Montag, 14. November 2016

Dr. Strange

Wow, sagt man sich im Kino, das ist doch Magie, wenn die Häuser einer ganzen Straße um 90 Grad umgeklappt werden und die Superhelden plötzlich, statt zu klettern, auf den Hauswänden laufen, während sich die Fenster in irrwitzigem Tempo um die eigene Achse drehen. Und auch Benedict Cumberbatch hat bei seinem ersten Auftritt als Dr. Strange einige magische Momente. Leider fällt das Storytelling bei so viel Bombast dann doch etwas mager aus. „Dr. Strange“ ist kein schlechter Film geworden, aber eher Disney als Marvel.

Scott Derrickson ist bislang mit Horromätzchen wie „Deliver Us from Evil“ (Erlöse uns von dem Bösen, 2014), „Sinister“ (2012) oder misslungenen Remakes (
The Day the Earth stood still“, 2009) aufgefallen – Genreprodukten, deren Markenkern eine penetrante Unoriginalität war. Derrickson Qualitäten bestanden bislang darin, Bekanntes unerbittlich zu wiederholen und sich streng an den Kanon etablierter Genreregeln zu halten. Dass ausgerechnet einem Handwerker des Uninspirierten der 14. Film des Marvel Cinematic Universe (MCU) anvertraut wurde, verblüfft doch einigermaßen.

Aber in „Dr. Strange“ geht es weniger ums Geschichtenerzählen. Der Film lebt davon, mit bislang im Kino noch nie gesehenen CGI- und VFX-Effekten zu glänzen, die sogar „Inception“ ziemlich alt aussehen zu lassen. Scott Derricksons Film führt die uns vertraute Geometrie der rechten Winkel auf verblüffende Weise ad absurdum, Oben und Unten gehorchen nicht länger den unumstößlichen physikalischen Gesetzen. Hätte es 3D bislang noch nicht gegeben – für diesen Film hätte man die dritte Dimension zweifellos erfinden müssen. Es sind nicht nur umgestülpte und wegklappende Gebäude, die in „Dr. Strange“ zu schwindelerregenden Perspektiven führen, auch die Gesetze der Entropie werden ausgesetzt, wenn sich aus Trümmern wieder ganze Häuser zusammensetzen. Ein visueller Drogentrip.
Im dunklen Saal erinnern die Bilder auf der Leinwand an die Vergangenheit des Kinos, das einst Jahrmarktsattraktion war und verblüffende Illusionen und optischen Täuschungen versprach, wie sie der geniale M.C. Escher und gegenwärtig der Fotograf und Retoucher Erik Johannson geschaffen haben.


Benedikt Cumberbatch gibt dem Film Stil und Eleganz

Es ist der Magier Kaecilius (Mads Mikkelsen), der es meisterlich versteht, die irdische Geometrie komplett auf den Kopf zu stellen. Er ist der Bösewicht des Films, aber dazu noch der Handlanger des abgrundtief Bösen. Und das Böse repräsentiert das Energiewesen Dormammu, das die gesamte Erde in seine dunkle Dimension reißen will. Eine Dimension, in der die Zeit nicht existiert und die deshalb den Jüngern Dormammus ein ewiges Leben verspricht. 

So als wären die galaktischen Gesetze im MCU nicht bereits gründlich genug auf den Kopf gestellt worden, bekommt der Kosmos der Superhelden nun also noch eine zusätzliche Dimension. Die „Avengers“ beschützen die Welt vor realen Gefahren, die Magier bewahren sie vor den mystischen Bedrohungen, erfährt Benedikt Cumberbatch als Dr. Strange während seiner Ausbildung zum Magier. Das Marvel Universum könnte also etwas komplizierter werden, wenn Dr. Strange zu den Avengers stoßen sollte.

Benedikt Cumberbatch gibt den neuen Marvel-Film Stil und auch Eleganz. Am Anfang ist es noch Dr. Stephen Strange, ein Neurochirurg, der grandios das verkörpert, was man sich gegenwärtig unter Exemplaren der verhassten Elite vorstellt: rhetorisch brillant, gebildet, extrem kompetent in seinem Beruf – und ein ziemliches Ekelpaket, quasi ein überdimensionierter Dr. House. Als er nach einem Autounfall aufgrund starker Verstümmelungen seiner Hände nicht mehr in der Lage ist, seinen Beruf auszuüben, verprellt er mit narzisstischer Attitüde seine einzige Freundin Christine Palmer (Rachel McAdams), eine Kollegin. Doch dann erfährt er von einem Patienten namens Jonathan Pangborn (Benjamin Bratt) vom nepalesischen Kamar-Taj, wo geheimnisvolle Magier Pangborn eine Technik beigebracht haben, die ihm half, seine Querschnittslähmung allein durch seine geistigen Kräften zu heilen. Natürlich reist Stephen Strange nach Kathmandu. Dort wird er nach einigen Widerständen von der Magierin „Ancient One“ (Tilda Swinton) und ihrer rechten Hand, dem Meistermagier Mordo (Cjiwetel Ejiofor) als Lehrling aufgenommen.


Dass ausgerechnet eine Britin die wichtigste asiatische Rolle in „Dr. Strange“ spielt, ist nicht überall gut angekommen. Nicht, weil die Rolle in den Comics männlich war, sondern weil Produzent Kevin Feige und sein Regisseur aus unterschiedlichen Gründen keine asiatische Schauspielerin casten wollten. Im Film agiert Swinton als androgynes Wesen mit kahlgeschorenem Schädel, das ihren immer noch selbstherrlich auftretenden Schüler erst seine Astralgestalt aus dem Leib prügelt und ihn dann querbeet durch alle möglichen Paralleluniversen scheucht, um ihm etwas Demut einzutrichtern. Das sieht auf der Leinwand prima aus und klappt auch psychologisch in begrenztem Umfang, denn bald erweist sich Strange als Klassenprimus, der sich für seinen Geschmack viel zu früh und ziemlich deplatziert im Kampf gegen Kaecilius und seine Jünger wiederfindet. Dabei wollte er doch nur seine Hände reparieren lassen.

Das Böse ist ziemlich ungezogen

Das alles geht nicht ohne pathetisches Bubble-Speech ab. Während in den meisten Marvel-Filmen die Ironie das Gleitmittel für die gigantomanischen Effekte ist, wird in Dr. Strange viel Wolkiges gesprochen. 
Dass sich der Zuschauer nicht inmitten einer esoterischen Sekte wiederzufinden glaubt, in der über Weltuntergang, Portale in andere Dimensionen und die Macht des Geistes über die Materie geschwafelt wird, liegt auch daran, dass sich der Film nicht gänzlich vom Humor trennt. Etwa wenn „Dr. Strange“ (so lautet bald sein neuer Straßenname) lebensgefährlich verletzt wieder in seinem alten Krankenhaus landet und er als Astralwesen seiner Ex-Kollegin Christine Palmer dabei hilft, an seinem maroden Körper herumzuoperieren. Das hat Charme, ebenso die bissigen Dialoge mit dem Bibliothekar Wong (Benedict Wong) oder der Schwebemantel, der Dr. Strange nicht nur beim Fliegen hilft, sondern auch ein ziemlich widerspenstiges Eigenleben führt. In diesen Sequenzen entspannt sich der Film und macht auch richtig Spaß.

Insgesamt hat Scott Derrickson seinen ersten Blockbuster gut im Griff. „Dr. Strange“ überzeugt durch seinen ausgewogenen Rhythmus, der die Handlung mit längeren Sequenzen, in denen tatsächlich auch etwas erzählt wird, zur Ruhe bringt. Und obwohl „Dr. Strange“ nicht auf Anhieb ins Marvel-Universum zu passen scheint, knüpfen einige Ingredienzien an die Continuity des komplexen Narrativs an. Denn natürlich geht es in „Dr. Strange“ wie in fast allen Marvel-Filmen auch um einen neuen Infinity-Stein. Den nimmt der Doctor im Kamar-Taj ganz selbstverständlich und trotz aller Warnungen in Beschlag. Verständlich, gibt der Stein ihm die Macht über die Zeit. Zumindest kann Strange einfach mal die Uhr anhalten oder zurückdrehen, was besonders im finalen Showdown mit Dormammu hilfreich ist. Im dunklen Universum Dormammus lässt er sich immer und immer wieder töten und taucht dank einer vorprogrammierten Zeitschleife immer wieder erneut auf, bis die böse und ziemlich entnervte Entität schließlich zu einem Kompromiss bereit ist.


Cumberbatch spielt in einer Doppelrolle auch Dormammu, und zwar dank des Motion Capture-Verfahrens, mit dem der britische Schauspieler dem Bösen seine Physiognomie schenkt. Und natürlich auch die Stimme. Für Cumberbatch ein Heidenspaß: „It was sort of my idea. I went, 'Look, if this is going to work, rather than being a big ghoulish monster, if it's some kind of reflection of him -- if it's something that he's giving that's coming back at him in a really horrific way, that would be fun!“
Abgesehen von dieser selbstreflexiven Rollenironisierung fehlen dem neuen Marvel-Film allerdings die obligatorischen Subtexte, die etwa in den Captain America-Sequels einige schneidende Kommentare zum zeitgeschichtlichen Chaos hinterlassen haben. In „Dr. Strange“ geben weder das Sujet noch die Schauplätze derartige Referenzen her. Der neue Marvel-Film ist vielmehr stärker in der Welt Harry Potters verortet, während der böse Dormammu eher in Tolkins Ring-Trilogie gehört.

Das aber nicht mit der erforderlichen Qualität. So ist der finale Entscheidungskampf zwischen Dr. Strange und seinem technischen Alter Ego eher enttäuschend. Nicht nur Comics leben von der Wucht und Präsenz des Bösen, sei es physisch oder intellektuell, aber Comicverfilmungen sind allein schon wegen der wirkmächtigen Kinovorbilder gezwungen, die Gegenspieler der Superhelden mit einer bösartigen Eleganz auszustatten. Wenn Letzteres der Joker in „The Dark Knight“ gruselig faszinierend auch auf die Selbstdarstellung der Figur als ästhetisches Ereignis übertrug, präsentiert uns Scott Derricksons Film das Böse als deutlich intelligenzgemindertes Wesen mit den ungezogenen Manieren eines Zwölfjährigen. Da reichen schon die arg kurzen Ausführungen Mads Mikkelsens als Kaecilius aus, um seinen Herrn und Meister zum tumben Eckensteher zu machen, etwa wenn er über Zeit und Tod als Beleidigung der menschlichen Existenz spricht. Da ist er mit Elias Canetti einer Meinung. „Niemand hätte je sterben müssen“, schrieb dieser 1951 und auch in der Folge wütend gegen den Tod an.

Summa summarum passt der neue Marvel-Film trotz einiger Ecken und Kanten recht gut ins Marvel Cinematic Universe. Gut verortet zwischen dem Brachialhumor der „Guardians of the Galaxy“, dem pointiert witzigen „Antman“ und dem meist todernsten Captain America fügt er dem MCU nun die verborgene Welt des Magischen hinzu und dazu eine aberwitzige Figur, die von Benedict Cumberbatch exzellent auf den Punkt gebracht wird: ein wissenschaftsaffiner Neurologe als Supermagier, das hat schon was. Dass in „Dr. Strange“ die unerhörten Effekte den Production Value in die Höhe schrauben, ist nicht nur ökonomisch relevant. Sie zeigen, dass das Kino offenbar keine Grenzen mehr kennt bei der Umsetzung von Phantasie in reale Bilder – Money Shots nennt dies die Industrie. Kommt dann auch noch etwas Story Value hinzu, können Blockbuster recht gute Filme werden. Da hat „Dr. Strange“ noch etwas Luft nach oben.

Noten: Melonie, BigDoc = 2

Dr. Strange – USA 2016 – Regie: Scott Derrickson – Producer: Kevin Feige - Laufzeit: 115 Minuten – FSK: ab 12 Jahren – D.: Benedict Cumberbatch, Chiwetel Ejiofor, Tilda Swinton, Rachel McAdams, Mads Mikkelsen, Benedict Wong