Donnerstag, 2. März 2017

Miles Ahead

„Miles Ahead“ ist kein filmisches Denkmal der Jazz-Ikone Miles Davis und erst recht kein Streifzug durch die Jazzgeschichte. In Don Cheadles erster Regiearbeit geht es um die Jahre zwischen 1975 und 1981, in denen Davis sein Instrument nicht anrührte. Cheadle, der nicht nur das Drehbuch schrieb, sondern die Hauptfigur auch selbst spielte, hat der Jazzgeschichte damit aber keinen guten Dienst erwiesen. Das Script ist einfach zu schlecht.

Zwei Autos rasen über nassem Asphalt durch die Nacht. Miles Davis, der von Don Cheadle gespielt wird, feuert aus dem Fenster auf den Verfolger. Dann trifft ihn selbst ein Schuss in den Oberschenkel. Auf der Flucht verliert ein Tonband. Dann verschwindet er humpelnd in finsteren Nebengassen.
Das Tonband ist mehr als ein McGuffin. Denn angeblich steht Miles Davis, der jahrelang keine Platte gemacht hat, vor einem Comeback. Auf dem Tonband, so vermutet man, sind neue Stücke des Jazzgenius. Das wäre eine Sensation und Geld könnte man sicher auch damit machen.
Aber ist das, was man sieht, wirklich Miles Davis? 



Don Cheadle hat in einem Interview mit dem Kopf genickt: Ja, die Action in dem Film würde dem echten Miles sicher gefallen. Das kann man anders sehen. Gleich am Anfang verliert ein Film, in dem es um grandiose Töne geht, die adäquaten Filmbilder aus den Augen. 

Ein Drogenjunkie mit Beziehungsproblemen

Miles Davis war eine der bedeutendsten Figuren in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Der Jazztrompeter trat bereits 1945 in Charlie Parkers Band auf, spielte dort furiosen Bebop und prägte danach alle Stilrichtungen des Jazz – vom Cool Jazz bis zum Fusion Jazz.
Gehört habe ich die Musik von Miles Davis zum ersten Mal in den späten 1960zigern. „Nefertiti“, „Miles in the Sky“ und „Filles de Kilimanjaro“ waren musikalische Axthiebe. Erst recht, wenn man zuvor durch die Beatles und die Stones musikalisch sozialisiert worden war. Jazz war zu dieser Zeit gelegentlich im Radio zu hören. Platten konnte man dort, wo ich lebte, nicht kaufen. Als Schüler blieb nur eins: Taschengeld zusammenkratzen und Miles Davis’ Platten direkt in den USA ordern.

Heute kann man Musik fast beliebig hören. Sie ist verfügbar, man findet sogar Live-Mitschnitte aus den 1950zigern bei YouTube, man kann Musik streamen und im Badezimmer steht dafür ein WLAN-Lautsprecher. Die CD ist ein Auslaufmodell. Und Schallplatten? Die sind etwas für Nerds. 

Vor 50 Jahren war das anders. Und Musik muss schon eine verdammt große Bindungskraft besitzen, damit man monatelang eisern sparte, um danach wochenlang auf eine sauteure Importplatte aus den USA zu warten. Miles Davis hat dies geschafft. Seine Musik war Magie und Jazz war das, was Davis und Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams in ihren Sessions einspielten. Und kaum hatte man sich eingehört, war Miles bereits auf und davon und revolutionierte mit „In a Silent Way“ erneut die Jazzwelt. Fusion Jazz. Und wieder war es Magie. Ein Biopic über Miles Davis muss sich daran messen lassen, ob die Geschichte dieser Verzauberung eingefangen wird.

Es gehört schon eine Menge Mut dazu, um diese Geschichte nicht zu erzählen. Allein die Entstehung von „Kind of Blue“ (1959) bietet genug Stoff für einen abendfüllenden Spielfilm. Vier Millionen Alben wurden davon verkauft, die Platte landete in der Liste der besten Alben aller Zeiten auf Platz 12, aber in „Miles Ahead“ erklärt Don Cheadle als Miles Davis einem Radiomoderator am Telefon, dass „Kind of Blue“ völlig misslungen sei. Wahr ist das nicht.

Welche Geschichte erzählt Don Cheadle stattdessen? „Miles Ahead“ wird eingerahmt durch ein Interview, dass Miles dem Musikreporter Dave Braden (Ewan McGregor) gibt. Das klappt ganz gut, denn Miles redet über sich und seine Jahre des Schweigens. Doch das Band läuft nicht. Das ist allegorisch gemeint, funktioniert auch als Pointe, denn Don Cheadle will davon erzählen, dass die Jazzikone erst dann wirklich etwas zu sagen hat, wenn sie Musik macht.
Braden ist der Sidekick in einer der beiden Zeitlinien, aus denen Cheadle seine Geschichte zusammensetzt. Die eine spielt Ende der 1970er Jahre, in den Jahren also, in denen Miles Davis Hard Bop und Fusion Jazz bereits hinter sich gelassen hatte und sich aufgrund massiver gesundheitlicher Probleme mehr mit Kokain, Alkohol und Schmerzmitteln beschäftigte als mit Musik. Braden will eine Comeback-Story für den „Rolling Stone“ schreiben, ist dann aber plötzlich mitten drin in einer wüsten Gangsta-Geschichte mit Autoverfolgungsjagden und Schießereien. Es geht um ein Tonband mit neuen Stücken, das Davis vom Jazzimpressario Harper Hamilton (Michael Stuhlbarg) und dessen Protegé Junior (Keith Stanfield) gestohlen will. Miles will es zurückhaben und wir sehen ihn depressiv und übelgelaunt mit einem Revolver herumfuchteln – viel Gangsta Speech, ein Drogenjunkie, der seiner Trompete keinen Ton mehr entlocken kann.

Impressionistische Rückblenden brechen diesen Plot auf und zeigen Fragmente der Beziehung zwischen Miles Davis und seiner Ehefrau Frances Taylor
(Emayatzy Corinealdi), deren Ehe 1965 in die Brüche ging. Cheadle führt in diesen Sequenzen seine Hauptfigur als besitzergreifenden, gelegentlich gewalttätigen Egomanen vor, der aufgrund einer schmerzhaften Erkrankung bereits einen regen Drogenkonsum entwickelt hatte. Das stimmt.
Frances Taylor galt als Muse des Musikers. In den Jahren ihrer Beziehung mit Miles Davis entstanden bahnbrechende Alben wie „Sketches of Spain“ oder „Someday My Prince Will Come“, auf dessen Cover Frances Taylor zu sehen ist. Die Platte mit dem Cover sieht man dann auch regelmäßig im Film, aber welchen Einfluss die Muse tatsächlich auf Miles' Musik hatte, bleibt dunkel. Und der Sinn dieser Backstory erschließt sich auch dann nicht, wenn man vermutet, dass Don Cheadle das Scheitern der Ehe als traumatische Erfahrung deuten will.


Heist-Movie mit Miles

Das liegt daran, dass in „Miles Ahead“ die Fakten einfach nicht stimmen. Tatsächlich hatte Davis nach seiner Trennung von Frances Taylor längst andere Musen und auch andere Ehefrauen gefunden. Aber von ihnen, etwa von Cicely Tyson, will der Film nicht erzählen. 
Auch die wüste Jagd nach dem verschwundenen Tonband ist frei erfunden und der Musikreporter Dave Braden, den Ewan McGregor als nett-verschlagenen Sonnyboy spielt, ist lediglich aus dramaturgischen Gründen notwendig. So kann man wenigstens Dialoge ins Script schreiben. Nicht alles in „Miles Ahead“ ist erfunden, aber das Meiste ist eine fiktive Collage. Wozu also das Ganze?

Für Don Cheadle ist der Film eine subjektive Perspektive, die „frei, innovativ, unkonventionell und jazzig, irgendwie Gangster“ werden sollte. „Es sollte ein Heist-Movie sein. Ich wollte ein Heist-Movie mit Miles Davis machen“, erklärte der Schauspieler, der seit seiner Jugend ein intensives Verhältnis zum Jazz und natürlich auch zu Miles Davis’ Musik entwickelte.
Also kein faktentreues Biopic, sondern ein formales Experiment, das pars pro toto Abschnitte aus dem Leben des Jazztrompeters in ein melancholisches Drama verwandelte, in dem Davis als Eremit im Pyjama durch seine Wohnung schlurft, immer auf der Suche nach der nächsten Line. Ein Film, der die Zeitlinien miteinander verschmilzt und eine eigene Erzählsprache finden möchte, um impressionistisch und assoziativ eine Erklärung dafür abzuliefern, dass seine Hauptfigur geschlagene sechs Jahre lang musikalisch nichts mehr zu sagen hatte. „The Prince of Darkness“ hat sich in den Howard Hughes des Jazz verwandelt.

Dies ist Cheadles Thema, aber die Umsetzung gelingt inhaltlich und stilistisch nur in wenigen Szenen. In denen ist die komplexe und schwierige Persönlichkeit eines Musikers, der bei Live-Auftritten sehr oft dem Publikum seinen Rücken zuwandte, immerhin zu erahnen.
Dabei macht der Darsteller Don Cheadle mit seiner eindrucksvollen Performance alles richtig. Er verkörperte während der Dreharbeiten das berühmte Vorbild so überzeugend, dass selbst Herbie Hancock, der einen Cameo-Auftritt in dem Film hat, glaubte, dass Miles von den Toten auferstanden sei. Und hört man Don Cheadle über seinen Film reden (das Bonus-Material der DVD ist nachdrücklich zu empfehlen), dann erfährt man sehr viel von der kleinteiligen Hingabe Cheadles an das Thema, seinen jahrelangen Vorbereitungen, zu denen auch die Beherrschung der Trompete gehörte. Das ist spannender als der Film und erzählt  eine Menge von dem Enthusiasmus, den man haben muss, um ein Independent Movie zu finanzieren und mit bescheidenen Mitteln umzusetzen.

„Miles Ahead“ ist auch deshalb nicht vollständig gescheitert. Einige Szenen sind sehr eindringlich, etwa wenn Davis auf der Jagd nach dem Tonband den jungen Trompeter Junior während eines Gigs furios spielen hört. Junior wird es dann sein, der hingebungsvoll das zurückeroberte Tonband zusammen mit Davis und Braden abhört. Während der Journalist nur eine wirre Toncollage mit banalen Keyboardklängen hört (tatsächlich versuchte sich Miles Davis in diesen Jahren an dem Instrument), hört Junior die Musik heraus, die sich in den Musikfetzen tatsächlich versteckt. Er spielt sie dem verblüfften Miles Davis auf dessen Trompete vor.
Das ist – endlich – die Magie, die der Film eigentlich früher gebraucht hätte.


Ganz am Ende will Braden dann Miles und seine Musik entschlüsseln: „Können Sie das, was wir gerade gehört haben, in Worte fassen?“
Miles kann es nicht, er will es auch gar nicht. Stattdessen lässt seine Finger über die Ventile gleiten.
Kann man das, was man von Miles Davis über 40 Jahre lang gehört hat, in Bilder fassen? Vielleicht. Don Cheadle ist es leider nicht gelungen.

Eine ganze Menge Miles steckt dagegen im Soundtrack, an dem Don Cheadle und Robert Glasper gearbeitet haben. Mehr als ein Dutzend Originaltitel wie „So what“, „Agharta“, „Frelon Brun“ und „Miles Ahead“ geben einen durchaus repräsentativen, aber nicht immer historisch korrekt zugeordneten Score, der durch einige gecoverte Stücke ergänzt wird. In der End Credits Scene gibt es sogar Miles-Magie dank des von Robert Glasper und Don Cheadle geschriebenen „What’s Wrong with That“. Hier sind Herbie Hancock und Wayne Shorter zu hören und der Funke springt über. Ganz am Ende rettet zwar nicht Miles höchstpersönlich den Film, aber immerhin tun dies einige seiner alten Mitstreiter.

"If I couldn't create there would be nothing for me to live for. It's selfish, I know, but geniuses are selfish." - Miles Davis

Noten: BigDoc = 4

Infos zum Soundtrack auf allmusic.com
Über Wahrheit und Fiktion in dem Film berichtet Cincinatti.com

Miles Ahead – USA 2015 – Regie, Buch und Produktion: Don Cheadle – Laufzeit: 100 Minuten – D.: Don Cheadle, Ewan McGregor, Emayatzy Corinealdi, Keith Stanfield, Michael Stuhlbarg