Mittwoch, 2. November 2016

Experimenter – Die Stanley Milgram Story

Irgendwann hören die Schreie auf. Der „Lehrer“ blickt den Versuchsleiter an und bittet verzweifelt, man möge den Versuch abbrechen oder wenigstens nach dem gepeinigten „Schüler“ schauen. Der Versuchsleiter bleibt ruhig: “Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!“ Und die meisten machen weiter. Sie „bestrafen“ den Schüler weiterhin mit Stromstößen, auch wenn die Intensität bereits im bedrohlichen Bereich angekommen ist. Sie gehorchen. Befehl ist Befehl.

Das 1961 durchgeführte „Milgram-Experiment“ gehört zu den verstörendsten Experimenten der Sozialpsychologie. Michael Almereyda zeichnet den Laborversuch in seinem kaum weniger verstörenden und betont unkonventionellen Film nach. Geändert hat sich in den letzten Jahrzehnten nur wenig. Die Ergebnisse ließen auch unter veränderten Versuchsbedingungen immer den gleichen Schluss zu: Menschen sind bereit, einem unmoralischen Befehl zu gehorchen, wenn sie ihn von einer Autorität erhalten – erst recht, wenn Befehlshaber die volle Verantwortung für die möglichen Folgen übernehmen. 
Das Erschreckende: es waren keine Sadisten und Psychopathen, die lustvoll quälten, auch keine devoten Untertanen, sondern völlig normale Bürger aus allen sozialen Schichten, die sich gehorsam unterwarfen und bereit waren, andere Menschen zu bestrafen und notfalls zu töten, falls die Autorität dies verlangte. Nicht etwa wie willfährige Automaten, nein, viele der „Lehrer“ weinten, bettelten und schrien. Und sie flehten den Versuchsleiter an, das grausame Geschehen zu beenden – aber sie machten trotzdem weiter. Die meisten jedenfalls.


Wie macht man einen Film über experimentelle Psychologie und wie bringt man Zuschauer dazu, sich so etwas anzusehen? Das nicht unumstrittene „Stanford-Prison-Experiment“ (in einem Rollenspiel foltern „Wärter“ ihre „Gefangenen“) bietet sich als Actionspektakel an – das „Milgram-Experiment“ ist, vordergründig betrachtet, eher langweilig. 
Michael Almereyda hat aber geeignete Mittel gefunden, um daraus einen packenden Film zu machen. Mit Peter Sarsgaard („Pawn Sacrifice“, 2014; „The Magnificent Seven“, 2016) hat Autor und Regisseur Almereyda zudem eine gute Wahl getroffen. Der bekennende Katholik mit den traurigen Augen ist auch privat ein neugieriger Mensch, nur dass er diese Eigenschaft ganz entschieden als humanitäre Substanz versteht. So spielt Sarsgaard den Wissenschaftler Stanley Milgram als bipolares Wesen ganz eigener Art, mit großer Traurigkeit, aber immer wieder auf der Suche nach neuen Experimenten und originellen Studiendesigns. Milgram ist Empiriker, er liefert am Ende Zahlen. Letztlich geht es aber um die Natur des Menschen. Man sieht es in Peter Sarsgaards traurigen Augen.


Trost bietet der Film nicht

Die Natur des Menschen ist bekanntlich nur schwer zu fassen und beschäftigt Philosophie, Kunst und Wissenschaft seit mehr als zwei Jahrtausenden. Mit völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Auch Milgram wusste, dass der Philosoph Thomas Hobbes die Auffassung vertrat, dass nicht die Befehlsempfänger die Verantwortung für ihre Handlungen haben, sondern die Autorität, von der sie die entsprechenden Befehle erhalten. Ein fataler Irrtum.

Michael Almereyda versucht es auf seine Weise, von dieser Dynamik zu erzählen. Er durchkreuzt dabei die Erwartung einer realistischen Erzählweise mit Kulissen, die mitunter aus billigen gemalten Hintergründen bestehen, er filmt Autofahrten mit Rückprojektionen wie in den 1950er und 1960er Jahren, aber das Wichtigste ist: er lässt seinen Hauptdarsteller direkt zum Publikum sprechen. 
Das Durchbrechen der „Vierten Wand“ kennen wir von Kevin Spacey in „House of Cards“. In „Experimenter“ soll dieser narrative Trick bei den Zuschauer allerdings nicht die Hassliebe zu einer fragwürdigen Hauptfigur raffiniert triggern. Almereyda hat da wohl mit seiner minimalistischen Ästhetik eher Brechtsche Verfremdungseffekte im Sinn gehabt. Er lässt seinen Stanley Milgram deshalb nicht allzu oft über seine Gefühle sprechen, auch wenn Familiäres gelegentlich gestreift wird. Almereyda hält mit seinen kargen Bildern den Zuschauer auf Distanz, so gut es geht, er will kein Drama mit emotionaler Katharsis. Angesichts der Ergebnisse des Milgram-Experiments wäre es auch fatal, dem Zuschauer wohlfeile Entrüstung oder eine überlegene moralische Position anzubieten. Und so erklärt Peter Sarsgaard dem Zuschauer mit festem Blick in die Kamera und fast im Plauderton, was er als Stanley Milgram 1961 an der Yale University ausprobiert hat.

Das Experiment ist denkbar einfach. Zwei Versuchspersonen sollen ein Experiment durchführen, das den Effekt von Bestrafung auf den Lernerfolg untersucht. Die Verteilung der Rollen geschieht anscheinend rein zufällig, ist aber manipuliert. Es ist immer ein Mitarbeiter Milgrams, der die Rolle des „Schülers“ einnimmt. Getestet wird dagegen der „Lehrer“. Er erhält einen Multiple-Choice-Fragebogen, liest dem Schüler die Testfragen vor und hat die Aufgabe, jede falsche Antwort mit einem Stromstoß zu bestrafen. Die Schocks werden mit einem überdimensionierten Generator erzeugt und mit jeder falschen Antwort gesteigert – von anfänglich 15 Volt bis auf 450 Volt, den „bedrohlichen Schock“ (Milgram). 
Der malträtierte Schüler sitzt, unsichtbar für den Lehrer, in einem Nebenraum. Seine Reaktionen werden allerdings von einem Tonbandgerät abgespielt, echte Stromstöße erfolgen nicht. Um ein Gefühl für das Experiment zu erhalten, bekommt der Lehrer am Anfang selbst einen leichten Stromstoß. Er weiß also, wie sich das anfühlt, was er in den nächsten Minuten selbst austeilen wird. 
Die moralische Konfliktsituation für den „Lehrer“ wird erreicht, wenn der Pseudo-Schüler damit beginnt, sich zu beklagen. Bei 150 Volt fleht er, den Versuch abzubrechen: „Bei 285 Volt kann die Reaktion nur noch als qualvolles Schreien bezeichnet werden“ (Milgram). 
Kein Teilnehmer brach jedoch den Versuch ab, bevor die 300 Volt-Grenze erreicht wurde. Zwei Drittel der Teilnehmer verabreichten die maximale Spannung von 450 Volt. Sie gehorchten, obwohl viele von ihnen heftig protestierten, während andere völlig gefühlsneutral im Namen der Wissenschaft einem höheren Zweck dienten oder davon überzeugt waren, dass die Versuchsperson es ja nicht besser verdient habe.

Milgram selbst war 16 Jahre nach Kriegsende zunächst an einer Hypothese interessiert: Waren die Taten der Nazi-Verbrecher nur wegen einer vermeintlich typischen deutschen Tugend möglich gewesen – der Obrigkeitshörigkeit? 
Seine Versuche zeigten, dass Gehorsam offenbar eine universelle menschliche Eigenschaft ist, früh erlernt und durch soziale Erfahrungen regelmäßig verstärkt. Eine Eigenschaft, die im Extremfall auch moralische Hemmschwellen überwinden konnte und Menschen etwas tun ließ, was sie selbst verabscheuten. 
In Milgrams erstem Experiment taten sie es dennoch, aber nicht wegen der banalen Vergütung von vier Dollar, sondern weil sie sich fügten. Sie fügten sich auch, wenn der Versuchsleiter mit deutlich weniger Einfluss ausgestattet wurde (nur Student, kein Wissenschaftler). Nur wenn den „Lehrern“ das Opfer unmittelbar gegenübersaß („Berührungsnähe“), sank die Bereitschaft zum Gehorsam rapide ab.

„Experimenter“ zeigt diese Abläufe mit naturalistischer Konsequenz. Die Dialoge entsprechen zum großen Teil wortgetreu den von Stanley Milgram veröffentlichten Protokollen. Doch wohin führt das?
Nicht nur in Michael Almereyda Film zu erbittertem Widerstand der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, die Milgrams Versuchsdesign als moralisch fragwürdig kritisierte, da die Versuchspersonen einer traumatischen Erfahrung ausgesetzt wurden. Bestätigen ließ sich dies nicht. Diese Geschichte und die Geschichten anderer, nicht selten skurriler Experimente erzählt der Film in der zweiten Hälfte. Das ist auch gut so, denn Stanley Milgrams Arbeit war facettenreich. 


Sie lamentierten, handelten aber nur selten

Trotzdem war es sein erstes Experiment, das bis heute Wellen schlägt. Auch weil die Ergebnisse immer wieder bestätigt wurden. 
„Man bringt Menschen ohne große Schwierigkeiten dazu, zu töten“, stellte Milgram in seinem Buch „Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität“ (1974) lapidar fest.
Milgram schlug sich damit auch ausdrücklich auf Hannah Arendts Seite, die 1963 in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ von der Banalität des Bösen berichtete, als sie Adolf Eichmann als biederen Befehlsempfänger beschrieb (möglicherweise historisch nicht korrekt, denn wie sich später herausstellte, war Eichmann eine überzeugter Anhänger des nationalsozialistischen Rassewahns). 
Dass weder Stanley Milgram noch Michael Almereyda berücksichtigten, dass amoralische Handlungen von Menschen halt auch auf eine rückhaltlose Identifikation mit einer menschenverachtenden Ideologie zurückzuführen sind, mag ärgerlich sein. Zu wenig Beachtung finden in Almereydas Film auch die Motive und Verhaltensweisen jener 30%, die im Laufe des Experiments aussteigen. Auch Milgram hat sich mit diesem Aspekt eher zurückhaltend beschäftigt.
In einem Punkt war er aber schonungslos: Das Jammern der „Lehrer“ rührte ihn nicht. Denn ihnen war nicht klar geworden, „dass für das vorliegende moralische Problem subjektive Gefühle weitgehend irrelevant sind, solange sie nicht in Aktion umgesetzt werden.“

Almereyda Film besitzt einen lakonischen Schluss. Ganz am Ende darf die Hauptfigur beiläufig über den ihren eigenen Tod berichten. Als Milgram nach einem erneuten Herzinfarkt mit seiner Frau Alexandra (Winona Ryder) die Klinik aufsucht, wird er nicht etwa schnellstmöglich medizinisch versorgt. Nein, er muss zunächst ein Formular ausfüllen. Die Krankenschwester am Empfang drückt es dem Sterbenden ungerührt in die Hand. Sie ist gehorsam, denn so wollen es die Vorschriften.

Noten: Melonie, BigDoc = 2, Klawer = 2,5

Experimenter – The Stanley Milgram Story – USA 2015 – Laufzeit: 98 Minuten – Regie und Buch: Michael Almereyda – D.: Peter Sarsgaard, Winona Ryder

Der Film ist nur in wenigen US-Kinos gelaufen und wurde im VoD-Bereich vermarktet. Auf DVD und Bluray ist er seit Anfang Oktober 2016 erhältlich. „Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität“ ist als Taschenbuch erhältlich (19. Auflage).