Donnerstag, 6. Oktober 2016

Brooklyn - Eine Liebe zwischen zwei Welten

Das Melodram ist per se das gefühlvollste Genre im Kino. Vermutlich auch das stilvollste. John Crowley erzählt in „Brooklyn“ die Geschichte einer jungen Irin, die in den 1950er Jahren aus Irland in die USA auswandert. Ein Film mit ausdrucksstarken Bildern, der konsequent auf jene Sentimentalität verzichtet, die aus einem emotionalen Film peinlichen Kitsch macht. Stattdessen beobachtet er seine Hauptfigur mit überwältigender Genauigkeit.

Saoirse Ronan ist Eilis Lacey. Immer wieder nähert sich die Kamera von Yves Bélanger („Dallas Buyers Club“) der jungen Frau, die an der Reling des Schiffes steht und der neuen Heimat entgegensieht. Eilis’ Mimik drückt nachdenkliche Neugier aus, aber auch eine Verletzlichkeit, die zeigt, dass da jemand ein Wagnis eingeht, der genau weiß, was zurückgeblieben ist. Das sind die Mutter und ihre Schwester Rose.
Für Ellis selbst gab es keine Zukunft mehr in dem kleinen Nest im Südosten Irlands. Also hat sie eingewilligt, als der katholische Priester Father Flood (Jim Broadbent) auf Bitten von Rose die Überfahrt nach New York arrangierte. Und wie bei allen Immigranten, die in mehreren Wellen aus Europa nach Amerika gekommen sind, kommt auch bei Eilis das Prinzip Hoffnung ohne jegliche Kenntnis von dem zurecht, was in der neuen Heimat zu erwarten ist. 

Der irische Regisseur Jim Sheridan hat die Konfrontation mit der Realität härter erzählt. „In America“ (2002) spielt im irischen Stadtteil „Hell’s Kitchen“ und erinnert an den sozialen Niedergang der irischen Einwanderer, die Gangkriminalität und die Gewalt. Sheridans Geschichte einer verzweifelten und illegal eingewanderten Familie ist realistisch. „Brooklyn“ ist auch eine Migrationsgeschichte, aber eine ohne politischen Subtext.




Die junge irische Schauspielerin Saoirse Ronan wurde durch ihre Hauptrolle in Peter Jacksons keineswegs unumstrittenen Film „The Lovely Bones“ (In meinem Himmel) bekannt und spielte in Wes Anderson „The Grand Budapest Hotel“ die Rolle der Agatha. In „Brooklyn“ verkörpert sie die Immigrantin mit außergewöhnlich differenzierten Zwischentönen – eine bemerkenswerte Leistung.
In New York kommt Eilis Lacey zunächst in einer Pension unter, die ausschließlich junge Frauen beherbergt und von einer resoluten Wirtin mit scharfem Humor und eiserner Disziplin geführt wird. Eilis, das wird allen schnell klar, ist anders als ihre etwas oberflächlichen Mitbewohnerinnen: schüchtern, aber mit genauer Beobachtungsgabe und rhetorisch keineswegs unsicher. Dennoch bereitet ihr die Anstellung in einem renommierten Warenhaus zunächst Probleme. Ihre Kundinnen, so erklärt Eilis’ Vorgesetzte, erwarten keine servile Höflichkeit, sondern schlagfertigen Humor.


Ein völlig entschleunigter Film

„Brooklyn“ basiert auf dem gleichnamigen Roman (2009) des irischen Schriftstellers Colm Tóibín. Der englische Autor Nick Hornby (u.a. Scripts für „An Education“, 2009, und „Wild“, 2014) hat die ruhige Prosa Tóibíns für die Leinwand adaptiert – eine Geschichte, die nur am Rande die soziale und historische Rolle der irischen Immigranten in New York skizziert.
John Crowley („Boy A“, 2007; „True Detective“, 2015) hat den Fokus seines Films noch strikter auf das emotionale Erleben und auf die erste große Liebe seiner Hauptfigur gelegt. Auch als Eilis den jungen Italiener Tony Fiorello (Emory Cohen) kennenlernt und dabei die ethnischen und kulturellen Grenzen ihrer eigenen Herkunft überschreitet, fühlt sich die Geschichte dabei so an, als sei sie in ein Kokon eingespannt. Dass sich hinter den warmen Farben, den idyllischen Parks und ruhigen Straßen eine ruppige Realität verbergen könnte, wird vollständig ausgespart. „Brooklyn“ ist in seiner Essenz ein Film, der sich ausschließlich auf die emotionale Reise seiner Hauptfigur konzentriert. Und das auf eine Weise, in der das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit (die Handlung umfasst immerhin viele Monate) anders als erwartet nicht zu einer Raffung und Beschleunigung führt, sondern beim Zuschauen das Gefühl vermittelt, einer intensiv ausgedehnten Handlung zuzuschauen. Anders formuliert: nach einer halben Stunde hat man das Gefühl, bereits mehr als eine Stunde gesehen zu haben.
Natürlich liegt dies auch an einigen stilistischen Kunstgriffen und der entschleunigten Montage, aber da Yves Bélangers Kamera so gut wie nie die Hauptfigur verlässt, entsteht jene dichte erzählerische Intensität, die ein gutes Melodram auszeichnet: sich auf die seelischen Binnenräume zu konzentrieren und die Settings und Dekors in eine kongruente Beziehung zu diesen Erlebnisräumen zu setzen.


Das Melodram als Emanzipationsgeschichte

Der dramatische Konflikt in „Brookylyn“ besteht allerdings aus einer Lüge. Als Father Flood Eilis über den Tod ihrer kranken Schwester informiert, beschließt die junge Frau, zur Beerdigung nach Irland zurückzukehren. Eilis hat sich mittlerweile in eine selbstbewusste Frau verwandelt. Sie hat erfolgreich eine Ausbildung zur Buchhalterin absolviert und weiß nun, dass sie in New York bestehen kann. Tony, der nichts Gutes von der Reise erwartet, drängt zur Heirat. Eilis willigt ein und tritt danach eine Schiffsreise an, die zurück ins vertraute Unbekannte führt. Eilis kehrt in ihre Heimat zurück, ohne dieselbe zu sein, die sie verlassen hat.
Nach ihrer Rückkehr verschweigt sie ihrer Mutter die Eheschließung. Das Verschweigen der Wahrheit evolviert eine Reihe von Ereignissen, durch die Eilis sich nun völlig anders wahrgenommen fühlt: aus der Rückkehrerin wird daheim plötzlich eine begehrte Frau. Sie scheint es zu genießen. Eilis arbeitet aushilfsweise und sehr erfolgreich als Buchhalterin in einer Firma und nicht nur die Mutter, sondern auch Freunde und Verwandte erwarten, dass die „Amerikanerin“ nun bleibt. Immer wieder wird die Abreise verschoben. Als Eilis den sehr charmanten und wohlhabenden Jim Farrell (Domhnall Gleeson) kennenlernt, der sie heftig umwirbt, scheint es, als würde sie langsam Tony vergessen.

Das Melodram ist spätestens seit den Film Filmen von Douglas Sirk mehr als ein hyperventilierendes Ausagieren starker Affekte. Bereits Sirk hat seine Frauenrollen so angelegt, dass das Ringen um die Liebe (häufig standesübergreifend) nicht nur das latent Emanzipatorische in den weiblichen Konflikten thematisierte, sondern auch das soziale Korsett, in dem sich Frauen in unterschiedlichen sozialen Kontexten befinden. Befreiung als Selbstbefreiung bedeutet daher im Melodram auch das Wegsprengen dieses Korsetts. 

Exemplarisch wurde dies vom Meister des amerikanischen Melodrams in Filmen wie All I Desire“ oder There's Always Tomorrow“ nachgezeichnet. Und immer wieder tauchte bei Douglas Sirk das kleinstädtisch Miefige und die Enge auf. Frauen, die dorthin zurückkehrten, mussten erfahren, dass man die Uhr nicht nicht zurückdrehen konnte: die Vergangenheit lässt sich nicht zurückholen.
John Crowley erzählt dies auch, er bleibt dem klassischen Melodram treu, aber er tut dies eher dezent und ohne pathetische Gesten. Eilis fühlt es am Ende mehr als dass sie es erkennt: Ihre Heimat ist noch da, sie aber ist nun woanders zu Hause. Nicht mehr in der Wohlfühl-Enge des kleinen Dorfes, in der Freundlichkeit und Bigotterie so nah beieinander existieren, dass man sie nicht mehr unterscheiden kann. Eilis kehrt zurück, aber die letzte Szene zeigt, dass dies zuallererst ein emanzipatorischer Schritt ist und erst danach ein emotionaler.
Ein bemerkenswerter Film.


Noten: Melonie, BigDoc = 1,5

Die deutschen Kritiker haben es sich nicht leicht gemacht. Lena Bopp lobt in der FAZ die „Mehrdimensionalität“ des Films, während Hannah Pilarcyk auf SPON beklagt, dass „Brooklyn“ wie eine „ahistorische Fantasie in goldglänzendem Sonnenlicht“ daherkommt und überhaupt alle politischen Bezüge vermissen lässt. Dass Filme in den Augen von Kritikern manchmal die falsche Geschichte erzählen, ist nicht neu. Aber die McCarthy-Ära gehört nun einmal nicht zum Sujet, sorry. Etwas ruppiger fragt Barbara Möller auf WELT online bereits in der Überschrift, wie dieser Kitsch auf die Oscar-Liste kommen konnte, während Martin Schwickert im „Tagesspiegel“ das „empathische Erzählkonzept“ lobt und Crowleys Film als „zutiefst harmlos“ taxiert. Und dies sei nachdrücklich als Kompliment zu verstehen. D'accord!
 


Brooklyn – USA 2015 – Laufzeit: 112 Minuten - Regie: Lohn Crowley – Drehbuch: Nick Hornby – Kamera: Yves Bélanger – D.: Saoirse Ronan, Emory Cohen, Domhnall Gleeson, Jim Broadbent u.a.