Dienstag, 28. März 2017

Genius – Die tausend Seiten einer Freundschaft

Geht’s auch kürzer? In „Genius“, seinem ersten Spielfilm, erzählt der Theaterregisseur Michael Grandage von der komplizierten Männerfreundschaft zwischen dem Romanautor Thomas Wolfe und seinem Lektor Max Perkins. Es geht um das Schreiben und das richtige Kürzen und wie man seinen Fokus findet.

„Genius“ ist in Teilen eine Adaption von A. Scott Bergs Buch „Max Perkins: Editor of Genius“. Bergs Biographie über den berühmten amerikanischen Lektor rückt viele Autoren in den Fokus. In „Genius“ tauchen Perkins Erfolgsautoren Scott F. Fitzgerald und Ernest Hemingway aber nur beiläufig auf. Im Mittelpunkt steht Thomas Wolfe, der Autor von „Schau heimwärts, Engel“. 




Einigen Kritikern hat der Film keinen Spaß gemacht. Die Bebilderung von Literaturgeschichte sei doch etwas etwas theaterhaft ausgefallen. Ärgerlich sei auch, dass Scott F. Fitzgeralds Frau Zelda keine bedeutsame Rolle in dem Film einnimmt. Und überhaupt die Frauenrollen. Himmel, manchmal kann man die Political Correctness auch übertreiben. Selbst Scott F. Fitzgerald hat in „Genius“ nur eine Nebenrolle – und Fitzgerald hat immerhin den „Großen Gatsby“ geschrieben!

Man mag mit den Augen rollen, aber es ist so: „Genius“ ist ein Film über Männer. Und zwar über zwei Exemplare, die gegensätzlicher nicht sein können, zumindest was Temperament, Professionalität und Diskretion betrifft. Auf der einen Seite Max Perkins (Colin Firth), der für das amerikanische Verlagshaus Charles Scribner’s Sons Manuskripte lektoriert und immerhin Scott F. Fitzgerald und Ernest Hemingway entdeckte und berühmt machte. Auf der anderen Seite Thomas Wolfe (Jude Law), dessen Erstlingswerk niemand drucken will und der irgendwann in Michael Grandages Film über den großen amerikanischen Roman schwadronieren wird, in dem jeder amerikanische Fluss und jeder amerikanische Baum vorkommen soll. Natürlich will er den schreiben.

Wir sind im Jahre 1929: Colin Firth spielt Max Perkins als illusionslosen und hochkonzentrierten Profi, der niemals seinen Hut abnimmt und weiß, wie man die Substanz eines Manuskripts freilegt, um ihn für den Leser verdaulich zu machen. Thomas Wolfe ist dagegen der literarische Newbie, der 1000 Seiten mit dem nicht sonderlich originellen Titel „O Lost“ versehen hat und sich wie ein kleiner Junge freut, als Perkins seine ausschweifende Prosa verlegen will und ihm sofort als Vorschuss einen 500-Dollar-Scheck in die Hand drückt. Nur müsse man jetzt alles um 300 Seiten kürzen, erklärt ihm der Lektor.

Es geht also nicht um’s Schreiben, sondern darum, wie man kürzt und wie man als Lektor mit der Frage fertig wird, ob diese massiven Eingriffe nicht doch das Werk zerstören. Perkins wird nicht erst am Ende eines langen Weges von diesen Zweifel heimgesucht, er hatte sie schon immer und er wird sie auch unverhohlen verraten und damit bei seinem Protege selbst lang gehegte Zweifel auslösen. Denn Thomas Wolfe ist eigentlich davon überzeugt, dass keine der Zeilen, die er sich quasi aus dem Leib gerissen hat, überflüssig sein kann. Trotzdem werden die beiden Männer raffen, kürzen, fokussieren und dabei das Meisterwerk „Schau heimwärts, Engel“ erschaffen. Danach ist Thomas Wolfe ein gemachter Mann, das neue literarische Genie am amerikanischen Bücherhimmel.


Obsession und Technik

„Genius“ erzählt dabei von zwei Dingen: von Obsession und von Technik. Das macht der Film gut. Die Obsession beherrscht beide Männer, der gemeinsame Schaffensrausch radiert ihr restliches Leben fast vollständig aus. 300 Seiten sind nicht en passant in den Papierkorb zu befördern. Max Perkins verliert dabei seine Familie aus den Augen, versinkt immer mehr in Wolfes Erstlingswerk, verbringt jahrelang fast seine gesamte Zeit mit dem Autor. 
Der gibt sich seinem Mentor bereitwillig hin, zwischen Bewunderung und Sorge hin- und hergerissen. Wolfes Obsession ist aber eine andere und sie ruft auch andere Geister auf den Plan. Seine ältere Geliebte Aline Bernstein (Nicole Kidman) beobachtet mit nachvollziehbarer Eifersucht die zunehmend enger werdende Beziehung zwischen Lektor und Autor. Es ist intuitive Erkenntnis, die sie ahnen lässt, dass sie nicht die einzige Muse der Literaturgeschichte sein wird, die irgendwo als biographische Fußnote endet. Sie wird Recht behalten.

Wie schafft man es mit dem Medium Film, das Arbeiten mit Worten nachvollziehbar zu machen und dann auch noch einigermaßen spannend zu erzählen? Erst recht, wenn man annehmen darf, dass die meisten Zuschauer - so wie auch der Verfasser dieser Zeilen - kein einziges Wort von Thomas Wolfe gelesen haben. 
Ich selbst bin eher mit Mark Twain, Jack London und Hemingway groß geworden. Hemingway war auch deshalb so faszinierend, weil er ein Meister der Verknappung war. Berühmt ist seine Eisberg-Analogie, die in etwa darauf hinausläuft, dass man von einem im Wasser treibenden Eisberg nur ein Achtel sieht und je weniger man von sichtbaren Teil beschreibt, desto stärker würde der unsichtbare Teil werden.

Hemingway war ein Vertreter der literarischen Moderne in den USA. Ob Thomas Wolfe einer gewesen ist, darf bezweifelt werden. Mit Hemingway hatte er nichts am Hut. Diese Antipathie war beiderseitig. Denn Wolfes lyrische Prosa war eher die eines Spätromantikers. Und knapp schreiben konnte er nicht, dazu bekannte er sich auch. Er war ein Hinzufüger, kein Weglasser. Dies sollte auch William Faulkner beeinflussen, der ebenfalls kein Limit kannte und dabei schon mal Sätze schrieb, die aus 2000 Wörter bestanden.

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus spannend zu sehen, wie ein Lektor, der zuvor mit Hemingway gearbeitet hat, einen alle Mengengrenzen sprengenden Autor davon überzeugt, Maß zu halten. 
Grandage zeigt dies in „Genius“ in einer schlagfertigen Szene. Eugene, die Hauptfigur in „Schau heimwärts, Engel“, verliebt sich – die  Begegnung mit einer Unbekannten ist wie ein Blitzschlag, der ihn trifft. Wolfe beschreibt dies in einem Wortschwall aus Metaphern, einem Überschwang der Gefühle, es ist aber auch der Versuch, präzise zu rekonstruieren, was im Bewusstseinsstrom Eugenes vorgeht. James Joyce lässt grüßen, der war auch detailbesessen, aber meistens weniger pathetisch.

Perkins, der Lektor, nimmt jeden Satz auseinander. Grandage zeigt dies als endlose Diskussion, die in Parks, auf Bahnhöfen, in Diners stattfindet. Beide Männer kämpfen um die Buchpassage, man kann nur raten, wie lange es hin und her geht. Am Ende siegt der Lektor und übrig bleibt: „Ihre Augen waren blau. So schnell zersprang sein Herz für sie, dass niemand im Raum das Geräusch vernahm.“ 
Zwei Sätze sagen alles und sie enthalten nicht einmal die ganze Weltgeschichte, wie es Faulkner programmatisch forderte, sondern ein Momentum. Und was am wichtigsten ist: mehr war es auch nicht.
Obsession (und dazu gehört auch der lyrische Überschwang, der glaubt, man müsse die ganze Welt bis ins kleinste Detail in der Sprache bewahren) und nüchterne Technik – am Ende siegt die Technik. Sie ist Verknappung, Sprachdisziplin und Reduktion aufs Wesentliche - und sie lässt dem Leser Luft zum Atmen. Und das ist eine hübsch verpackte Lektion, die den Vorteil besitzt, ziemlich lebenstauglich zu sein.


Ein Schauspieler-, aber kein Ensemblefilm

Sechs Jahre nach ihrer ersten Begegnung schleppt Wolfe riesige Kisten in Perkins Büro – tausende Seite, überwiegend handschriftlich verfasst. Es ist „Time and River“ – Wolfes zweiter Roman, eine einzige Ausschweifung. Und wieder schlägt die Stunde der Obsession. Anders gesagt: die Stunde eines von sich selbst berauschten Egomanen.
Jude Law will dies auch zeigen, seine Darstellung von Thomas Wolfe ist dennoch diskussionswürdig. Law outriert, was das Zeug hält. Ob Wolfe so war, wie es „Genius“ zeigt? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall zeigen Michael Grandage und Jude Law einen Mann, dessen Charme nur anfänglich den besitzergreifenden Narzissmus zudeckt. Der zeigt sich bald offen: Wolfe kennt keine Zwischentöne und  handfeste Züge einer manischen Persönlichkeit werden sichtbar. Dort, wo Wolfe ist und redet – und dies tut er sprachgewaltig und gestenreich – ist auch immer das Zentrum. Wolfe redet über sich, dann wieder über sich und gelegentlich kränkt und beleidigt er Menschen, was er danach wie ein kleiner Junge bedauert. Das kann Jude Law wie erwartet ziemlich gut.

Darstellerisch ist Colin Firth die eigentliche Hauptfigur. Er hat die schwierigere Rolle. Während Jude Law wie ein Springteufel durch die Szenen fuhrwerkt, nimmt Colin Firth nie seinen Hut ab, verzieht keine Miene und kann doch mit kaum sichtbaren mimischen Ausdrucksmitteln viel mehr erzählen als Jude Law. Firth macht das Obsessive dadurch sichtbar, dass man es bei ihm vergeblich sucht. Doch es ist da und das wird grandios gespielt.
Wenn Thomas Wolfe diesen Eisberg in eine Jazz-Kneipe schleppt, um ihm zu zeigen, was Leben wirklich ist, dann endet dies damit, dass der Autor bei zwei Nutten hängen bleibt, während der Lektor teilnahmslos das Lokal verlässt. Das Rauschhafte überlässt er anderen, sein Fokus gehört den Texten. Dort wartet das Leben auf ihn.

Natürlich kreisen um diese beiden Fixsterne einige Planeten, aber „Genius“ findet weder für Nicole Kidman noch für Dominic West (Ernest Hemingway) starke Szenen. Eher noch für Guy Pearce, der F. Scott Fitzgerald als kühlen Antagonisten gibt, der Wolfes Kränkungen mit stoischer Ruhe an sich abperlen lässt.
Der Stern Fitzgeralds, dessen Leben ebenfalls verschwenderisch war, allerdings in anderer Hinsicht, war bereits im Sinkflug, als Thomas Wolfes Höhenflug begann. Als an sich und seiner Schreibblockade verzweifelnden Literaten hätte er sicher mehr Raum in dem Film verdient. Immerhin führt er vor, wie die Talfahrt nach dem großen Rausch aussehen kann. In „Genius“ wird dies angerissen, es bleibt aber etwas skizzenhaft. Fitzgeralds Leben wird eher auf die schwere Erkrankung seiner Frau Zelda reduziert. 

Aber „Genius“ ist kein Ensemblefilm. Die Nebenrollen sind zwar großartig besetzt, bleiben aber weitgehend nur Stichwortgeber. Das sieht man auch in den Szenen, in denen Perkins sich in seiner Familie wie ein Fremdkörper bewegt. Denn Perkins wahres Leben findet in den Texten seiner Autoren statt. Wolfe ist da schon etwas handfester unterwegs.


So dreht sich beinahe jede Szene in „Genius“ um die komplizierte Freundschaft, die der junge Autor gleich zu Beginn dem älteren Lektor anbietet. Und deren Krise ist beinahe unvermeidbar: Die Begeisterung Wolfes für seinen Lektor schwindet, der Autor fragt sich, ob er es auch alleine schafft. Und der Mann, der ihm schroff kürzend den Durchbruch verschaffte, wird zum schmerzhaften Stachel, zu einem kongenialen Gegner. Wolfes überraschender Tod – er stirbt mit 38 Jahren an Tuberkulose, die auf sein Nervensystem übergreift – wird zur emotionalen Zäsur. Auch wenn Wolfes letzte Zeilen versöhnlich dem Lektor gewidmet sind, bleiben die wichtigen Fragen endgültig ohne Antwort.


Eine andere Geschichte wird nicht erzählt

Michael Grandage packt diese Geschichte auf fast wohltuend altmodische Weise in einen ruhigen Erzählfluss und zeigt dabei einige hübsche Settings. Das ist gut gefilmt, aber nur wie zufällig dringt dabei die Realität der 1920er in den Film vor.
Der beginnt mit einem Bild des nervösen Thomas Wolfe, der vor seiner ersten Begegnung mit Max Perkins nervös eine Zigarette raucht und die Kippe mit einem Schuh ausdrückt, der keineswegs billig aussieht. 
Ein schönes Detail. Wir sind im Jahr 1929, jenem Jahr, in dem der „Schwarze Freitag“ den wirtschaftlichen Niedergang der USA beschleunigte. Von der „Great Depression“ sieht man in „Genius“ wenig. Nur gelegentlich werden Hungernde gezeigt, die sich in langen Schlagen vor den Suppenküchen anstellen. Und die haben keine teuren Schuhe an den Füßen. 
Es sind kurze Momente in einem Film, der weitgehend wie aus der Zeit gefallen wirkt. Man kann die beiden Männer im Elfenbeinturm realitätsblind nennen, aber die visuelle Zurückhaltung des Films trifft den Kern von Thomas Wolfes künstlerischer Existenz – ein John Dos Passos war er nie. Und deshalb verzichtet Michael Grandage auf diese Geschichte und auch auf eine ganz andere.

Und die würde von Thomas Wolfe und seiner Beziehung zu Deutschland erzählen. Wolfe war von den romantischen Traditionen des Landes der Dichter und Denker begeistert und spürte in Deutschland beinahe eine größere Begeisterung für seine Bücher als in seinem Heimatland. Es ist eine Geschichte, in der ein genialischer Autor 1936 die von den Nazis in Berlin inszenierten Olympischen Spiele besucht. In den Bars und Szenekneipen ist die Schickeria der Kulturwelt unterwegs, Homosexuelle und Liberale werden von den Nazis noch toleriert, um das Spektakel nicht zu stören. Auch Wolfe ist Teil einer PR-Aktion, die der Welt ein offenes Deutschland präsentieren will, während gleichzeitig das KZ Sachsenhausen gebaut wird. 

Ob Wolfe seine Rolle in diesem Spiel begriffen hat? Die Frage ist schwer zu beantworten. Wolfe traf in Berlin seinen deutschen Verleger Ernst Rowohlt, feierte und soff und hatte wie immer viel Spaß. Immerhin beschrieb er, der unbedingte Vertreter der unbedingten Lebensfreude, nach einer Begegnung mit der Dissidentin Mildred Harnack danach seine neue Realitätserfahrung so: „Es war die Seuche des Geistes – unsichtbar, aber unverkennbar wie der Tod.“ Wolfe kehrte nie wieder nach Deutschland zurück.

Erwähnt sei dies nur am Rande. Es hat ja auch nichts mit dem Film zu tun. Der hat einen Fokus, und das ist das eigentliche Thema. Dort wo sich in der Kunst der Fokus nicht von selbst einstellt, sorgen andere dafür. Es sind die Männer hinter den Genies, die häufig unbekannt bleibende Zuarbeiter, die Profis der Technik. Ohne die Drehbücher von Frank Nugent hätte John Ford wohl kaum seine besten Filme gemacht. Ohne Max Perkins hätte es womöglich keinen Thomas Wolfe gegeben. Und manchmal ist es egal, ob ein Lektor oder eine deutsche Dissidentin den Fokus herstellen. „Genius“ erzählt von diesen heimlichen Geschichten. Alle weiteren Details des Puzzles muss sich der Zuschauer selbst zusammensuchen.

Noten: Melonie, BigDoc, Klawer = 1,5
 

Genius – Dts. Genius – Die tausend Seiten einer Freundschaft - Regie: Michael Grandage - Buch: John Logan nach dem Buch Max Perkins: Editor of Genius von A. Scott Berg - K: Ben Davis - Laufzeit: Laufzeit: 104 Min - FSK: ab 6 Jahren - D: Colin Firth, Jude Law, Nicole Kidman, Laura Linney, Guy Pearce, Dominic West.