Freitag, 11. Juni 2021

Der Giftanschlag von Salisbury - gut recherchierte BBC-Miniserie


Unaufdringlich, aber eindringlich: ARTE präsentierte am 10. Juni den englischen TV-Dreiteiler „The Salisbury Poisonings“ in einem Rutsch als Vierteiler. Für BBC-One erzählen die beiden Showrunner Adam Patterson und Declan Lawn die Geschichte nicht als Agententhriller, sondern als Drama, das die Arbeit der lokalen Gesundheitsbehörde in den Mittelpunkt rückt.
Eine kluge Entscheidung, denn die verheerenden Folgen des 2018 erfolgten Giftanschlags auf den ehemaligen russischen Agenten Sergei Skripal und seine Tochter dürften in ihrem Ausmaß wohl nicht jedem Zuschauer bekannt sein. Tatsächlich stand die südenglische Kleinstadt Salisbury am Rand einer Katastrophe. Fast dokumentarisch setzt die Serie die Metapher vom „schleichenden Gift“ in eindringliche Bilder um, die ihren Horror daraus beziehen, dass der Feind unsichtbar bleibt.

Keine plakativen Horrorbilder

Zunächst sieht alles nach einer Überdosis Drogen aus. Ein 60-jähriger Mann und eine deutlich jüngere Frau sitzen in katatonische Starre auf einer Parkbank. Sie zucken, Erbrochenes ist zu sehen, dann sinkt die Frau zusammen.

Die Identität der beiden ist schnell ermittelt. Es handelt sich Sergei Skripal und seine Tochter Julia. Offiziell war Skripal Mitglied des russischen Militärnachrichtendienstes GRU, tatsächlich aber versorgte er den britischen MI6 bis zu seiner Aufdeckung im Jahre 2004 mit Geheimmaterial. 2010 konnten sich die Skripals nach einem Gefangenenaustausch in Salisbury niederlassen. Verblüffend: der Ex-Agent durfte seinen Klarnamen behalten.

Auch die Ursache der lebensbedrohlichen Symptome bleibt nur für kurze Zeit ein Geheimnis: vergiftet wurden die Skripals mit dem Nervengift Nowitschok, das mutmaßlich von Russland entwickelt wurde. Bekannt wurde die Existenz des Kampfstoffs erst Mitte der 1990er-Jahre durch den russischen Chemiker Wil S. Mirsajanow, der später in USA emigrierte. Tückisch ist Nowitschok, weil es die Blut-Hirn-Schranke überwindet und direkt das Zentralnervensystem attackiert. Meist tödlich.

Den Showrunnern Patterson und Lawn gelingt es, auf plakative Horrorbilder zu verzichten, ohne den Schrecken zu beseitigen. Im Gegenteil. Wenn man erfährt, dass ein Teelöffel des Gifts das Potential besitzt, um Tausende Menschen zu töten, erhält seine chemische Funktion als Kontaktgift eine erschreckende Dimension.
Das erfahren auch die Personen, die mit Nowitschok zu tun bekommen. Skripal und seine Tochter werden nur gelegentlich in der Intensivstation des Krankenhauses gezeigt, in dem die Ärzte gegen einen scheinbar unüberwindlichen Gegner kämpfen. In dem Mittelpunkt rücken andere Personen. Da ist der ermittelnde Polizist Nick Bailey (Rafe Spall, „Jurassic World: Fallen Kongdom“„Men in Black: International“), der auf zunächst ungeklärte Weise Kontakt mit dem Gift hat. Es dauert einige Tage, bis Bailey kollabiert und ebenfalls um sein Leben kämpfen muss.
Und da ist die 45-jährige Tracy Daszkiewicz (Anne-Marie Duff, „His Dark Materials“, „Sex Education“), die Leiterin der örtlichen Gesundheitsamtes, die mit einer Bedrohung konfrontiert wird, deren wahres Ausmaß sie den politischen Entscheidern glaubhaft vermitteln muss. Denn das Attentat, das auf politischer Ebene schnell zu einer Krise wird, in der sich Theresa May und Wladimir Putin als Antagonisten gegenüberstehen, ist kein eingrenzbares Ereignis. Vielmehr verbreitet sich Nowitschok wie ein Virus, weitergetragen durch Kontaktpersonen, die Türklinken, Tisch und Stühle oder nichtsahnend in Pubs Gläser  anfassen. Das Gift kann also überall sein und es baut sich erst nach 50 Jahren ab.
Tracy Daszkiewicz muss ein kleinteiliges System der Kontaktrückverfolgung aufbauen und beinahe an jedem Ort nach dem Gift suchen lassen. Selbst Autos werden beschlagnahmt und zuvor in Plastikfolie verpackt. Über diesen Dekontaminierungsmaßnahmen schwebt zudem das Damoklesschwert einer Evakuierung der gesamten Bevölkerung. Dass man durch diese Erkenntnisse an den Rand einer Paranoia betrieben wird, verkörpert Anne-Marie Duff so eindringlich, dass sich beim Zuschauer der Schrecken genauso langsam einschleicht wie das Gift in die Körper seiner Opfer.

En passant wird auch die Geschichte der alkoholkranken Dawn Sturgess (MyAnna Buring, u.a. „Downton Abbey“) und deren Freund Charlie Rowley
erzählt  (Johnny Harris spielte 2015 zusammen mit Anne-Maire Duff in dem vierteiligen BBC-Krimi „From Darkness“), zwei Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben und gelegentlich in Mülleimern nach Dingen des täglichen Lebens suchen. Diese Nebenhandlung hat scheinbar nichts mit den Ereignissen zu tun, die im Frühjahr 2018 beginnen, aber auch wenn er nicht allzu sehr mit den realen Ereignissen vertraut ist, ahnt der Zuschauer, dass die beiden Figuren eine tragische Rolle spielen werden. Als Charlie ein Flakon nach Hause bringt und Dawn das vermeintliche Parfüm aufträgt, ist dies ihr Todesurteil. Für Tracy Daszkiewicz und ihre Behörde ist dagegen eine Kontaminierung, die neun Meilen entfernt von Salisbury auftritt, eine apokalyptische Wendung, die nimand mehr erwartet hat.

Realistisch erzähltes Giftdrama am Rande der Pandemie

„Der Giftanschlag von Salisbury“ ist ein restlos überzeugend recherchiertes Drama, das unaufdringlich, aber eindringlich die wahren Ereignisse rekonstruiert, die sich in den südenglischen Küstenstadt vor drei Jahren ereigneten. Auch erzählerisch findet die Miniserie ihren eigenen Weg. So verzichtet Regisseur Saul Dibb auf klischeehafte Backstorys der Figuren, auch wenn die zunehmende Entfremdung von ihrem 12-jährigen Sohn, die Tracy Daszkiewicz als Mutter zunehmend verzweifeln lässt. Das ist zwar ein vorhersehbares Erzählmittel, aber es wirkt nicht gekünstelt, denn die meisten Protagonisten interagieren solidarisch und einfühlsam. Künstliche Krisen oder Überspitzungen zur Steigerung der Spannung werden nicht erfunden, das Drama wird realistisch erzählt. Dass die Skripals den Anschlag überleben, erfährt man lediglich nebenbei.

Vergleiche mit Sars-CoV-2 drängen sich dabei durchaus auf. Logistisch gibt es Parallelen und es überrascht auch nicht, dass die echte Tracy Daszkiewicz aktuell bei der Bekämpfung von Covid-19 in Großbritannien eine wichtige Rolle spielt. Aber die Unterschiede sind evident: in Salisbury wurde die Öffentlichkeit nicht vollständig über den vollen Umfang der Bedrohung informiert. Aber wenn sich auf einer öffentlichen Bürgerversammlung empörte Menschen über die für sie undurchschaubaren Aktivitäten der Gesundheitsbehörde beklagen, erinnert das nur am Rande die Vergiftung der öffentlichen Debatten in Corona-Zeiten. Wenn es einen Schwachpunkt in der BBC-Serie gibt, dann ist es allerdings die fehlenden Debatte über die mediale und öffentliche Informationspolitik während der Krise.

„Der Giftanschlag von Salisbury“ ist so gesehen ein wenig der wohltemperierte Gegenentwurf zu dem deutlich spektakuläreren „Contagion“ von Steven Soderbergh und damit eher der kleine Bruder von Craig Mazins HBO-Serie „Chernobyl“ (2019), die zwar die politischen Aspekte nicht aussparte, aber ebenfalls den Fokus auf die betroffenen Menschen und mehr noch auf die Selbstzweifel und Traumata der Krisenbewältiger richtete, die sich in einer beinahe ausweglosen Situation befinden.
Düsternis macht sich wie in „Chernobyl“ nur langsam in „Der Giftanschlag von Salisbury“ breit. Dies liegt auch an dem sich einschleichenden düsteren Soundtrack von Rael Jones, der sich vor den Klangbilder Hildur Guònadóttirs in „Chernobyl“ nicht verstecken muss.

Wie in „Chernobyl“ zeigt die BBC-Miniserie, wie sich pathologische Katastrophen mittel- und unmittelbar auf Menschen auswirken, die nicht ahnen können, was sie erwartet und wie schwer die Rückkehr in die Normalität sein wird. Nick Bailey, der Cop erfährt dies, als er aus dem Krankenhaus entlassen wird und der Nachbar seinen Gruß nicht erwidert. „Hält der mich für toxisch“, fragt Nick seine Frau Sarah (Annabel Scholey). Im Dienst klammert er sich an seinen Schreibtisch, als er eigentlich zu einem neuen Tatort aufbrechen sollte. Als „The Salisbury Poisonings“ in der Post-Production war, konnten die Macher im Abspann noch optimistisch verkünden, dass Nick Bailey im Polizeidienst geblieben ist. Tatsächlich gab er im Oktober 2020 auf. Der Abspann zeigt dann die tatsächlichen Figuren des Dramas. Eine gute Idee.

Note: BigDoc = 1,5

Der Giftanschlag von Salisbury (The Salisbury Poisonings) - BBC 2020, vier Episoden (ARTE) - Länge: ca. 165 Minuten - Showrunner: Adam Patterson und Declan Lawn - Regie: Saul Dibb - Musik: Rael Jones - D.: Rafe Spall, Anne-Marie Duff u.a.