Donnerstag, 3. März 2016

Spotlight

Immer weniger Menschen lesen Zeitung. Und einige von denen, die es tun, glauben den Journalisten nicht mehr. Es überrascht nicht, dass nach dem Triumph des investigativen Thrillers „Spotlight“ bei der Oscar-Verleihung 2016 die schreibende Zunft dies als Eloge auf ihre Arbeit feiert. Das ist verständlich: Reporter enthüllen ein pädophiles Netzwerk in der katholischen Kirche von Boston und erhalten dafür den Pulitzer-Preis. Aber auch ohne diesen kollegialen Zuspruch hätte der Film die Oscars verdient.

Andreas Kilb schrieb am 21. Februar in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Das ist er, der Film, der in diesem Jahr die Oscars verdient hat. Für die beste Regie, das beste Drehbuch, die beste Kamera, den besten Schnitt. Und als bester Film.“

So etwas schreibt man, wenn man erwartet, dass es nicht geschehen wird. Aber es passierte eine Woche später und ich gebe zu, dass ich mit dem Kinobesuch bis zum Tag der Academy Awards gewartet habe. Man schaut sich natürlich erst einmal die ‚heißen’ Oscar-Kandidaten an. Ein kleinteiliger Dialogfilm über investigativen Journalismus rutscht da schnell auf den letzten Platz der Liste. Als ich dann das Kino verließ, wusste ich, dass Andreas Kilb Recht hat.

Gut, über Kamera und Schnitt lässt sich streiten, aber auch die handwerklichen Awards wären kein Fehlgriff gewesen. „Spotlight“ ist nämlich eine Geschichte über das Handwerk. Maurer sind Handwerker, Journalisten auch. Beide müssen so arbeiten, dass ihr Bauwerk später nicht zusammenbricht. Der Maurer verwendet Steine und Ziegel, Mörtel und Maurerkelle, der Journalist sammelt Fakten, Quellen und Zeugenaussagen, benutzt Notizbuch, Computer und Archiv. Am Ende muss seine Story allen Anfechtungen Strand halten können, wie das Haus dem nächsten Sturm. Und ein Sturm kommt immer.

Horror in Zahlen

2001: Wieder einmal machen im 1872 gegründete „Boston Globe“ Gerüchte über Finanzprobleme die Runde. Der neue Executive Editor Marty Baron (Liev Schreiber) stellt das Traditionsblatt auf den Prüfstand, auch das berühmte Spotlight-Team um Walter Robinson (Michael Keaton), das oft einige Monate braucht, um eine Enthüllungsstory zu recherchieren. Baron lenkt den Fokus des Teams auf ein neues Thema. Angeblich soll der Erzbischof von Boston, Kardinal Law (Len Cariou), seit Jahren Kenntnis davon haben, dass der Priester John Geoghan regelmäßig Kinder sexuell missbraucht. 
Robinson und seine Mitarbeiter Michael Rezendes (Mark Ruffalo), Sacha Pfeiffer (Rachel McAdams) und Matt Carroll (Brian d’Arcy James) finden bei ihren Recherchen heraus, dass auffallend viele Priester aus unterschiedlichen Gründen in andere Gemeinden versetzt werden. Die Aussagen einiger Zeugen und Opfer schärfen den Blick des Spotlight-Teams für den möglichen Umfang des Skandals. Wenig später stehen bereits 87 Namen von verdächtigen Geistlichen auf der Liste des Investigations-Teams. Und das entspricht einer bekannten Statistik, die den Journalisten vorgelegt wird. So sieht der Horror der Zahlen aus.

Ausgerechnet Boston! Boston ist eine der reichsten Städte der Vereinigten Staaten. Die Stadt versteht sich als intellektuelles, kulturelles und technologisches Zentrum, in dem auch die katholische Kirche eine wichtige Rolle spielt. Tom McCarthy zeigt auf hintergründige und unspektakuläre Weise, wie die wohlhabenden Bürger ihre Identifikation mit der Stadt durch Mäzenatentum und karitative Leistungen ausdrücken. Eine geschlossene Gesellschaft, die keineswegs bigott ist, aber auch kein Interesse daran hat, dass der Ruf der Stadt beschädigt wird. Sichtbar wird dies in dem Film an der Figur des Assistant Managing Editors
Ben Bradlee Jr. (John Slattery, Mad Men), der zum Bostoner Establishment gehört und voller Zweifel ist, den Recherchen aber keinen Stein in den Weg legt. Für Verschwörungstheorien ist in „Spotlight“ nämlich kein Platz, die Mächtigen der Stadt vertreten weder einen verschworenen Clan noch verbergen sie hinter ihren Fassaden mafiöse Abgründe – sie wollen nur unter sich bleiben und schützen sich. Da wird schon mal der Zugang zu Dokumenten erschwert, die eigentlich jedermann öffentlich zugänglich sein sollten.

Gott kann sich nicht irren

Männer wie der jüdische Journalist Marty Baron gehören nicht zum inneren Zirkel der Stadt. Liev Schreiber spielt den neuen Chef im Bostoner Renommierblatt nicht als charismatischen Rhetoriker, der alle mitreißt, sondern als sachlich kalkulierenden Mann, der jeden Satz zweimal umdreht, bevor er ihn ausspricht. Das fasziniert. Und überhaupt: „Spotlight“ ist ein großartiger Ensemblefilm, der ohne Ruffalo, Keaton, McAdams und all die anderen trotz des hohen moralischen Anspruchs möglicherweise gar nicht funktionieren würde oder als dröges Faktenkino daherkommen würde. Bebilderter Schulfunk ist McCarthys Film aber nicht, denn jenseits der unglaublich akribischen Arbeit der Journalisten zeichnen ihre Gesichter zunehmend das Grauen nach, dass ihnen während der Treffen mit den Opfern begegnet. Gott könne sich nicht irren, beantwortet einer der als Kind Missbrauchten die Frage, warum dies alles so lange und ohne Widerstand geschehen konnte.

Zum Glück verzichtet McCarthy weitgehend auf Privates und irgendwelche Backstorys. Man sieht Journalisten bei der Arbeit, mehr nicht. Und das ist viel, denn jeder Beweis und alle Quelle müssen doppelt und dreifach abgesichert sein, sonst würde die Story platzen. Nun einmal, als Matt Carroll erfährt, dass sich ausgerechnet in der Straße, in der wohnt und in der seine Kinder spielen, eine diskrete Therapieeinrichtung für pädophile Priester befindet, erreicht der Skandal einen der Spotlight-Journalisten ganz privat in seinem Alltag. Wenn der „Globe“ schließlich die Story veröffentlicht, wird Caroll schweigend einen großen Stapel Zeitungen auf die Türschwelle des Hauses legen.

Eigentlicher Held der Story ist aber Stanley Tucci als Mitchell Garabedian, ein Rechtsanwalt, der bis heute zahllose Missbrauchsopfer vertritt und enorme Summen für die Opfer erstritten hat. Garabedian steht täglich mit beiden Füßen im Sumpf -  ein verhärteter, leicht aufbrausender Mann, dessen anfänglich begrenztes Vertrauen sich Michael Rezendes erst verdienen muss. Am Ende ist es dieser Anwalt, der die Story endgültig mit beweiskräftigen Dokumenten untermauern hilft. Die Bilanz ist verheerend: Jahrelang war der Kirche der massenhafte Missbrauch von Kindern bekannt, doch mit Versetzungen und therapeutische Maßnahmen wurde ein Mantel des Schweigens über dem Skandal ausgebreitet. Noch heute vertritt Mitchell Garabedian die Auffassung, dass die Kirche die Übergriffe wissend toleriert hat. Die Wogen sind also längst nicht geglättet.

Die Filmkritikerin einer Frankfurter Tageszeitung freute sich über die Diskretion, die Tom McCarthy bewies, als er es vermied, im Film den Missbrauch abzubilden. Dass das Verständnis von Diskretion in der Kritik eilfertig auch auf die Unantastbarkeit des Glaubens ausgeweitet wurde, der von dem Film angeblich nicht in Frage gestellt wird, ist mehr als grenzwertig. 
Unter die Haut gehen die Erlebnisberichte der Opfer besonders dann, wenn ihre ganze Wehrlosigkeit spürbar wird. Denn wehrlos sind die Kinder nicht, weil sie von Einzeltäter genötigt wurden, sondern weil sie die Omnipotenz des Systems spürten, dass die Täter vermeintlich repräsentierten. So quält in „Spotlight“ einen Mann immer noch die Frage, die er sich als Kind stellte, wenn der Priester zugriff: Ist dies nicht etwa von Gott so gewollt?

Die Spotlight-Redaktion vollzieht auf Drängen Barons den Schritt von der Aufsummierung der Einzelfälle hin zu einer systemischen Fragestellung recht schnell. Wenn die schändlichen Taten von McCarthy nicht en detail gezeigt werden, dann ist dies Respekt vor dem Leid der überlebenden Opfer, es liegt sicher auch daran, dass er sich das journalistische Credo der Journalisten zueigen gemacht hat: Man schreibt nicht, wenn man es nicht genau belegen kann. Und man zeigt angesichts der Thematik nichts auf der Leinwand, wenn es im Detail nicht hieb- und stichfest stimmt.
Wenn der Film im Abspann die vielen Diözesen zeigt – dies geht weltweit in die Hunderte -, in denen von Priestern systematisch und nicht etwa vereinzelt Kindesmissbrauch begangen wurde, dann stellt sich sehr wohl die Frage nach dem Glauben und den Bedingungen seiner Entgleisung. Es dürfte kein Zufall sein, dass in der Woche nach der Oscar-Verleihung die Öffentlich-Rechtlichen den deutschen Fernsehfilm „Und alle haben geschwiegen“ aus dem Jahre 2012 wiederholte, der von einer ganz anderen Art von Missbrauch erzählt, nämlich von der Gewalt gegen Kinder in katholischen Kinderheimen.

Natürlich ist „Spotlight“ kein Enthüllungsfilm, denn der Bostoner Skandal ist bekannt und unzweifelhaft belegt. Erfreulich ist aber, dass die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Spotlight-Journalisten keine Halbgötter der schreibenden Zunft sind. Sehr oft werden die Journalisten mit der Aussage konfrontiert, dass sie doch bereits alle erforderlichen Unterlagen haben. Eine Verschwörung innerhalb des „Globe“? Nein, am Ende erinnert sich ausgerechnet Walter Robinson daran, dass er dem Quellmaterial nicht die erforderliche Beachtung geschenkt hatte. Michael Keaton spielt diese Szene bewegend gut. Es zeigt, dass der Weg zur Wahrheit steinig und voller Fehler ist. Das ist so ehrlich wie der ganze Film.

Spotlight - USA 2015 – Regie Tom McCarthy – Buch: Tom McCarthy, Josh Singer - D.: Marty Baron (Liev Schreiber), Executive Editor, Herausgeber - Walter Robinson (Michael Keaton), Chefredakteur des Spotlight-Teams - Michael Rezendes (Mark Ruffalo), Sacha Pfeiffer (Rachel Mc Adams), Matt Carroll (Brian d’Arcy James), Journalisten und Mitglieder des Spotlight-Teams - Ben Bradlee Jr. (John Slattery), Assistant Managing Editor, Projektleiter - Mitchell Garabedian (Stanley Tucci) – Laufzeit: 128 Minuten – Academy Awards 2016: Bester Film, Bestes Originaldrehbuch – FSK: ab 0 Jahren.


  • „Spotlight – Corruption, Scandal & Accountability – Three shining investigative stories from the The Boston Globe Spotlight Team“ ist als e-book erschienen und wird kostenfrei als Download auf der Seite des „Boston Globe“ zur Verfügung gestellt.

Noten: BigDoc = 1,5, Melonie = 2