Sonntag, 24. April 2016

Better Call Saul: Staffel 2 – ein Serien-Highlight!

„Better Call Saul“ ist nicht das Prequel von „Breaking Bad“. Irgendwie aber doch. In der zweiten Season ist dies noch klarer zu erkennen. Die erste Staffel war bereits brillant, nun folgte sogar ein Qualitätssprung. Dies konnte nur gelingen, weil beide Erzählungen wunderbar miteinander verbunden wurden: ein wenig „bad“, aber doch ganz neu. Die Showrunner Vince Gilligan und Peter Gould haben dabei ein autonomes Figurenuniversum geschaffen, das auch ohne Walter White klarkommt.

„Better Call Saul“ hat eine eigene, aber keine neue Handschrift. Erzähltechnisch knüpft die Serie an das große Vorbild an, einige Kunstgriffe wurden sogar verfeinert. Dass es diesen gemeinsamen Grundton gibt, ist gut, denn die beiden Showrunner gehören zum Besten, was der US-Serienmarkt zu bieten hat.

Synopsis für Einsteiger: In „Breaking Bad Bad“ wird der Aufstieg des krebskranken Chemielehrers Walter White (Bryan Cranston) vom harmlosen Familienvater zum mordenden Drogenbaron erzählt. Zusammen mit seinem Partner Jesse Pinkman (Aaron Paul) beliefert Walter White den Markt mit absolut reinem Crystal Meth. Bei der Geldwäsche und in kritischen Situationen helfen ihnen der gewiefte, halbkriminelle Anwalt Saul Goodman (Bob Odenkirk) und der Mann fürs Grobe, Mike Ehrmantraut (Jonathan Banks). Sauls und Mikes Vorgeschichten werden nun in „Better Call Saul“ erzählt. Goodman trägt dort noch seinen richtigen Namen: James Morgan
Jimmy McGill. Er hat sich vom Kleinganoven und Kanzleigehilfen zum Anwalt hochgearbeitet. Eine unerwartete Entwicklung, die von seinem zwangskranken Bruder Chuck (Michael McKean), einem Staranwalt, mit allergrößtem Misstrauen verfolgt wird. Battle of Brothers.



„Switch“ und die Folgen

2003: Jimmy McGill geht es gut. Für Hamlin, Hamlin & McGill (HHM), der Kanzlei seines Bruders Chuck, soll Jimmy McGill bei den Kollegen von Davis & Main als Mittelsmann fungieren, um gemeinsam die Sandpiper-Affäre juristisch abzuwickeln. Es geht um jene lukrative Sammelklage (vgl. Staffel 1) gegen eine Altenheim-Kette, die bei den Abrechnungen für Serviceleistungen die Heimbewohner offenbar ausgeplündert hat. Den Skandal hat Jimmy aufgedeckt, er ist zudem der Meister der Kunden-Akquise.
Jimmy ist im Anwaltsparadies angekommen. Bei Davis & Main wird er in ein nobles Büro geführt. Sein Büro! Jimmy sollte wunschlos glücklich sein, reizt aber die Situation aus und wünscht sich einen Cocobolo – einen besonders edlen und natürlich sauteuren Schreibtisch. Er bekommt ihn! Er lernt, wo er ist und was es sein kann: was immer er sich wünscht - Davis & Main hat es! Das hält ihn am Ende der ersten Episode („Switch“) nicht davon ab, in seinem neuen Luxusbüro einen Schalter umzulegen, an den jemand eine handschriftliche Notiz geklebt hat: NIE umlegen! 


Das ist „Jimmy“: Autoritäten akzeptiert er nicht, riskante Spiele schon. 
In „Switch“ legt er in einer herrlichen Comedy-Szene zusammen mit seiner Freundin Kim einen selbstverliebten Vermögensberater aufs Kreuz und lässt ihn die Bewirtungskosten für ein Beratungsgespräch selbst berappen. Kim liebt den Coup und Gilligan & Gould präsentieren uns gleich in der ersten Episode einen notorischen Hochstapler, der genüsslich seine Werkzeuge ausbreitet.

Mike Ehrmantraut hat es weiterhin mit dem naiven Möchtegern-Ganoven Pryce zu tun, der illegal Medikamente an Nacho, ein Gang-Mitglied von Tuco Salamanca, verkauft. Zu einem Treffen mit dem Mobster will er mit einem Angeber-Hummer aufkreuzen. Ehrmantraut rät von der Nobelmarke ab: zu auffällig! Er wird gefeuert. Es kommt, was kommen muss: Pryce fährt mit dem Hummer zum Deal und zieht Nachos Aufmerksamkeit auf sich. Der kann Pryce’ Adresse auf der Driver License ermitteln. Wenig später wird die Wohnung von Pryce ausgeräumt.
Kleine Fehler, große Folgen – wir kennen das aus „Breaking Bad“. Die Dämlichkeit eines Einzelnen wird Mike sehr tief in eine Konfrontation mit dem Kartell hineinführen. Der clevere Nacho (Michael Mando) fühlt sich bei seinem Boss, dem gewalttätigen Choleriker Tuco Salamanca (bekannt aus Staffel 1: Raymond Cruz) nämlich nicht mehr sicher und will Mike als Killer anheuern (ep 3: „Amarillo“). Dies führt zu einer Konfrontation mit Tuco, die Mike ohne großes Blutvergießen sehr nachhaltig löst und Tuca für einige Jahre in den Knast bringen wird (ep 4: „Gloves Off“). Schön geplant, aber Tucos Onkel Hector Salamanca (Mark Margolis)
erscheint auf der Bildfläche und setzt Mike massiv unter Druck (ep 5: „Rebecca“). Der spielt mit, aber Hector ahnt nicht, dass er sich mit dem schrulligen Opa einen tödlichen Feind geschaffen hat, der es zur Not auch als One-Man-Gang mit dem Kartell aufnehmen kann. Am Ende liegt Mike mit einem Scharfschützengewehr in der Wüste auf der Lauer und wartet darauf, dass Hector vor die Tür tritt. Und alles begann mit einem Hummer.

Wie in „Breaking Bad“ erhalten kleine Details eine symbolische oder metaphorische Bedeutung, häufiger sind sie aber die unscheinbaren Ursachen, die gewaltige Folgen haben werden – meist katastrophale oder tödliche. Während die McGill-Sequenzen ihre dramatische Essenz hinter einer komödiantischen Textur verbergen, sind die Geschichten, die von Mike erzählen, bereits von Beginn an latent bedrohlich, auch wenn sie harmlos erscheinen. Es sind zwei Welten und völlig dichotome soziale Biotope, in denen sich die beiden Hauptfiguren von „Better Call Saul“ bewegen müssen.
Bereits die erste Episode ist so gesehen eine Perle der Erzählkunst. Während das Cold Open eine düstere und noir gezeichnete Atmosphäre aufbaut, folgt im Hauptteil der schlagfertige und beinahe verharmlosende Kontrast im besten Komödienstil.
 „Switch“ nimmt sich nicht nur viel Zeit, um Jimmys Beziehung zu Kim zu vertiefen, legt dabei aber auch die Erzählfäden aus, die alles Folgende andeuten. Dies gilt auch für die Mike-Sequenzen. Die Langsamkeit, mit der dies erzählt wird, und der Kontrast der Stimmungen tun der Episode gut. Sie erzeugen aber auch einen speziellen Erzählrhythmus, der „Better Call Saul“ zu einem Unikat, zu etwas Besonderem macht.

Mit der zweiten Staffel von „Better Call Saul“ haben Vince Gilligan und Peter Gould zwar mehr Querverbindungen zum „Breaking Bad“-Universum in den Plot integriert, dabei aber den Fehler vermieden, die Serie zu einem Ableger zu machen, der nur gemeinsame Schnittmengen zum großen Vorbild herzustellen will. „Better Call Saul“ muss man nicht länger als Spin-off wahrnehmen – die Serie lebt aus sich heraus. 


Das Schicksal ist nicht launisch - es hat einen Plan

Wir ahnen es: Jimmy McGills Höhenflug wird nicht lange anhalten. Wie der Cocobolo ist er in seinem neuen Umfeld ein Fremdkörper. Aber der erneut groß aufspielende Bob Odenkirk ist nicht die einzige Figur, die nicht aus dem Korsett erlernter Verhaltensweisen ausbrechen kann. Wie in einer griechischen Tragödie werden auch alle anderen Figuren immer tiefer in scheinbar unabwendbare Probleme verstrickt, denen sie nicht entgehen können. 

Natürlich sind nicht die launenhaften Götter im Olymp dafür verantwortlich, sondern die Showrunner. Für sie ist das Schicksal nicht launisch, sondern das folgerichtige Ergebnis konkreter Handlungen und fataler Entscheidungen. Tust du A, obwohl du gewarnt wurdest, folgt B – meist gnadenlos. Aus einem Trickser kann ein erfolgreicher Anwalt werden – aber halt nicht bei Davis & Main. Eher in einem schmuddeligen Hinterzimmer. Das ist die Geschichte, die „Better Call Saul“ erzählt. Sie hat etwas Unausweichliches.
Deshalb wird Jimmys Bruder Chuck auch zur heimlichen Hauptfigur der zweiten Staffel. Der Zwangskranke, der davon überzeugt ist, dass Elektrosmog ihn umbringen wird, handelt auch in seiner Hassliebe zu seinem Bruder wie unter Zwang. Für den pedantisch regelkonformen und hyper-kompetenten Anwalt ist Jimmy der Kleinkriminelle geblieben, der nie hätte Anwalt werden dürfen. Die beiderseitigen Intrigen durchziehen die gesamte 2. Staffel und die Tragödie ist, dass Jimmy seinen Bruder liebt, dieser aber trotz seiner Reputation und seiner Erfolge ein verklemmter und missgünstiger Spießer geblieben ist, der keinen Witz richtig erzählen kann und die charmante Eloquenz seines Bruders deshalb zutiefst verachtet. Und je mehr sich Chuck verzweifelt in schützende Folien hüllt, desto unmöglicher wird es für ihn, die Gründe seiner Obsession zu durchschauen.

Auch Jimmy McGill ist ein Getriebener, der um die Liebe der Person bettelt, die ihn zutiefst verachtet. Ein Büro mit Edelausstattung, ein Firmenwagen, eine neue Wohnung, ein üppiges Salär versprechen Jimmy bei Davis & Main eine glorreiche Zukunft. Doch Jimmy verfällt er schnell in Verhaltensweisen, die er für tricky hält, aber die Methoden, mit denen er Sandpiper-Pensionäre akquiriert, sind de jure illegal und nicht nur ein Verstöße gegen den Ehrencodex der Anwälte.
Als er ohne ausdrückliche Zustimmung des Inhabers von Davis & Main, Clifford Main (Ed Begley Jr.), einen Werbespot für die Sandpiper-Kampagne produziert und on air bringt, bekommt sein Image erste Kratzer (ep 3 : „Nacho“, ep 4: „Hero“). Noch schlimmer ist, dass Jimmys Freundin Kim Wexler (Rhea Seehorn), die bei HHM beschäftigt ist, intern ins Archiv versetzt wird, weil sie Jimmys Eskapaden nicht verhindern konnte. Jimmy hält Chuck für den Verantwortlichen, der wiederum diskreditiert seinen Bruder, indem er Kim einiges über Jimmys Jugendsünden erzählt.
Die Folge: Jimmy fühlt sich bei D & M immer häufiger im falschen Hafen und quittiert den Dienst auf eine Weise, die zu einer der witzigsten Episoden der 2. Staffel wird (ep 7: „Inflatable“): Wie wird man gefeuert, ohne seinen Bonus einzubüßen?
Kim, die inzwischen rehabilitiert wurde, entschließt sich, HHM zu verlassen. Nach einigem Zögern akzeptiert sie Jimmys Vorschlag, eine gemeinsame Kanzlei zu gründen. Es gelingt ihr, einen wichtigen Kunden mitzunehmen (ep 8: „Fifi
). Als Chuck ihr dieses Startkapital wieder abjagt, fälscht Jimmy einige Dokumente, eine Aktion, die irreparabel die Geschäftsbeziehung von HHM zu dem wichtigen Kunden ruiniert. Chuck erleidet einen völligen Zusammenbruch (ep 9: „Nailed“).


Cold Open – eine Frage des Stils

Aus „Breaking Bad“ wissen wir: Andeutungen erhalten erst später eine Bedeutung. Etwa wenn „Switch“ am Anfang den in einem Diner in Nebraska arbeitenden McGill zeigt, der sich versehentlich im Müllraum einschließt und „SG was here“ an die Wand kritzelt. 
Ähnlich funktioniert in Episode 2 („Cobbler“) ein Metronom, auf das Chuck starrt – was auch immer der Zwangskranke misstrauisch in dem Taktgeber sieht, es kann nichts Gutes bedeuten.
In Episode 7 („Inflatable“) wird vor dem Main Title sogar eine komplette Geschichte erzählt: Der junge Jimmy klaut in den 1970zigern aus der Ladenkasse seines Vaters Geld, nachdem er beobachtet hat, dass dieser einem Trickbetrüger nicht widerstehen konnte, obwohl er diesen durchschaut hatte. Das Cold Open spielt in „Better Call Saul“ in jeder Episode eine Schlüsselrolle.
 

Ein Cold Open (auch Pre-Title-Sequence) ist der ‚kalte Sprung’ in eine einleitende Sequenz vor der Titel-Sequenz/Main Title Sequence, in der man Titel, Titelmusik und Credits sieht und hört). Der ältere Begriff „Teaser“ wurde durch „Cold Open“ mittlerweile verdrängt, nicht zuletzt auch durch die immense Bedeutung, die der Beginn eines Films oder einer Serie mittlerweile besitzt. Das Cold Open hat sogar die dramaturgische Schlüsselrolle des Cliffhangers übertroffen.
Das liegt daran, dass ein Cold Open raffinierte Erzähltechniken ermöglicht. Sie sind oft effektvoller als der durchschaubare Spannungseffekt des klassischen Clffhangers, der gelegentlich von den Zuschauern als zu manipulativ empfunden wird (der Cliffhanger am Ende der aktuellen Staffel von „The Walking Dead“ floppte bei den Fans, wurde aber zum Gesprächsthema Nr. 1 und erfüllte somit seine Funktion als Instrument der Kundenbindung perfekt). Im Cold Open können allerdings auch Cliffhanger auftauschen. Durchschnittliche Cold Open befördern den Cliffhanger ganz oder teilweise einfach nach vorne, was nicht besonders kreativ ist.

Einer der wichtigsten ‚Sprünge ins Kalte’ ist der Flashforward (auch Prolepse genannt). Er funktioniert einfach: Man sieht einen Teil des Endes am Anfang. Die Prolepse stellt die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Und wie geht es weiter?
Ein Cold Open kann aber auch ein harter Sprung in die Vergangenheit der Protagonisten sein (Analepse) und erklären, warum sie das geworden sind, was sie sind, vgl. „Inflatable“.
Ein gutes Cold Open gehört ökonomisch zu den Distinktionsmerkmalen einer guten Serie. Es ist ein Teil des Markenkerns, der dafür sorgt, dass der Zuschauer nicht abspringt. Einige der interessantesten Beispiele für clevere Cold Opens konnte man bereits in „Breaking Bad“ sehen. Das berühmteste ist das Swimming Pool-Cold Open, das in der ersten Episode der 2. Staffel beginnt und in drei weiteren Episoden weitererzählt wurde. Die Auflösung gab es erst im Staffelfinale und sie zeigte dort die Philosophie der Serie: auf Ursachen folgen Wirkungen, und die Kausalität nimmt keine Rücksicht darauf, ob die Ursachen unbedeutend oder hochdramatisch sind. Alles ist miteinander vernetzt: Schuld führt zur Strafe, Unkenntnis zum Tod und Triviales lotst die Figuren mitten ins Herz ihrer Existenz.

„Better Call Saul“ setzt diese Tradition fort. Stilistisch entsstanden komplexe Kompositionen aus Handlungselementen und Musik, die gelegentlich vom Main Title kommentiert werden.
Ein einfaches Beispiel ist das Cold Open von Ep 4 „Gloves Off“: in einem Flashforward kommt Mike nach Hause, legt ein Bündel Geldscheine auf den Tisch und holt Tiefkühlgemüse aus dem Kühlschrank. Cut: Man sieht seine andere Gesichtshälfte. Gewisse Blessuren machen deutlich, wozu er das Tiefgefrorene braucht. Wer hat Mike windelweich geprügelt und warum sieht er danach so zufrieden aus?

Komplexer ist Ep 1 „Switch“: In einer Zukunft nach „Breaking Bad“ führt Jimmy aka Saul eine Cinnabon-Bäckerei und schließt sich versehentlich im Müllkeller ein. Falls er die Nottür öffnet, löst dies einen Polizeialarm aus. Jimmy wartet also. Nach seiner Befreiung fährt die Kamera auf die Wand zu. Jemand hat „SG was here“ hingekritzelt.
Wie die erste Staffel beginnt auch die zweite mit einem in Schwarz-Weiß gedrehten Cold Open. Sequenzlänge: 5:37. Unterlegt werden die Bilder mit Willie Nelsons „Funny How Time Slips Away“ in der Cover-Version von Billy Walker, 1961: Never know, when I'll be back in town. But remember, what I tell you - In time your gonna pay. And it's surprising, how time slips away...
Cut auf Main Title: eine Gummiabbildung der amerikanischen Freiheitsstatue; der Titel „Better Call Saul“ in grellem Gelb und Rot, es folgen „Created by“-Credits. Länge der Main Title-Sequence: 13 sec!
Das Cold Open zeigt die Hauptfigur in einer verzweifelten Lage und erinnert daran, dass „Better Call Saul“ eigentlich ein riesiger Flashback ist, der irgendwann die Frage beantworten muss, ob Saul von den Gespenstern der Vergangenheit eingeholt werden wird. Die Freiheitsstatue kommentiert sarkastisch, dass Saul Goodmans American Way of Life in eine Sackgasse geführt hat. Gleichzeitig kommentiert das Cold Open in einer proleptischen Vorausschau auch die patriotischen Videoclips, die Jimmy in den späteren Episoden produzieren wird und in denen er sich als juristischer Robin Hood und glühender Patriot präsentiert.

Variiert wird diese Technik im Cold Open von Ep 3 „Amarillo“: Wir hören den Country-Song „Waltz Across Texas“ von Ernest Tubb: And when you look at me with those stars in your eyes I could waltz across Texas with you. Die Kamera fährt an einer Hausmauer entlang. Ein Mann steht an der Mauer, man sieht zunächst nur einen protzigen Cowboy-Hut. Der Mann hebt sein Gesicht: es ist Jimmy McGill in einem todschicken Western-Anzug. Ein Bus hält, McGill drückt dem Fahrer einen Geldschein in die Hand. Im Inneren des Busses sitzen ältere Personen (Sandpiper Crossing-Kunden). McGill legt eine rhetorische Glanzleistung hin. Am Ende drücken ihm alle Pensionäre eine schriftliche Ermächtigung in die Hand. Jimmy hat für Davis & Main Kunden akquiriert. Später wird man erfahren, dass seine Methode illegal ist.
Länge: 5:23.
Auch diesmal sehen wir im Main Title (wie auch in allen anderen Episoden von „Better Call Saul“) ein neues visuelles Motiv: Zigarettenasche wird in die Schale einer kupfernen Waage geschnippt.
Unschwer ist die Waage als das bekannte Symbol der Gerechtigkeit zu erkennen, wie es Justitia, die römische Göttin der Gerechtigkeit verkörpert hat. Dass Cold Open und Main Title im Vorgriff die späteren Ereignisse kommentieren, versteht sich beinahe von selbst. Sentimentalität (Musik, Jimmys Outfit) und trickiger Geschäftssinn verschmelzen, wobei die narrative Raffinessen in den Folgeepisoden langsam enthüllt werden: Jimmy ist kein Opportunist, sondern will aus rein narzisstischen Gründen erfolgreich sein, aber auch von seinem Bruder respektiert werden. Sein Charisma bezieht er aus dem festen Glauben, dass er den geprellten Pensionären tatsächlich Gerechtigkeit verschaffen kann. Ein gewaltiger Spagat.

Die Beispiele zeigen, auf welche Weise Gilligan & Gould in „Better Call Saul“ für eine enorme Tiefenperspektive bei der Figurenentwicklung sorgen. Die ambivalenten Persönlichkeitsmerkmale bei Jimmy werden bereits auf den Punkt gebracht, bevor man sie in allen Details zu sehen bekommt. Das mag für viele Zuschauer zu kompliziert sein und ein Massenerfolg wird die Serie vermutlich auch nicht werden. Aber „Better Call Saul“ ist inmitten des aktuellen Serienhypes (2015 wurden über 200 Serien in den USA produziert) eine der herausragenden Bastionen des Quality TV geworden. Ziemlich beachtlich für ein Prequel.



Entscheidend sind wie immer die guten Showrunner

Wie mit großem Krachen Serien einstürzen können, zeigt der HBO-Flop „Vinyl“, der von Martin Scorsese, dem „Stones“-Boss Mick Jagger und Terence Winter („Sopranos“, „Boardwalk Empire“) produziert wurde und in dem Scorsese persönlich Regie führte. Die Serie wurde ab Februar 2016 bei HBO gezeigt und kann derzeit auch in Deutschland gestreamt werden.
Die aufwändige und sehr kostenintensive Serie über einen Schallplattenmogul der 1970er Jahre wurde zu einem Quotenloch – kaum mehr als 500.000 Zuschauer wollten der Geschichte nach dem kinoreifen Piloten folgen.
Das hat verschiedene Gründe. Diejenigen, die mit der Musik aus der Prä-Punk-Ära aufwuchsen, sind heute im Rentenalter. Vielleicht lag es auch an der Intellektualität, mit der Scorsese seine kokainverschupften und sexbesessenen Protagonisten analysierte. Scorsese hat schon immer kühl und soziologisch erzählt. Seine Geschichten besitzen zwar eine moralische Dimension, aber mitunter wenig Empathie für die Figuren. 
Mit dem Piloten konnte ich daher (und das als Scorsese-Fan) trotz des beeindruckenden sozio-kulturellen Impacts nicht richtig warm werden. Das lag weniger an der unsympathischen Hauptfigur, sondern an Scorseses Blick auf das gigantische Sündenbabel namens Musikindustrie. Geradezu exemplarisch gleitet seine Kamera im Piloten in einer offenen Totale über eine Sex-Party, auf der wild durcheinander kopuliert wird. That’s Breughel und gleichzeitig auch sehr katholisch, wenn man dies als Kommentar zum Credo „Sex & Drugs & Rock’n Roll“ liest. Es ist aber auch klischeehaft, und daran ändert sich nichts, auch wenn es so passiert ist. Mick Jagger wird es wissen müssen.

„Better Call Saul“ fällt deutlich bescheidener aus, erzielte aber die fünffachen Quoten. Die Quoten in den USA reichten zwar nicht an AMC’s Hit „The Walking Dead“ heran, bewegen sich
aber mit durchschnittlich mehr als 2 Mio. Zuschauer in einem respektablen Bereich. 
Der Unterschied zu „Vinyl ist, dass die Geschichten, die Vince Gilligan erzählt, spürbar unpathetischer, dafür aber einfühlsamer sind. Alles abgemischt mit einem Schuss skurrilem Humor einer doppelten Portion Sarkasmus und Brutalität und der Liebe zu pittoresken Details. Während Martin Scorsese womöglich eine katholisch sozialisierte Ausgabe von Bert Brecht ist, folgt Gilligan eher den Gesetzen Shakespeares, der auch in seinen düstersten Figuren der conditio humana nachspürte und alles mit saftigem Humor abschmeckte.

Vielleicht sieht man so etwas lieber, die Zusammenführung von Tragödie und Komödie, den Schock der Gewalt und die Entlastung durch das Lachen. „Better Call Saul“ ist zudem eine bessere Projektionsfläche für die Emotionen der Zuschauer. Erzählt wird die tragische, aber für jeden emotional nachvollziehbare Geschichte zweier ungleicher Brüder, die durch schmerzhafte Familienerinnerungen grundiert wird. Wer hat die nicht?
Auf der einen Seite: Chuck, der Ehrenmann und durch und durch seriöse Anwalt, der Jimmy verschweigt, dass die sterbende Mutter zuletzt nur nach dem schwarzen Schaf der Familie gerufen hat, ohne den aufopferungsvollen Chuck überhaupt wahrzunehmen.
Auf der anderen Seite: Der ewige Slippin’ Jimmy, der den Einstieg in ein achtbares Leben auf dem Silbertablett serviert bekommt, aber gerade daran scheitert, dass er die Erwartungen seines Bruders erfühlen will, dies aber nicht kann. Er ist ein Ganove mit Herz, ein hochkreativer Schlemihl. Seine Tragödie ist, dass er nur dann wirklich Spaß und Erfolg hat, wenn er schmuddelige Methoden anwenden kann. Die Paradoxie folgt auf dem Fuße: seine verzweifelten Versuche, dies zu vermeiden, verstärken eher sein Verhalten. So liebt Jimmy seinen Bruder Chuck abgöttisch, was ihn aber nicht daran hindert, ihn massiv zu betrügen.

Eine lediglich gut erzählte Geschichte kann dies allein nicht tragen. Nicht ohne Stil.
„Better Call Saul“ hat Stil. Das langsame Erzähltempo mit seinen ausgefeilten Cold Open und die typische Handschrift von Vince Gilligan und Peter Gould mit ihrer Genauigkeit bei der Beobachtung der Figuren kreieren einen eigenen, netzwerkartig verschlungenen Erzählkosmos. Das wirkt sich auch auf die Nebenfiguren aus. Humorvolle, gelegentlich auch groteske Charakterstudien sind so entstanden, die in einer schnellen Serie nicht zu finden sind. „Better Call Saul“ besitzt dabei einen witzigen und schlagfertigen, aber nie brachialen Humor, der mitunter mit Spritzigkeit einer gut geölten Screwball-Comedy funkelt. In schlechten Serien weiß man, was an der nächsten Ecke geschieht – in „Better Call Saul“ ist dies unmöglich. Wenn es dann ernst wird – und das wird es mit der Unausweichlichkeit einer griechischen Tragödie! – dann wirkt es wie ein Hieb in die Magengegend.

Wie in der ersten Staffel folgt die Geschichte Mike Ehrmantrauts eigenen Gesetzen. Die Querverbindungen mit Jimmys Geschichte sorgen dafür, dass die Serie ihren Schwerpunkt nicht in einer Dramedy findet. Da man weiß, dass das Schicksal den schweigsamen und für seine Feinde sehr gefährlichen Mike und den redseligen Jimmy zusammenführen wird, zieht mit der Gewalt, der Mike Ehrmantraut begegnet und die er mit der aller notwendigen Härte erwidert, allerdings etwas sehr Dunkles auf. Es ist das archetypisch Böse, dem Walter White erliegen wird.

Die Kunst des Erzählens großer Gegensätze geht eindeutig auf das Konto  kreativer Showrunner. Sie sind die großen Geschichtenerzähler unserer Gegenwart. „Better Call Saul“ ist deshalb ein Solitär, das man zwar analysieren, aber nicht ohne Weiteres kopieren kann. Erzählkunst versteckt ihre Geheimnisse. Die 3. Season ist geordert, man darf nicht nur, man muss vielmehr gespannt sein, wohin dies alles uns führen wird. Auf Jimmy McGill wartet bereits
„Breaking Bad“, aber vielleicht viel eher noch „Breaking Sad". Es wäre für ihn die Höchststrafe.