Dienstag, 5. April 2016

The Walking Dead – Season 6

Ruhige Zeiten? Gemüse anbauen? Musik hören? In Alexandria haben Rick Grimes und seine Gruppe das Heft in die Hand genommen, aber eine Schöne Neue Welt ist immer noch nicht in Sicht. Gut, das ist ironisch und es liegt auch nicht an den Figuren, sondern an den Machern. In der 6. Staffel der Zombie-Serie haben sie alles eine Spur sadistischer und zynischer gemacht, aber auch raffinierter und doppelbödiger. Und sie treiben gelegentlich Spielchen mit den Zuschauern. Doch die sind mittlerweile ziemlich sauer.

Am langen Arm verhungert

In der letzten Oktoberwoche 2015 schlug die Bombe ein: Über 13 Millionen Fans sahen in „Thank You“ (Ep 3, dts. Danke), wie sich der bei den Fans nicht gerade beliebte Nicholas eine Kugel durch den Kopf schoss und zusammen mit Glenn (Steven Yeun) von einem Müllcontainer in eine Herde hungriger Beißer fiel. Zu getragener Trauermusik floss das Blut eimerweise, Gedärme wurde herausgerissen und kurz danach spuckte das Netz haufenweise „Reaction Compilations“ aus, Videos, mit denen die Zuschauer ihre emotionale Reaktion dokumentierten.

In den folgenden Wochen ließen die Macher die aufgeregten Zuschauer am langen Arm verhungern. War Glenn tot? Und wenn nicht, wie konnte er sich retten? Die Wogen schlugen hoch, alle wollten wissen, was wirklich passiert ist. 
Und was hatten Showrunner Scott M. Gimple und Co-Producer Robert Kirkman eine Woche später im Köcher? Ein metaphysisches Zwei Mann-Theaterstück, in dem es um die Ethik des Überlebens ging und wie asiatischer Kampfsport dabei hilft!
Episode 4 „Here’s Not Here“ war eines jener Filetstücke der Serie, deren Konsequenzen für die Storyline nicht auf Anhieb zu erkennen sind, sich dann aber mit großer Wucht entfalten. Morgan (Lennie James) erzählt in einer Rückblende einem „Wolf“, wie er vom Saulus zum Paulus geworden ist, vom psychopathischen Killer zum Menschfreund. Wieder einmal prallten Moralfragen auf die brachiale Survival-Philosophie der Überlebenden.



Währenddessen wurde Glenns vermeintlicher Tod in den englischsprachigen Medien endlos durchgekaut. Die dramatische Szene markierte nicht das Ende der dritten Episode, war genau genommen also kein Cliffhanger, funktionierte aber wie einer. 
Medientheoretiker dürfen gerne darüber streiten, ob dies eine Mischung aus Crossmedia und Crossover (1) gewesen ist, aber klar war, dass Scott M. Gimple und Drehbuchautorin Angela Kang eine Grenze überschritten hatten. Zum ersten Mal wurden in die Storyline nicht wie zuvor narrative Elemente aus der gleichnamigen Comicserie einbezogen, sondern nun auch noch das Wissen der Comic-Leser über die kommenden Ereignisse. Und in den Comics wird Glenn von dem Megaschurken Negan mithilfe des stacheldrahtumwundenen Baseballschlägers „Lucille“ äußerst brutal erschlagen.


War es das nun? Hatte die TV-Fassung der Zombie-Apokalypse wieder einmal einen anderen Weg eingeschlagen? Und – falls Glenn überleben würde – wäre dies nicht erst recht ein Indiz dafür, dass ihn das in den Comics martialisch gezeichnete Ende am Ende doch einholen würde? Zwar sind nicht alle TWD-Zuschauer gleichzeitig auch Konsumenten von Robert Kirkmans Comic-Serie, aber das Informationsgefälle zwischen beiden Gruppen ist gering. Genau an dieser Schnittstelle berührten sich beide Erzähl-Universen (2).
 

Ob man das machen sollte, ob dies nur billige Tricks auf der Jagd nach Quoten sind oder vielmehr ein cleveres Konzept der Zuschauerbindung, ist natürlich eine Überlegung wert (3). Auf jeden Fall zeigte diese neue Strategie, wie eng die Comic- und TV-Welt der „Walking Dead“ mit den Zuschauerpräferenzen, der Zuschauerbindung und den Click Baiting-Strategien der amerikanischen Medien verknüpft sind. Kurz vor der Ausstrahlung der vorletzten Episode heizte die Online-Ausgabe einer amerikanischen Fachzeitschrift den Hype noch einmal kräftig an: online konnte man sich eine animierte Version des Comic-Todes von Glenn anschauen. Und wie immer war die Musik dazu todtraurig.


Mit der Gewalt eines D-Zugs

Die ersten drei Episoden hatten nicht nur wegen des Dramas um Glenn einen brachialen Impact. Die Ereignisse weniger Stunden wurden in drei Episoden verpackt, in der sich gigantische Zombiearmeen ferngesteuert irgendwo am Horizont verloren. Gleichzeitig entlud sich Gewalt gegen Menschen und Untote mit der Wucht eines aufprallenden D-Zugs. Wollte Showrunner Scott M. Gimple etwa „The Walking Dead“ komplett neu erfinden? Oder sollte Qualität durch puren Gigantismus ersetzt werden?

Während es früher Brückenstaffeln gab, in denen viel in die Figurenentwicklung investiert wurde (Season 2) oder der Plot in kleine Erzählinseln zerfiel (Season 4), war in Staffel 6 von Anfang an erkennbar, dass die Geschichte sich nicht länger im Alexandria-Plot verlieren sollte. Keine minimalistischen Dramen im täglichen Einerlei des kleinen Städtchens, unterbrochen von gelegentlichen Beschaffungsfahrten ins Umland. Alles sollte offener, größer und unüberschaubarer werden: neue Figuren, neue Gegenspieler, neue Gemeinden – mehr Zombies, mehr Gewalt.
 

Die Auftaktfolge „First Time Again“, in der Rick (Andrew Lincoln) und die Bewohner von Alexandria eine mehr als tausendköpfige Zombieherde aus einem Steinbruch und damit aus der unmittelbaren Nähe der kleinen Gemeinde wegführen wollten, bot wuchtige kinoreife Bilder, grandiose Luftaufnahmen inklusive. Eher ungewöhnlich bombastisch für ein TV-Format. Zudem wurde die erste Episode ästhetisch als elegante Folge in Schwarz-Weiß gedrehter Flashbacks inszeniert - was einige Fans in den Foren verstörte. Sie konnten der Handlung nicht mehr folgen.
 

Der Zombie-Walk war Plan des neuen und alten Leaders Rick Grimes und er musste bezahlt werden: No good deed goes unpunished. Denn Gelingen ist in „The Walking Dead“ immer nur die kurze Pause vor der nächsten Katastrophe. 
Riesige Zombieherden wurden über die Straßen bewegt, ein irrwitziges Vorhaben, das die blutrünstigen „Wölfe“ ausnutzen, um das spärlich bewachte Alexandria zu überfallen (Ep 2 „JSS“).
Nach einem epischen Gemetzel wurden die meisten Angreifer getötet und die wenigen überlebenden Wölfe verschwanden sang- und klanglos aus der Serie.
Auch später sollte TWD auf Quantität und anspruchsvolle Effekte setzen. Am Ende von Ep 7 „Heads up“ (dts. Die Wand) zerstört die einstürzende Kirche den Schutzwall Alexandrias. In „Start to Finish“, der letzten Folge der Midseason (dts. Nicht das Ende) kämpfen die Überlebenden gegen den Untergang, der erst nach der fast dreimonatigen Staffelpause mit einem endlos langen Gemetzel an der Herde, die Alexandria überrannt hatte, verhindert wird (Ep 9: „No Way Out“, dts. In der Falle). 

Mit Pistolen, Äxten, Macheten, Schwertern und Knüppeln wurde auf alles geschossen und geprügelt, was hässlich durch die Gegend wankt. Eine Splatter-Orgie für jene Fans, die sich schon seit langem gewünscht hatten, dass endlich die dämlichen Dialoge aus den Totschlag-Sequenzen verschwinden sollen.


Es sollte nach der Winterpause noch schlimmer werden.
 

Die Helden weinen: Verrohung und Verzweiflung


Bis zur 7. Episode mussten die Fans warten, bis das Rätsel um Glenn endlich gelöst wurde. Tot war er nicht, aber kritische Stimmen wurden laut: Trauen sich Gimple & Kirkman nicht mehr, beliebte Figuren zu killen? Diese Frage befeuerte natürlich das audience engagement, denn die Fans erwarteten beinahe in jeder neuen Episode ängstlich und lustvoll den Bösewicht mit den vielen F-Wörtern. 
Man musste schon zweimal hinschauen, um in der sehr blutig gewordenen Show die Komplexität der Erzählfäden zu entdecken, die den Plot steuerten. Hinweise und dunkle Andeutungen wurden diskret in der Handlung versteckt und dabei handelte es sich natürlich auch um den langen Schatten, den Negan in den sechs letzten Folgen warf.
 

„The Walking Dead“ gelang dabei erneut der Spagat zwischen einer gewalttätigen dystopischen Horrorserie und dem ausgefeilten Charakterdrama, das die Serie von Beginn an sein wollte. Gimple und Kirkman gaben dem Affen Zucker und zeigten ihm, dass man sich damit nur den Magen verdirbt. Denn wenn es ein Schlüsselthema in der 6. Staffel gab, dann konnte man es mit dem Begriffspaar „Verrohung und Verzweiflung“ auf den Punkt bringen.
 

Ja, die Hauptfiguren weinten! Zumindest eine. Auch den hartgesottenen gewaltaffinen Zuschauern konnte nun nicht länger entgehen, was zuvor subtil angedeutet wurde: Es wird alles zu viel. 
Waren schon früher nicht die Zombies, sondern die Menschen die eigentliche Gefahr, so zeigte sich nun, dass sich die ständigen Gewaltexzesse seit dem Gemetzel an den Terminus-Kannibalen in „Four Walls and a Roof“ (S5/03, dts. Vier Wände und ein Dach) langsam zu einem schleichenden Gift entwickelt hatten: Je erbarmungsloser die Gruppe um Rick Grimes wurde, desto stärker begann die Professionalität des Tötens sie von innen aufzufressen.

Gut zu sehen war dies bei Carol, die am Ende von Ep 2 „JSS“ erschöpft, verzweifelt und weinend auf der Treppe sitzt. Sie wurde prompt und nicht ganz überraschend zur eigentlichen Hauptfigur der Staffel. Nur Rick Grimes („a borderline psychotic“ nannte ihn ein US-Journalist kurz vor dem Jahreswechsel) weinte nicht. „Uns gehört die Welt!“, triumphiert er in der vorletzten Folge. Man ahnt, dass er dafür bezahlen wird.



Größenwahn und Niedergang

Dabei drohte längst eine andere Gefahr: die zunehmende Bedrohung durch Negans „Saviors“. Und die präsentierten sich bereits vor dem großen Auftritt ihres Anführers als nihilistische Barbaren mit absolutem Herrschaftsanspruch. Was mit vereinzelten Scharmützeln begann, entwickelte sich zu einem regelrechten Krieg. Erst recht, als Rick Grimes & Co. mit Paul „Jesus“ Rovia (Tom Payne) einen neuen smarten Akteur im Überlebensspiel kennenlernten, und damit auch Hilltop, eine Gemeinde, die vollständig unter den Kontrolle der „Saviors“ steht. Ausgerechnet die sonst so ruhig und überlegt handelnde Maggie konnte Gregory, den Anführer der Hilltop-Gemeinde, dazu überreden, dass die Gruppe bereit ist, für einen beträchtlichen Teil der Nahrungsressourcen die „Saviors“ und, falls möglich, auch Negan zu liquidieren.

Der „Sündenfall“ ereignet sich in Episode 12 „Not Tomorrow Yet“ (dts. Die Nacht vor dem Morgen), als Ricks Gruppe Taten folgen lässt und in einer nächtlichen Aktion eine Gruppe schlafender „Saviors“ buchstäblich abschlachtet. Rick, der über Maggies Plan zuvor basisdemokratisch in Alexandria abstimmen ließ, liefert in einer langen Suada reichlich gute Grunde für das geplante Massaker, aber dennoch ist „Not Tomorrow Yet“ der vorläufige Abschluss einer Entwicklung: Rick lässt zwar noch diskutieren, kann sich dies aber leisten, weil alle Alexandriner bereits seine Logik verinnerlicht haben: Das Böse sind immer die anderen. 


An der von einigen deutschen Medienforschern beschworenen moralischen Integrität der Schlüsselfiguren hatte ich bereits in meiner Review zur 5. Staffel erhebliche Zweifel: „Vielmehr deutet sich an, dass wir es in TWD mit einer zynischen Variante von „Breaking Bad“ zu tun haben, in der die Überlebenden die permanenten Gewaltexzesse eben nicht mehr verdauen und sich schleichend verändern. Sie werden böse. Nicht jeder und auch nicht alle. Aber bitte nicht vergessen: die großen Moralisten der Serie, Dale und Hershel, sind tot und Nachwuchs ist nicht in Sicht. Die Frage ist also, ob TWD in Zukunft zivilisiertes Handeln weiterhin als Option verteidigt oder langsam dem Zynismus verfällt.



Das moralische Dreieck: Rick, Morgan, Carol

So ist es auch gekommen. In einem Punkt habe ich mich geirrt: Mit der Rückkehr von Morgan kehrte eine Figur in die Serie zurück, die ein legitimer Nachfolger all jener Moralisten ist, die in TWD in regelmäßig wegsterben. Zusammen mit Carol und Rick bildet Morgan ein interessantes moralisches Dreieck, das in „The Walking Dead“ mit sehr konträren Kräften am Zuschauer zerrt. 

Die eine wirkt wie eine Fliehkraft. Es ist die sadistisch-zynische Schlagseite, die die Serie dann erhält, wenn sie eine darwinistische Perspektive einnimmt. Sie ‚beweist‘ ihre Notwendigkeit dadurch, dass sich die meisten düsteren Prophezeiungen Ricks bewahrheiten und die meisten Figuren, die in TWD nicht lernen, wie man sich den Gegebenheiten anpasst und effizient töten lernt, regelmäßig (bis auf Eugene) für ihr ‚Versagen‘ bestraft werden. Ricks Perspektive führte dann auch dazu, dass er mittlerweile auch ohne langes Nachdenken aus nichtigen Anlässen tötet und dies als Gefahrenprävention verteidigt. Und so besteht der gesamte Alexandria-Plot im Wesentlichen daraus, Ricks Deutungshoheit vollständig als Common Sense zu etablieren. 
Die neue und durchaus nachvollziehbare Logik zerstört die „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“-Haltung der zivilisierten Deanna (Tovah Feldshuh) rabiat, obwohl Rick angesichts ihrer Visionskraft keineswegs unberührt bleibt und auch sonst immer wieder empathische Momente hat. Darstellerisch ist Tovah Feldshuh eine Klasse für sich, aber obwohl die von ihr gespielte Deanna am Ende Ricks ‚Wahrheit‘ akzeptierte, wurde sie gnadenlos aus der Serie entfernt. Es war nicht genug, sie hatte zu spät dazugelernt.
 

Rick hat mit seiner Sicht auf die Dinge aus ganz praktischen Gründen Recht. Hatte er in der ersten Staffel durch Morgan noch etwas Mitgefühl erfahren, musste er später erleben, dass er innerhalb der Gruppe nicht einmal seinem besten Freund trauen konnte und außerhalb der Gruppe alle anderen entweder hilflose Opfer oder viehische Barbaren sind. Das Problem: Er hat nur dabei sein altes Credo „We don’t kill the living“ gründlich vergessen und noch nicht bemerkt, dass er auf dem Weg ist, ein Warlord zu werden. Übrigens ganz im Sinne Nietzsches: „die eigentlichen Philosophen sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen ,,so soll es sein!“ Damit meinte Nietzsche allerdings auch alle, die durch einen uneingeschränkten Willen zur Macht charakterisiert werden (4). Und die hatte Rick schon von Beginn an in Alexandria eingefordert, falls die anderen sich nicht den Gesetzen der Apokalypse beugen.
 

Ricks großer Antagonist im moralischen Dreieck ist Morgan. Er stellt sich zwar nicht gegen Rick und predigt auch keinen uneingeschränkten Pazifismus, aber Töten hält er nicht für die Ultima Ratio. In einem Gespräch erklärt er Rick in Episode 15 („East“, dts. Nach Osten), dass er mit der Verschonung eines „Wolfs“ eine Ereigniskette angestoßen hat, die zur Rettung von Menschenleben führte: „Menschen können sich ändern“ ist sein Mantra. Jedes Leben sei wertvoll. 
Hier schließt sich der Kreis, der mit der klug positionierten Folge „Here’s Not Here“ genau abgezirkelt positioniert wurde. Es überraschte mich, dass sich gestandene Journalisten in ihren Reviews auf Ricks Seite und damit auf die Seite der darwinistischen Ratio geschlagen haben. Schließlich sei es ja offenkundig, dass man sich gegen menschliche Barbaren verteidigen muss, lautete das Argument.

Die eigentliche Überraschung ist jedoch das innere Kollabieren Carols, die im TWD-Kosmos und auch in dem skizzierten moralischen Dreieck eine neue Spezies sui generis darstellt. Was dichotom von Rick und Morgan verhandelt wird, spiegelt sich in Carol emotional wider. Sie, die in Staffel 4 ein Kind tötete und sich in Staffel 5 in einen Zombie verwandelte, um die Gruppe zu retten, schlüpft in Staffel 6 in die Rolle einer harmlosen Hausfrau, die freundlich-dominant mit den anderen Hausfrauen über Rezepte diskutiert und dann von einer Minute zur anderen zu einem Undercover-Ninja mutiert. 
Als sie in Episode 13 „The Same Boat“ (dts. Im selben Boot) zusammen mit Maggie von einer kleinen Gruppe weiblicher Saviors gefangen genommen wird, verstellt sie sich erneut sehr raffiniert und tötet die Bewacherinnen, erhält aber einen Blick auf das, was sie werden könnte, wenn sie so wie bislang weitermacht. Schizophrenie inmitten der Zombie-Apokalypse. 

Carols trostlose Quintessenz lautet danach: Liebe ist, wenn man für jemanden tötet. Da sie aber nicht mehr töten will, kann sie auch nicht mehr lieben. Das ist wirklich Verzweiflung. Ihr Entschluss, diese Zerrissenheit zu beenden und die Gruppe und Alexandria zu verlassen, hat zwar fatale Folgen, zeigt aber auch die Beziehung zwischen Verrohung und Verzweiflung aus einem ganz anderen Blickwinkel: dem Ekel.
 

Es gehört zu den bemerkenswerten Fähigkeiten von Scott M. Gimple, Robert Kirkman und dem Autorenteam, derartige Entwicklungen nicht aus dem Zylinder zu ziehen wie ein weißes Kaninchen, sondern sorgfältig vorzubereiten. Hinweise und Andeutungen gab es, wie gesagt, schon früher, und wenn man will, kann man sie bereits in älteren Staffeln entdecken. Carol hat, und das entscheidet sie von den Verrückten und den Soziopathen, die die neue Welt bevölkern, keinen Spaß an dem, was sie tut. Der alte Rick hatte sie einst verbannt, weil sie zwei kranke Mitglieder der Gruppe getötet hatte, der neue Rick kann seine Entscheidung nicht mehr verstehen. Mittlerweile würde er nicht anders handeln. 
Mit dem rotzigen Statement “Was uns gute Zombiefilme wirklich zeigen, ist, wie kaputt wir doch eigentlich sind”, hat Robert Kirkman diese Figurenentwicklung in einem Interview auf den Punkt gebracht.

Für andere ist dies nicht so einfach. „Wie kann man noch leben, wenn dies die Welt ist?“, fragt Deannas Sohn, nachdem Alexandria fast von den Untoten überrannt wurde. Der neue Rick kennt die Antwort: „Die Welt gehört uns!“ Und damit meint er alles. „Wir nehmen uns, was wir brauchen.“

Größenwahn und Niedergang sind aber zwei Seiten einer Medaille. In TWD geht es deshalb auch darum, zu zeigen, wie sich langsam die Identität der Figuren auflöst. Die Frage ist nicht, ob sie gegen das Übel kämpfen sollen. Das müssen sie. Die Frage ist vielmehr, ob sie im Kampf gegen das Übel zu dem werden, was sie bekämpfen. Schön ist, dass alle immer noch die Zeit finden, sich darüber angeregt zu unterhalten. 

Carol hat anscheinend eine Antwort gefunden. Sie will den Schritt vom moralischen Individuum zur schönen neuen Bestie nicht machen. Die eigentliche Qualität der Serie besteht darin, dass sehr subtil gezeigt wird, wie sich einige mit diesen Fragen abquälen und andere eben nicht. 


Es ist kein Ende in Sicht

Als in Episode 14 „Twice as Far“ (dts. Keine Gleise) eine lesbische Ärztin getötet wurde, ergoss sich der Shitstorm unzähliger amerikanischer LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender)-Gruppen über die Macher. „Bury Your Gays“ – queeres Personal überlebt die Gruppe nicht. Und wieder einmal wurden in einer Serie zu viele Frauen getötet. 

Es war einer von vielen Medienstürmen in den USA, von denen deutsche Medien eher wenig mitbekommen. Während in den Staaten und in Großbritannien „The Walking Dead“ als global bedeutendes kulturelles Phänomen erkannt wird und in epischer Breite nicht nur die einschlägigen Medien- und Online-Magazine, sondern auch die Printmedien beschäftigt, kann man hierzulande nur selten Beiträge finden, die in Qualität und Umfang mithalten können.
Dabei zeichnet sich doch eigentlich unübersehbar ab, dass wir noch einige Jahre gespannt zuschauen werden, wie und ob die Apokalypse überlebt werden kann und was sie aus den Figuren macht. Eins ist jetzt schon klar: Es zeichnet sich ab, dass die Serie in späteren Jahren nicht nur wegen ihrer exorbitanten Quoten gefeiert werden wird, sondern auch wegen ihres kreativen Storytelling und ihrer intelligenten Subtexte (5).


Die enorme Spannung, die die 6. Staffel von Beginn an besaß und mit einem umstrittenen Staffelfinale aufs Spiel setzte, deutet eher auf etwas anderes hin: Die Macher haben ihre erzählerischen Mittel verfeinert und können so ein fast unbegrenztes Spektrum völlig heteronomer Zielgruppen bedienen. Vielleicht werden wir alle mit Rick Grimes älter und fragen uns in zehn Jahren: Wie zum Teufel konnte es so weit kommen?
Der eigentliche Trick ist, dass wir beim Zuschauen zu Kollaborateuren werden. Ricks neue Moral erscheint umso unausweichlicher je boshafter die Schurken werden. „The Walking Dead“ unterminiert diese Logik aber pausenlos, gelegentlich auch recht zynisch. Denn egal, was die Figuren tun: Für gute Taten werden sie in Robert Kirkmans pessimistischen Kosmos nur selten belohnt.


Auch nach der sechsten Staffel wird „The Walking Dead“ nicht die Luft ausgehen. Es sei denn, man macht Fehler (6). Das könnte dauern, denn selbst TWD seine Quoten halbiert, wäre die AMC-Serie immer noch ein Renner.
Hinweise auf die mögliche Halbwertzeit der Show gibt es aber bereits. Zwar entstand nach dem mit Spannung erwarteten Staffelfinale bislang kein Shitstorm, aber Scott M. Gimple und seine Crew mussten immerhin in einer eilig einberufenen Pressekonferenz den Fans das mehr als umstrittene Staffelfinale erläutern, ohne dabei zu viel über die nächste Season zu verraten.
Auch die kurz vor dem Finale per Gerichtsbeschluss erwirkte Schließung einer Spoiler-Fanseite durch AMC zeigte, dass die Programmverantwortlichen mächtig unter Druck stehen. Das erinnert an die verzweifelten Rettungsversuche, die nach dem Ende von Lost“ stattfanden. 
In den Foren waren die Raktionen eindeutig: das Finale wurde als
cop out", als feige Drückebergerei bezeichnet (7). Sogar Arroganz wurde den Machern vorgeworfen. Tatsächlich hatte Showrunner Scott M. Gimple den Fehler begangen, den Glenn-Fake erneut auszuprobieren. Dies zeigt, dass Größenwahn und Niedergang" auch eine der erfolgreichsten Serien der Gegenwart schnell einholen können.


Fußnoten

(1) Crossmedial wird etwas erzählt, wenn die Geschichte (auch mit Abweichungen in der Handlung) in unterschiedlichen Medien erzählt wird. „The Walking Dead“ gibt es zum Beispiel als Comic, als Roman- und als TV-Serie. Crossover ist ein komplexer Begriff, der bei der Seriengestaltung oft verwendet wird, wenn es zu einem Auftritt einer Figur aus Serie A in Serie B kommt. Dies könnte der Fall sein, wenn eine Figur aus dem Spinoff „Fear The Walking Dead“ in der Mutterserie auftritt – und umgekehrt. Ob in der TV-Fassung die Übernahme eines Handlungselements aus den Comics mit diesem Begriff umschrieben werden kann, darf diskutiert werden.

(2) Beschreibt man den Begriff ‚Diegese‘, der die Gesamtheit aller Sachverhalte in einem fiktiven Erzählraum meint, zusätzlich mit Eigenschaften wie ‚Kongruenz‘, so bedeutet dies nicht einfach nur ‚Zusammenhang‘. Alle Handlungen und alle Motive der Akteure müssen in der Diegese üblicherweise und folgerichtig den Gesetzen, Strukturen und Prozessen entsprechen, die vom Erzähler geschaffen worden sind. Auf diese Weise bleibt die Diegese homogen im Sinne von ‚in sich geschlossen‘ oder ‚einheitlich‘.
 Wenn ein Ereignis in der Erzählung nur deshalb (aber nicht ausschließlich) ein extremes Spannungspotential erzeugen kann, weil der Erzähler die Präferenzen und Reaktionen, die Erwartungen, Hoffnungen und Ängste seiner Leser/Zuschauer antizipieren kann, wird die Kongruenz zwar nicht aufgehoben, erhält aber eine Bruchstelle. Oft ist das gewollt. Es kann eine Erzählung raffinierter und intelligenter machen, im schlimmsten Fall kann man einen Plot aber auch komplett vor die Wand fahren. Das, was in „Thank You“ mit Glenns "dumpster dive" inszeniert worden ist, kann man meiner Meinung nach nur einmal machen. Gimple & Co. machten es zweimal und ernten nun ein mittleres Erdbeben in den USA.

(3) Tim Goodman in „The Hollywood Reporter“ ist ist in diesem Zusammenhang lesenswert.
Zum Aspekt der Zuschauerbindung: In den USA hat sich seit mehreren Jahren die Bedeutung der Quoten verschoben, nachdem zeitversetztes TV dazu führte, dass viele Zuschauer die Erstaustrahlung nicht mehr „live“ verfolgten, sondern sich später per DVR (Festplattenrekorder) anschauten. Folglich machten sich die Producer Gedanken über neue Formen der Zuschauerbindung. Im Mittelpunkt stehen seit einiger Zeit Strategien, die auf ein höheres „audience engagement“ abzielen. Dieses Zuschauer-Engagement soll durch Contents mit einem hohen emotionalen Impact erzielt werden (z.B. Szenen wie Glenns vermeintlicher Tod). Ziel ist die generelle Bindung an einen Sender oder ein Network.
„Involvement“ ist ein Teil dieser Strategie. Sie zielt auf die nachrezeptive Phase und will, dass Zuschauer und Fans sich auch nach der Ausstrahlung ‚engagiert’ mit dem Produkt beschäftigen und z.B. über einen längeren Zeitraum in den Social Media austauschen. Die Episode „Thank you“ erfüllte diese Ansprüche vollumfänglich und beschäftigte die Fangemeinde wochenlang. Deshalb durfte die Auflösung auch nicht in der Folgeepisode zu sehen sein, sondern musste hinausgezögert werden. Es scheint aber so zu sein, dass Fans diese Strategie nicht mehr akzeptieren. Mehr dazu in: Sandra Ziegenhagen: Zuschauer-Engagement – Ein amerikanisches Konzept als neue Währung der Fernsehindustrie (2010, tv diskurs 1/2010, S. 50 ff.).

(4) Im Gegensatz zum deutschen Blätterwald wird im englischen Sprachraum die Beziehung der Serie zur Philosophie Friedrich Nietzsches etwas subtiler diskutiert: „By establishing Rick as a Nietzschian ubermensch, „The Walking Dead created a fascinating scenario in which he had to control the unsettling reality of such a person – through the relatively normal citizens of Alexandria. And that is far more interesting than witnessing the struggle of other “normal” characters to stay alive. I don't know if Robert Kirkman was aware he was creating a Nietzschian archetype when he decided to let Rick Grimes live through hell. But I suspect the writers of The Walking Dead are now at least somewhat aware of the over-powered superman they've spawned, and they are continuing to use him in fascinating ways.“

(5) Glaubt man der Erfahrung, dann geht horizontal erzählten Serien spätestens ab Staffel 7 die Luft aus. Premium-Produkte wie „The Wire“ waren nach fünf Staffeln auserzählt. Andere Serien, die vielleicht etwas voreilig das Siegel „Quality TV“ angeheftet bekamen, waren früher „fertig“: „Dexter“ ist ein Beispiel für narrative Atemnot. Wiederholt wurde am Ende das Immergleiche und der Tod einer beliebten Figur erzeugte in der finalen Season bei den Fans großen Widerwillen.
 „The Walking Dead“ wird eine Ausnahme sein. Ähnlich wie „Game of Thrones“ greift die Geschichte der laufenden Untoten auf einen umfangreichen Fundus zurück, der die Erzählung immer wieder anschiebt: die Comics von Robert Kirkman. 
Das mittelalterliche Ränkespiel um Macht und Größenwahn in Westeros hat dagegen ein Paket voller Romane als Backup, auch wenn GoT-Erfinder George Martin zuletzt mit dem Schreiben nicht mehr hinterher kam. In beiden Erzähl-Universen töten die Schöpfer ihre Kinder, auch die innig geliebten. Bislang hat dies nicht geschadet.

(6) Einige Szenen waren schon etwas merkwürdig. In „Thank You“ wird ein Mitglied der Gruppe, dem die Flucht über einen Zaun nicht gelingt, bei lebendigem Leibe aufgefressen, während die Gruppe fassungslos zusieht, ohne den Ärmsten von seinen Qualen und einem zukünftigen Zombie-Dasein zu erlösen. So etwas ist entweder zynisch, mindestens aber schlampig inszeniert. 

Recht merkwürdig war auch, dass die Episode mit den „Wölfen“ weder von Rick noch von den anderen anschließend diskutiert wird. Aus meiner Sicht ein Scriptfehler.
 Auch der Tod der jungen Ärztin in Ep 14 „Twice As Far“ wird aus meiner Sicht überflüssig sadistisch und fast auf lustvolle Weise zelebriert – was den anschließenden Shitstorm wohl noch gesteigert hat. Dabei hatte die Ärmste zuvor ihre Wehrhaftigkeit nachdrücklich unter Beweis gestellt – aber wie gesagt: gute Taten werden in TWD nicht belohnt.

Und last but not least: In „East“, der vorletzten Episoden, bewegen sich sich Daryl, Michonne, Glenn und Rosita in zwei Gruppen wie komplette Anfänger durch einen gut einsehbaren Laubwald und merken nicht, dass sie plötzlich von einem Dutzend Saviors umzingelt worden sind. Nicht nur hier hatte man das Gefühl, dass der Plot mit der heißen Nadel gestrickt wurde, um die Handlung in Richtung Staffelfinale zu treiben.


(7) Dabei hatten die Macher indirekt angekündigt, was folgen würde. 24 Stunden vor der finalen Folge rieten sie zum massenhaften Kauf von Taschentüchern und Windeln, weil man sich sonst in die Hose ... Danach ahnte ich, was kommen würde. Glauben konnte ich es nicht, weil irgendwann auch der schlichteste Fan mitkriegt, wenn er am Nasenring herumgeführt wird.
Viel spannender war das, was in den nächsten Tagen passierte. Glaubt man den Print- und Online-Medien, so gibt es im Moment nichts Wichtigeres zu tun, als all jene, die überhaupts noch nichts mitbekommen haben, vor Spoilern zu schützen. Vor jedem Text und im Titel unzähliger YouTube-Videos wird dringend vor Spoilern gewarnt. Im Beitrag selbst wartet dann meistens heiße Luft. Dies nimmt immer irrwitzigere Formen an. So verbuchte ein Audio-Beitrag über 1,5 Mio. Abrufe: bewiesen werden sollte, wen denn nun Negan in den Schlusssekunden der letzten Episode erschlägt. Klüger ist man hinterher nicht. Zumal Executive Producer Nicotero mitteilte, dass die entsprechende Szene überhaupt noch nicht gedreht worden sei. 


Noch dreister agierte ein deutscher Free-TV-Sender, der ein beweiskräftiges Video platzierte. Wer es anklickte, bekam dann ein Promo über Norman Reedus zu sehen. Er war in eine Clickbaiting-Falle gelaufen. Das ist grotesk. Einige Millionen Fans stürzen sich auf solchen Beiträge und saugen die vermeintlichen Spoiler auf, und danach beschweren sich einige im Forum über die Spoiler im Beitrag! Irrsinn und Scheinheiligkeit geben sich die Hand. Clickbaiting, das manipulative Erzeugen von vielen Klicks, funktionierte bislang durch reißerische Anmache der Zielgruppe, die anschließend mit einem Häppchen abgespeist wurde, das mäßig interessant war. Heute sind die Strategien ausgefeilter: Man gibt dem Neugierigen .... nichts! Anders formuliert: überhaupt nichts!! Anschließend hämmern die meisten tagelang wie besinnungslos auf die Maus, um endlich die angekündigten News zu erhalten. Laborratten sind häufig intelligenter. 

Dabei gehören Cliffhanger und das Spoilern von Inhalten zum Kerngeschäft der Medienindustrie und der Online-Anbieter. Klicks fördern das Geschäft mit der Werbung, gleichzeitig floriert das Merchandising und die Produzenten der Media Contents freuen sich über die gewonnene Kundenbindung.
Neulich entdeckte ich auf einer Seite sogar die Option, in Foren eigene Beiträge mit einem Spoiler-Button zu versehen. Wer ihn aufklappte, erfuhr dann ... persönliche Meinungen, Spekulationen und irrelevantes Gerede. Mein absoluter Favorit ist bis heute allerdings der Leser eines Beitrags über Astrophysik: Er beschwerte sich allen Ernstes darüber, dass in dem Beitrag die Existenz von Wurmlöchern bestritten wurde. Nun könne er sich nicht mehr
Interstellar" anschauen, da alles Wichtige gespoilert worden sei. Dabei ging es in dem Artikel nicht im Geringsten um diesen Film!

Dabei ist es ganz einfach: Wer nach der deutschen Erstausstrahlung aus schleierhaften Gründen beschließt, in Zukunft alle Streaming-Portale links liegen zu lassen, muss mindestens bis Oktober 2016 warten, um im Free-TV den Anfang der 6. Staffel und etwas später das Ende zu sehen. Und danach wartet er bis zum Oktober 2017, um die Auflösung zu sehen. Man muss sich also eineinhalb Jahre in der Wohnung einschließen, um nicht auf irgendeine Weise gespoilert zu werden. Vertreiben wir uns inzwischen die Zeit mit "Fear The Walking Dead". Dazu mein Mega-Super-Spoiler: Es wird Cliffhanger geben!