bei den 61. Filmfestspielen von Cannes erhielt und quasi vom Kollaps des französischen Bildungssystems erzählte, zumindest dort, wo multi-ethnische Schüler aus dem sozialen Prekariat die Mehrheit in einer Klasse bilden. Regisseur Laurent Cantet erarbeitete damals mit echten Schülern das dramaturgische Konzept. In Marie-Castille Mention-Schaars Film verkörpern dagegen professionelle Schauspieler die Schüler. Auch Ahmed Dramé gehört dazu.

Eine Debatte über Authentizität, aber auch über Realismus und Fiktion, ist jedoch überflüssig, und das liegt daran, dass Mention-Schaars Film aufgrund der praxisorientierten Scriptentwicklung eine hohe Glaubwürdigkeit besitzt. Der Film scheitert auch nicht am erzählerischen Spagat, den er bewältigen will: Es geht nämlich nicht nur um die Nacherzählung eines pädagogischen Feldversuches, sondern auch um eine Neuausrichtung des Narrativs, angeschoben durch das Projektthema. Spätestens nach einer Dreiviertelstunde ist nicht nur die Beschäftigung mit dem Holocaust das zentrale Thema, sondern immer mehr wird es der Holocaust selbst. Also etwas, was mit dem in der Klasse latenten Rassismus und einigen religiösen Bevormundungen in einen inneren Dialog tritt. Das Thema Holocaust wird zwar nicht wichtiger als die Schüler, die sich mit ihm beschäftigen, aber es erklärt auch die Zurückhaltung des Films bei der Einarbeitung von Backstorys: die soziale Realität jenseits der Schulmauern wird nur gestreift, aber auch nicht gänzlich unterschlagen.
Im Vordergrund stehen vielmehr die dynamischen Gruppenprozesse in der Klasse, in denen die Konkurrenz um die besten Vorschläge langsam einer gelungenen Kooperation Platz macht. Auch um den Preis, dass frustrierte Schüler das Projekt verlassen. „Die Schüler der Madame Anne“ zeigt, wie alle Fortschritte machen und mit unterschiedlichen Ansätzen und Ideen geeignetes Material und Informationen zusammentragen, um ihren Bericht zu verfassen. Diese neue Fokussierung wird durchaus überzeugend bewältigt. Zudem ist es gerade dies, was Geschichtsdidaktiker immer stärker einfordern: Quellen mit eigener Herangehensweise zum Sprechen zu bringen, und zwar anstatt des für deutsche Schulklassen obligatorischen Gedenkstätten-Hoppings. Dies gelingt, weil der Film den Prozess des sozialen, historischen und emotionalen Lernens rekonstruiert, ohne ihn restlos erklären zu können.


Entdeckung der Fakten. Es folgt die Empathie.

Also müssen die Schüler, die sich selbst als sprachlos erleben, Schritt für Schritt lernen, dass man Dokumente suchen und zusammentragen muss. Dass man bedrucktes Papier, die sogenannten Bücher, lesen kann, um die Stimmen der Opfer kennenzulernen. Zum Beispiel „Das Tagebuch des Anne Frank“. Oder dass sogar ein Comic, der das Innere einer Gaskammer mit vielen toten Juden zeigt, deswegen so interessant ist, weil die Toten alle bekleidet sind. Der Zeichner, konstatiert ein Schüler, habe wohl auf die Nacktheit verzichtet, um den Opfern seine Würde zurückzugeben.

Mention-Schaar und ihrem Autor und Hauptdarsteller gelingt es, diesen Prozess der Fakten- und Selbstfindung als Entdeckung von Empathie abzubilden. Man kann lange darüber sinnieren, ob es für Empathie einen magic moment gibt oder nicht. Der Film hat diesen magischen Moment, nämlich als Léon Zyguel die Klasse besucht. Der 87-jährige Zyguel überlebte als Kind polnischer Juden, die nach Paris emigriert waren, sowohl Auschwitz als auch Buchenwald und besuchte nach Kriegsende als Zeitzeuge immer wieder Schulen, um seine Erfahrungen zu schildern. Léon Zyguel, der kurz nach den Dreharbeiten starb, wird nicht von einem Schauspieler verkörpert, sondern spielt sich selbst. Der Klasse und somit auch den Darstellern erzählt er von den Qualen und den verzweifelten Versuchen eines 15-Jährigen, im KZ angesichts des Todes Widerstand zu leisten und Überlebensstrategien zu entwickeln. „Es war ehrlich gesagt ein Albtraum, das kürzen zu müssen“, so Marie-Castille Mention-Schaar.

Und so wurde während der Dreharbeiten die Begegnung mit Zyguel ein Schlüsselmoment. Ahmed Dramé resümierte: „Das Wichtigste an dieser Begegnung mit Léon ist, dass sie einen wirklichen Wendepunkt in dem Projekt darstellt, also es gibt sozusagen das Projekt vor und nach Léon. Das hat wirklich ganz viel ins Rollen gebracht, es ist ganz anders weitergegangen und es hat ihm einen Schwung gegeben. Man merkt, dass wir durch die Begegnung mit ihm viel weiter gekommen sind. Und auch für den Film war das wichtig. Diese Sequenz ist ja ganz überraschend zustande gekommen. Die Schauspieler haben auf ihn reagiert wie eine Schülergruppe, die zum ersten Mal auf ihn trifft. So wie er vor den Schülergruppen spricht, denen er sein Wissen weitergibt, so hat er auch mit den Schauspielern gesprochen. Das waren sozusagen spontane Reaktionen. Und das hat auch in den Schauspielern etwas ausgelöst. Alle Mitglieder des Filmteams hatten nach diesem Zusammentreffen eine noch größere Motivation als am Anfang des Films.“


Kritiker mögen kein gutes Ende – das Thema ist zu ernst

„Les héritiers“, der Originaltitel des Films, bedeutet auf Deutsch „Die Erben“. Von der französischen Kritik wurde der Film nicht gerade wohlwollend aufgenommen (Le Monde: „Akkumulation von Klischees“). Auch die deutsche Kritik (Deutschlandfunk: „Feel-Good-Movie“) reibt sich an dem Film. So vermisst epd-film den sozialen Kontext („Die Zeichnung der multiethnischen Jugendlichen entspricht den üblichen Stereotypen“) und bezeichnet den didaktischen Impetus als „kurzsichtig und geradezu falsch“: „...selbst der Auftritt des Holocaust-Zeitzeugen Léon Zyguel ist vor allem auf den emotionalisierend-didaktischen Effekt hin inszeniert: Brachten die rotzfrechen Schüler zu Beginn eine Lehrerin zum Weinen, werden sie nun von Zyguels Erzählungen selbst zu Tränen gerührt.“

Ganz beiseite zu schieben ist die Kritik nicht, auch wenn der epd-Kritiker handwerklich nicht imstande war, das Thema des Schülerprojektes richtig zu zitieren. Der Film hat kleine Schwächen, die Tränen sind es nicht. Zum Heulen ist vielmehr, dass ein deutsches Oberlandesgericht unlängst einen bekennenden Nazi vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen hat, weil dieser den Holocaust lediglich in Gedichten geleugnet und als „Märchen“ bezeichnet hatte. Er sei wohl eher an einer literaturtheoretischen Debatte interessiert gewesen, so die deutschen Richter. Die „Frankfurter Allgemeine“ bezeichnete dieses Urteil handwerklich und moralisch als Skandal.
Konsequent betrachtet, gehört dieses tagesaktuelle Wissen auch in den sozialen Kontext – erst recht in den einer Filmkritik. Es sei denn, man lebt im Elfenbeinturm. Und tatsächlich gestatten sich Filmwissenschaftler und -kritiker im Moment eine elaborierte Debatte darüber, ob überhaupt und wenn ja, mit welchen ästhetischen Mitteln der Holocaust dargestellt werden kann. Soll die Musik diegetischer oder nichtdiegetischer Natur sein? Farbe oder Schwarz-Weiß? 

Dabei hat vor vier Jahren eine Untersuchung der FU Berlin ergeben, dass das historische Wissen von Schülern geradezu beängstigend miserabel ist. Nur jedem Zweiten war geläufig, dass das „Dritte Reich“ eine Diktatur war. Dabei waren die Schüler nicht etwa NS-affin, sondern kannten überhaupt nicht mehr den semantischen Gehalt der abgefragten Begriffe. Vor diesem ‚status nascendi’ einer neuen Blödigkeit scheinen mir ästhetische Diskurse zwar nicht illegitim zu sein, aber überflüssig. Mit dem dramatischen Wissensschwund korreliert die Kritiker-Wahrnehmung von Tränen als emotionalisierend-didaktischem Effekt auf famose Weise, härten sich beide Seiten auf ganz eigene Weise ab.

Natürlich bedeutet dies nicht, dass jeder Film, in dem der Holocaust thematisiert wird, einen künstlerischen Freifahrtschein erhält. „Die Schüler der Madame Anne“ hat vermeidbare Schwächen, es wäre unsinnig dies zu leugnen. So ist die Musik des italienischen Komponisten Ludovico Einaudi und ihr permanentes Underscoring ein kompletter ästhetischer Fehlschlag: wann immer bei den Schülern Empathie aufkommt, klimpert das Klavier. Auch die leicht angekitschte finale Ehrung der Schulklasse mitsamt ihrer pathetischen Reden sorgt zwar für emotionale Entspannung, hätte aber einen besseren Platz im Abspann gefunden. Manchmal bewirkt einer harter Cut als Filmende wahre Wunder.

Aber glaubt man Ahmed Dramé, so hat fast jeder aus der Loser-Klasse seinen Weg gefunden, eben auch wegen der gemeinsamen Projekterfahrungen. Klar, das lässt sich mit etwas Chuzpe und einem Schuss Coolness ignorieren. Sollte man aber nicht, denn diese Geschichte gehört halt auch zum „sozialen Kontext“. Zynisch ist es allerdings, wenn Kritiker laut nach Laurent Cantets knallhartem Film „Die Klasse“ rufen, weil der Sieg der Loser-Klasse von Madame Anne einfach zu schön ist, um wahr zu sein. Auch wenn alles tatsächlich so passiert ist.

Der sehr empfehlenswerte Film ist seit Juni 2016 auf Bluray und DVD erhältlich.



Noten: Otto, Klawer = 2

 

Pressespiegel:

„Der Film ist auch eine Hommage: An eine Lehrerin, wie man sie sich für Kinder nur wünschen kann. Vorurteilsfrei und voller Vertrauen in die Fähigkeiten, die in jedem einzelnen stecken. Ein ruhig erzählter, sehr anrührender Film, der Schule im wahrsten Sinne als Bildungsort zeigt und Hoffnung macht auf ein respektvolles Miteinander der Kulturen und Religionen“ (NDR.de)

 

Quellen:

Kritik zu Die Schüler der Madame Anne (epd-film)

Vom Wandel einer unbändigen Klasse (Deutschlandradio Kultur)

Gut gemeinter „Feel-Good-Movie“ (Deutschlandfunk)

Was wissen Deutsche Schüler über den Holocaust? (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 2002)

Große Schüler-Befragung: Hitler oder Honecker? Mir doch egal! (Spiegel Online)


Die Schüler der Madame Anne – Les héritiers – Frankreich 2014 – Regie: Marie-Castille Mention-Schaar – Drehbuch: Ahmed Dramé, Marie-Castille Mention-Schaar – Laufzeit: 105 Minuten – FSK: ab 12 Jahren – D.: Ariane Ascaride, Ahmed Dramé, Noémie Merlant, Adrien Hurdubae.