Freitag, 11. März 2016

Am grünen Rand der Welt

Wahre Liebe ist das, was der Zuschauer im Kino auf den ersten Blick entdeckt: Bathsheba Everdene, die selbstbewusste Gutsbesitzerin, und der gut aussehende und charakterfeste Schafbauer Gabriel Oaks – das passt vom ersten Moment an. Doch weit gefehlt: die junge Frau sträubt sich gegen das Offensichtliche und entscheidet sich für einen saufenden Hurenbock, der beinahe ihr gesamtes Vermögen verprasst und sie wie Dreck behandelt. „Am grünen Rand der Welt“ wäre keine zwei Zeilen wert, hieße der Regisseur nicht Thomas Vinterberg. Und der hat von 18 Jahren einen der ersten Dogma-Filme gemacht: „Das Fest“.

Ein großer Freund der Dogma-Bewegung bin ich nie gewesen. Thomas Vinterberg und Lars von Trier („Idioten“) waren 1995 die geistigen Ziehväter einer Idee, die das Kino immer wieder in regelmäßigen Abständen anfällt: der Wirklichkeitswahn.
 Bloß weg vom Hollywood-Kino mit seinen Illusionsfabriken, gefilmt wird nur noch mit der Handkamera, ohne Kunstlicht, ohne künstliche Settings und Musik hört man nur, wenn sie in der Handlung vorkommt. Morde und Gewalt dürfen im Kino nicht mehr gezeigt werden, die Handlungen haben im Hier und Jetzt zu spielen, Genrefilme sind verboten. Und hält man sich konsequent an das „Keuschheitsgelübde“ (
Vow of Chastity“), so bekommt man zur Belohnung wieder ein unverfälschtes wirklichkeitsnahes Kino, authentisch und der Wahrheit verpflichtet.

Da ich generell sehr skeptisch auf den Begriff „Wahrheit“ reagiere – besonders dann, wenn er im Kino an formale Kriterien gekettet wird – waren meiner Erwartungen an Dogma 95 sehr begrenzt. Auch Thomas Vinterbergs „Das Fest“ war für mich eher ein anti-bürgerlicher Reflex ohne Beweiskraft. 
Die Gründer der Bewegung müssen geahnt haben, dass man der Wahrheit nicht allein durch wackelige Bilder nähert kommt: Die Filmemacher, die sich Vinterberg und von Trier anschlossen, setzten nie 1:1 das rigide Programm um. Nach einer Handvoll Filmen war es vorbei und die Dogma 95-Bewegung wurde zwar mit einigen Preisen gewürdigt, erreichte aber nie die Bedeutung der französischen Nouvelle Vague. Dogma 95 – das erinnert heute in seiner Programmatik an jene Form der bürgerlichen Gesellschaftskritik, die das Symptom kurieren will, dabei aber die Krankheit nicht begreift. Statt die ökonomischen Gesetze der global agierenden Filmindustrie zu verstehen, gab es ästhetische Schelte – und ein Manifest, das es beinahe jedem ermöglichte, einen Dogma-Film zu machen.

Lars von Trier beendete rasch sein Dogma-Intermezzo, Thomas Vinterberg zeigte in dem mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichneten Film „Die Jagd“, dass man auch mit konventionellen Mitteln großes Kino machen kann. Auch die anderen Dogma-Mitglieder drifteten ab: Kristian Levring drehte 2014 mit „The Salvation“ einen Edel-Italowestern und in Susanne Biers Filmographie lassen sich Dogma-Paradigmen längst nicht mehr entdecken. 2011 erhielt sie für „In einer besseren Welt“ den Oscar für den Besten Fremdsprachigen Film und zeigte mit „Love Is All You Need“, dass man ausgelutschten Genres wie der romantischen Komödie mit genauem Hinschauen und einer klischeefreien Betrachtung menschlicher Beziehungsabgründe wieder Leben einhauchen kann.


Taumelnde Libido

Nun also die Verfilmung eines Romans des großen Thomas Hardy (1840 – 1928), dessen romantische Sujets bekanntlich mit einem handfesten Realismus unterfüttert wurden. Thomas Vinterberg geht mit der Adaption von Hardys Erfolgsroman „Am grünen Rand der Welt“ (Far from the Maddding Crowd) dieses Genre ganz und gar anders an, Realismus ist nicht das Ziel, aber immerhin sieht alles prächtig aus. Die Bilder der Kamerafrau Charlotte Bruus Christensen zeigen Süd-England und die Landschaften um Oxfordshire in erlesener Güte. Das war schon immer der Mehrwert von Filmen, die im viktorianischen England spielen. Taugen die Filme nichts, so hatte man wenigstens gut anzuschauende idealisierte Landschaften gesehen.

Das Personal aus Hardys Roman ist schnell arrangiert: Bathsheba Everdene (Carey Mulligan) lernt den Schafbauern Gabriel Oak (Matthias Schoenaerts) kennen. Mit den Worten „Ich will kein Besitz sein. Ich bin unabhängig“ lehnt die junge Frau den wohl etwas zu hastig und ungelenk vorgetragenen Heiratsantrag des Verliebten ab. Oaks, das wird schnell klar, ist ein kompetenter Tausendsassa. So einen könnte Bathsheba  erst recht gebrauchen, nachdem sie das Gut ihres Onkels geerbt hat. Doch Pustekuchen, Bathsheba will sich allein durchsetzen. Das gelingt und sie profitiert dabei auch von Gabriels Können, den sie flugs einstellt, nachdem dieser auf obskure Weise seine Schafherde verloren hat. 

Natürlich gibt es auch andere Männer, die ein Auge auf die hübsche Großgrundbesitzerin geworfen haben. Etwa William Boldwood (Michael Sheen), der etwas älter ist und zwar keine romantischen Gefühle bei Bathsheba auslösen kann, dafür scheinbar unbegrenzt reich ist und seine Angebetete daher von allen Risiken der einheimischen Agrarwirtschaft befreien kann: Landwirtschaft als Hobby sozusagen.
Aber erst als Sergeant Frank Troy (Tim Sturridge) mit schönem Schnurrbart auftaucht und Bathsheba mit einer martialischen Fechteinlage nächstens im Wald beeindruckt, ist es erotisch um sie geschehen. Man heiratet schnell, doch wie von Gabriel prophetisch angekündigt, erweist sich Troy als chauvinistischer Tunichtgut, der immer noch seiner wahren großen Liebe nachtrauert, nun aber wenigstens jemanden gefunden hat, der für seine immensen Spielschulden bürgt.

Im Taumel der Gefühle machen Carey Mulligan und Matthias Schoenaerts eine gute Figur. Eindrucksvoll und kraftvoll ist Carey Mulligan von Beginn an, etwa wenn sie in gestrecktem Galopp auf dem Pferderücken eine Freiheit findet, die Frauen im viktorianischen England nicht ohne Weiteres zugestanden wurde. Auch Tim Sturridge gibt den Womanizer richtig fies, während
Schoenaerts so ruhig, überlegt und warmherzig spielt, als gäbe es ohne ihn kein Morgen. Warum dann aber ausgerechnet ein banaler Filou wie Troy es schafft, in einer intelligenten und souveränen Frau eine animalische Sexualität mit masochistischer Gemengelage freizusetzen, ist nicht nachvollziehbar. Es sei denn, man bedient sich uralter frauenfeindlicher Klischees über das Verhältnis von weiblicher Libido und Verstand.

Emanzipation und Unterwerfung

Vinterbergs Rückkehr zu den Klischees, die er vor fast 20 Jahren beseitigen wollte, hat viel Lustvolles: nämlich eine Geschichte mit einer vorhersehbaren Dramaturgie zu erzählen, mit Hilfe einer oberflächlichen Handlung bewegende Emotionen zu evozieren und nahezu ironiefrei falsches Pathos und die Illusion von Liebe heraufzubeschwören. Also all das, was die Dogma-Gruppe entlarven wollte.

Erstaunlich: „Am grünen Rand der Welt“ ist nicht einmal schlecht geraten. Die Selbständigkeit einer Frau, die sich zuallererst ökonomisch begründet und im Sozialen ihren Status immer wieder neu erobern muss, passt auch gut in die Agenda der aktuellen Jane Austen-Adaptionen für die große Leinwand. Wenn die fiktiven Frauen dieser Epoche frei sein wollten, mussten sie sich an den Konventionen abarbeiten, die Autoren und Autorinnen halt zuvor an den literarischen. Aber diese wurden dabei auf den Prüfstand gestellt und nicht etwas affirmativ abgebildet.
„Am grünen Rand der Welt“ bewegt sich in diese Richtung. Dass der Film kein Flop ist, liegt daran, dass Vinterberg das Melodram mit einem tiefen Ernst und gnadenloser Konsequenz beim Wort nimmt. In die Geschichte einer der ersten Emanzen der viktorianischen Literatur baut er etwas Eckiges, Kantiges und Widerborstiges ein: Die Unberechenbarkeit der weiblichen Sexualität.

Das hätte spannend sein können, nämlich eine Thomas Hardy-Verfilmung zu infiltrieren und das Eckige und Kantige genauer zu betrachten. Das geschieht nicht.
„Frau“ verliert ihren Verstand, „Mann“ muss fürsorglich aufpassen, dass sie dabei nicht zugrunde geht. Aber nur in der Welt von Hedwig Courths-Mahler und Rosemunde Pilcher darf der weibliche Verstand so sehr entgleisen, dass „falsche Liebe“ in die Zerstörung führt und nur „wahre Liebe“ das Verhängnis im allerletzten Moment aufhalten kann. Vinterberg gelingt keine Distanz zu diesem Stereotyp. So ist das Happyend in „Am grünen Rand der Welt“ daher eine weitere verspielte Form von Unterwerfung – aber diesmal finden wenigstens Neigung und ökonomische Nützlichkeit zusammen und jene, die endlich zueinander gefunden haben, unterwerfen sich sozusagen gegenseitig. Immerhin hat Letzteres etwas Witz. Trotz dieser Volte ist „Am grünen Rand der Welt“ artifiziell und ein Statement. Thomas Vinterbergs hübsch illustrierte Literaturverfilmung ist nämlich ein anti-feministischer Film.

Noten: Melonie = 4, BigDoc = 3,5

Am grünen Rand der Welt (Far from the Madding Crowd) – GB 2015 – Regie: Thomas Vinterberg – Laufzeit: 119 Minuten – FSK: ab 6 Jahren – D.: Carey Mulligan, Matthias Schoenaerts, Michael Sheen, Tom Sturridge, Fanny Robin