Donnerstag, 16. Februar 2017

Die Insel der besonderen Kinder

Ein melancholischer und gleichzeitig etwas reißerischer Tim-Burton-Film ist es geworden, die Adaption von Ransom Riggs „Miss Peregrine’s Home for Peculiar Children“, die in Deutschland mit dem Verleihtitel „Die Insel der besonderen Kinder“ an den Start gegangen ist. Ein pubertierender 16-Jähriger muss seinen Mut und einen Platz in der Welt entdecken. Dazu soll er Monster bezwingen und herausfinden, ob er in die Welt der Erwachsenen zurückkehren will. Er will es nicht.

Jake Portman (Asa Butterfield) gehört zu den Kindern, die von ihren Eltern aufgezogen werden, aber Nähe und Aufmerksamkeit bei Opa und Oma finden. In Jakes Fall ist es Großvater Abraham (Terence Stamp in einer schönen Altersrolle), der viel gereist ist und mysteriöse Geschichten erzählen kann. Etwa die von einer Insel, auf der er als junger Mann einige Kinder mit besonderen Fähigkeiten kennenlernte. Aber plötzlich verschwindet Abraham, Jake findet ihn tot im Wald und entdeckt, dass sein Großvater keine Augäpfel mehr hat. Und plötzlich erscheint schemenhaft eine monströse Kreatur in der Dunkelheit. Jake erzählt seinen Eltern davon und das bringt den Jungen zwar nicht in die Klapse, aber immerhin zum Psychiater. Der ist eine etwas unterkühlte Frau (Allison Janney), die natürlich alles etwas hochnäsig umdeutet. Und prompt stellt sich die Frage, warum Kindern den Erwachsenen überhaupt etwas darüber erzählen sollen, was sie sehen und wovon sie träumen.



Die Wahrnehmung der Welt ist nicht sonderlich erwachsen

Die Erwachsenen kommen also von Anfang nicht gut weg bei Tim Burton. Der muss auch nicht großartig tricksen, um die Zuschauer auf die Seite seiner Hauptfigur zu ziehen. In der filmischen Diegese ist nämlich das, was man sieht, real – es sei denn, man ist in einem Mindfuck-Movie. Das ist hier nicht der Fall und somit hat auch der Zuschauer wirklich ein Monster im Wald gesehen. 
Punkt.
In der Welt Tim Burtons sind es die fiktiven Erwachsenen, die so etwas aber keineswegs sehen und wenn sie es tun, dann leugnen sie es. Diese Überwältigungsmaschine mit ihren empirischen Beweisen und realistischen Rationalitätsansprüchen bemächtigt sich auch in Tim Burtons Film sofort der kindlichen Phantasie der jungen Hauptfigur – kann er sich diesen Einflüssen entziehen, wartet möglicherweise Schreckliches auf ihn, aber vielleicht auch der Sieg der Träume und damit die Freiheit. So in etwa kann man Tim Burtons Sicht der Dinge beschreiben.

Somit kommt die Geschichte von Tim Burtons Film nur als Kompromiss mit dem Deutungsanspruch der Erwachsenen in Fahrt: die Psychiaterin rät zur Vergangenheitsbewältigung. Eine Handvoll alter verblichener Fotos und Abrahams rätselhafte Geschichte über eine Insel vor der walisischen Küste, auf der im „Home for Peculiar Children“ einer gewissen Miss Peregrine viele Kinder mit merkwürdigen Fähigkeiten wohnen, führen Vater (Chris O’Dowd) und Sohn auf eine gemeinsame Reise nach Cairnholm (Wales). Jake soll selbst erkennen, dass an den alten Geschichten nichts dran ist und dass er gefälligst Abschied nehmen und die Realität akzeptieren soll. Aber die Vater-Sohn-Geschichte nach tradierten Mustern entfällt, denn natürlich stimmen die alten Geschichten des Großvaters. 


Ein Leben in der Schleife

In Tim Burtons Geschichten treffen Märchen und Horror zwangsläufig aufeinander. Das Märchen befriedigt die tiefe eskapistische Sehnsucht der Kinogänger, der Horror führt in Burtons neuem Film die Hauptfigur nicht zum Coming-of-Age, sondern beansprucht eine eigene Welt in der ihm vertrauten. Dort muss man aber auch irgendwie erwachsen werden, zumindest sich bewehren, und in „Miss Peregrine’s Home for Peculiar Children“ wird somit die Initiation der jugendlichen Hauptfigur eingeleitet. Die ist aberr zunächst eher schüchtern und ohne Selbstvertrauen und muss nun die sonderbaren Gesetzte der Magie akzeptieren, um seinen eigenen Platz zu finden. 

Tatsächlich findet Jake nämlich die von seinem Großvater beschriebenen Kinder, die ihn durch ein Zeitportal ins Jahr 1943 führen. Dort leben sie im Kinderheim der ständig Pfeife rauchenden Miss Alma Peregrine (Eva Green) und werden niemals älter. Jake lernt den unsichtbaren Millard kennen und auch das kleine Mädchen Bronwyn, das über unglaubliche körperliche Kräfte verfügt. Da ist Fiona, die mit ihren magischen Kräften blitzschnell Pflanzen wachsen lassen kann, während Olive Handschuhe tragen muss, damit sie nicht alles entzündet, was sie berührt. In Hughs Körper leben Bienen, die allerdings immer wieder ausschwärmen. Claire hat auf der Rückseite ihres Kopfes einen zweiten Mund mit schreckenerregenden Reißzähnen. Der sehr erwachsen wirkende Horace kann in die Zukunft schauen und seine Träume wie ein Filmprojektor auf der Leinwand erscheinen lassen. Zwei maskierte Zwillinge verraten ihre Fähigkeit erst zum Schluss. Enoch ist der schwierigste - er kann tote Objekte zum Leben erwecken und er mage Jake überhaupt nicht. Am zauberhaftesten – nicht nur für Jake - ist aber Emma (Ella Purnell), die leichter als Luft ist und Bleischuhe tragen muss, damit sie nicht einfach davonschwebt wie ein Blatt im Wind.

Dass dies natürlich an die X-Men und Harry Potter erinnert, lässt sich nicht leugnen. Besonders in den frühen Filmen der X-Men wurde der Topos des Außenseiters intensiv thematisiert, aber in später in eine andere Richtung gelenkt.
Tim Burtons Produktionsteam ist kaum zufällig mit diesen Sci-Fi-, Fantasy- und Comicwelten bestens vertraut. Jane Goldman, die Ramson Riggs Buch adaptiert hat, hat für zwei X-Men-Filme geschrieben. Kameramann Bruno Delbonnel war bei Harry Potter and the Half-Blood Prince dabei und arbeitete mit Tim Burton in Dark Shadows und Big Eyes zusammen. 
Der französische Kameramann gehört zu den besten seiner Zunft – und man sieht dies auch. Natürlich wurde vor Green Screens gedreht, aber auch in Locations, die auf das Ambiente der 1940er Jahre getrimmt wurden. Das ergibt eine Menge Production Values mitsamt dem für Tim Burtons typischen Look, in dem Schönheit und Zerfall eine ästhetische Co-Existenz führen.
 Das titelgebende ‚Heim für besondere Kinder’ fanden die Scouts in der Nähe von Antwerpen, in der belgischen Gemeinde Brasschaat. Dort stellt Miss Peregrine jeden Tag die Uhr zurück, bevor ein Nazi-Bomber mit einer Bombe den Rückzugsort der Kinder zerstört.
Im walisischen Cairnholm leben die Kinder nämlich in einer Zeitschleife, die jeden Tag erneut hergestellt werden muss. Dies ist sozusagen eine märchenhafte Enklave, aber den den Zweiten Weltkrieg gibt es trotzdem. Die Schleife dauert genau 24 Stunden und zur täglichen Routine gehören nicht ausgedehnte Spaziergänge. Miss Peregrine muss auch zu einer genau festgelegten Stunde mit der Armbrust ein Monster töten, das aus dem Meer steigt und das für alle unsichtbar ist. Und am Ende des Tages kommt der Bomber ...
doch dann wird einfach die Uhr zurückgedreht. Wenn Jake durch das Portal in die Gegenwart zurückkehrt, dann steht dort allerdings nur noch die Ruine von Miss Peregrines wundersamen Haus. 

Niemals erwachsen werden

Insel, Haus/Festung, Schiffe, Meer und Landschaft gehören traditionell zu den Erzähltopoi symbolisch und mythologisch aufgeladener Geschichten. Tim Burton etabliert an diesen Orten den Erzählraum seiner Geschichte. Den harten Dualismus von ländlicher Idylle und Bedrohung nutzt er, indem er der Idylle einige bizarre, gelegentlich auch morbide Momente gibt, die keinen Zweifel daran lassen, dass nicht alle Details der Geschichte kindgerecht sind.
Denn die Bedrohung der besonderen Kinder ist alles andere als harmlos. Ähnlich wie die Schützlinge von Professor Xavier werden auch die Schutzbefohlenen von Miss Peregrine gejagt, und zwar von dem durchgeknallten Wissenschaftler Barron (Samuel L. Jackson), der mit einer Gruppe Gleichgesinnter und einer Horde von Monstern, den unsichtbaren Hollowgasts, besondere Kinder aufspürt, um deren Augäpfel zu essen. Damit wollen die Jäger mit ihren toten glühenden Augen die nach einem missglückten Experiment entstandenen körperlichen Deformationen beseitigen, ihre humanoide Gestalt zurückerhalten und womöglich auch unsterblich werden.
Jack lernt schnell, dass sich auf der ganzen Welt besondere Kinder in Zeitschleifen vor den Hollows verstecken, beschützt von magischen Ymbrynes wie Miss Pelegrine, die sich nicht nur in einen Vogel verwandeln, sondern auch die Zeit manipulieren kann. Aber er erkennt auch ungläubig, dass er selbst auch ein besonderes Kind ist - er ist der Einzige, der die Hollowgasts sehen kann. Damit wird ihm eine Schlüsselrolle in der finalen Auseinandersetzung zwischen Barrons Monstern und den ‚besonderen Kindern’ zugewiesen. Er muss sie nur noch annehmen.

„Die Insel der besonderen Kinder“ ist trotz der engen Anlehnung an Ransom Riggs Bestseller (es gibt mittlerweile eine Buchtrilogie) oder vielleicht gerade deswegen zu einem typischen Tim Burton-Film geworden. Und es ist sicher einer der besseren des amerikanischen Filmkünstlers geworden. Wer in den Schrulligkeiten und morbiden Phantasien des Regisseurs seine eigenen Sehnsüchte nach einer verlorenen Kindheit wiederentdecken will, ist auf der „Insel der besonderen Kinder“ gut aufgehoben. Und wer für über zwei Stunden in etwas versinken möchte, das wie das Neverland Peter Pans ist, nur eben mit einem Schuss Stephen King,
wird sich auf den Film problemlos einlassen können. Burtons Welt ist ist nicht frei von grauen, aber sie lässt die Zumutungen der Erwachsenenwelt, ihren Verlust von Phantasie und Imagination, auf magische Weise verschwinden. In Burtons Kino muss man nicht erwachsen sein.
Wenn es überhaupt Misstöne in Burtons Film gibt, dann ist es die beinahe clowneske Charakterisierung des Oberschurken, gegen die
Samuel L. Jackson vergeblich anspielt. Hier fehlte leider der Mut, um stattdessen eine glaubhaft tödliche Bedrohung zu erzeugen. Mr. Barron ist nicht Voldemort. Auch das eher grobschlächtige CGI-Actionfinale, das in einem Vergnügungspark von Blackpool stattfindet, ist sicher nicht alternativlos gewesen. Aber viel wichtiger ist in Tim Burtons Traumland, dass Jakes Mut den Großvater ins Leben zurückbringt und er seine große Liebe Emma wiederfindet. Aber bloß nicht erwachsen werden. Muss auch nicht sein: die neue Zeitschleife ist einfach zu phantastisch und älter wird man dort garantiert nicht.

Noten: BigDoc, Melonie = 1,5

Die Insel der besonderen Kinder (Miss Peregrine's Home for Peculiar Children) - USA/BEL/GB 2016 - Regie: Tim Burton - Drehbuch: Jane Goldman (nach dem Roman von Ransom Riggs) – Kamera: Bruno Delbonnel – D.: Eva Green, Asa Butterfield, Ella Purnell, Samuel L. Jackson, Judi Dench - Länge: 94 Minuten