Mittwoch, 1. Juni 2016

Das brandneue Testament

Die für den Europäischen Filmpreis 2015 nominierte Komödie des belgischen Regisseurs Jaco Van Dormael lässt garantiert keine gotteslästerliche Pointe aus und ist doch ein spiritueller Film. Er hat nur eine Macke: Er nimmt die von den etablierten Kirchen realitätsverträglich entschärfte Bergpredigt ernst. Und siehe da: am Himmel tauchen Blümchenmuster auf und alle Menschen sind glücklich.

Gelegentlich befördert der Griff in den Filmfundus große Überraschungen ans Tageslicht. Und plötzlich hat man nach einem Kinoabend eine neue Nr. 1 in den persönlichen Charts des Jahres 2016. Das hat einen Grund: „Das brandneue Testament“ ist ein mitreißender Film.


Den belgischen Regisseur Jaco Van Dormael dürften nur beinharte Cineasten kennen. Moment, da war doch was, oder? Richtig, für „Toto der Held“ wurde der Belgier 1991 mit Preisen überschüttet, und dann hat er „Mr. Nobody“ (2010) gemacht. Das war jener Sci-Fi-Film, der eigentlich in die Kategorie ‚Weltkino’ gehört und für Kino-Normalos zu einer großen Herausforderung wurde. Zu viel verwirrende Zeitschleifen und Anleihen bei Chaos- und Multiversum-Theorien. Der Hollywood Reporter bezeichnete „Mr. Nobody“ immerhin als ‚Benjamin Button’ für Intellektuelle’“, aber das allein reicht schon, um Dormaels Filmen bei den Öffentlich-Rechtlichen einen Sendeplatz kurz nach Mitternacht und an der Kinokasse einen baldigen Tod zu prophezeien.

Seit April kann man nun Dormaels neuen Film
„Das brandneue Testament“ auf DVD und Bluray bestaunen. Bei einem großen E-Tailer erfährt man im Forum Vielversprechendes: „Einzig mögliche Schlusskonsequenz: DVD-Inlay in den Papiermüll, die Hülle in den gelben Sack und die DVD/BlueRay in den Sondermüll, fertig!“ (Original-Rechtschreibung beibehalten).

Zielführender war der Hinweis auf die „Pseudo-Intellektualität“ des Films, denn in der Regel verbirgt sich hinter derartig gebrandmarkten Filmen und Büchern immer und ohne Ausnahme ein beachtliches intellektuelles Vergnügen. Auf die Schreiberlinge ist nämlich Verlass: so wurde auch ein Thomas Mann in diesen Foren auf ähnliche Weise taxiert (
„Der Autor hat zwei Probleme: Er kann nicht schreiben und er hat nichts zu erzählen")


Warum ein Marmeladenbrot immer auf die belegte Seite fällt

Tatsächlich ist Jaco Van Dormaels „Das brandneue Testament“ kein sonderlich intellektueller Film. Er erzählt eine sehr emotionale Geschichte, die blasphemisch ist und dennoch die christliche Liebe wortwörtlich nimmt, dabei sentimental und gleichzeitig völlig unsentimental bleibt, zum Steinerweichen komische Pointen abliefert und den Zuschauer mittendrin todtraurig macht. Und dann ist „Das brandneue Testament“ auch noch ein visuelles Fest – und damit sind wir auch ganz nah an dem dran, was Kino in seinen glücklichsten Stunden ist. Provozierend, witzig, intelligent, überraschend.

„Das brandneue Testament“ erzählt davon, dass es mit der Schöpfung so nicht weiter gehen kann. Eine neue Offenbarung muss her – und am besten sollte man Gott in Rente schicken. Oder nach Usbekistan. Doch der Reihe nach.
Gott, das sollte den spirituellen Teil der Zuschauer beruhigen, lebt! Und da im Kino das ganze Universum nur bedingt darstellbar ist, hat Jaco Van Dormael die göttliche Schöpfung vollständig in die belgische Hauptstadt hineingepackt. Das passt, denn Belgien ist immerhin ein Königreich und größenmäßig auch recht überschaubar.

Gott (Benoit Poelvoorde) sitzt in einer ziemlich heruntergekommenen Wohnung an seinem Computer und versucht am Anfang, der Genesis etwas Esprit zu verschaffen. Er bevölkert die Stadt mit Tieren, doch irgendwie ist ein Tiger, der in seinem Schlafzimmer auf dem Bett liegt und desinteressiert TV glotzt nicht die ultimative Lösung. Gott ist gefrustet: Der Mensch muss her, doch damit beginnen spätestens mit der Entdeckung der Sexualität gewisse Probleme, auch wenn die Spezies sich danach rasch auszubreiten beginnt.

Gott sitzt also in einem speckigen Bademantel vor seinem Uralt-PC und ist nicht zufrieden, schon gar nicht mit denen, die er nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Eigentlich eine Übertreibung, er ist wirklich ständig sauer. Und so erfindet er immer fiesere Gebote, die natürlich keiner kennt. Etwa: Lässt man ein Marmeladenbrot versehentlich fallen, so fällt es immer auf die belegte Seite. Oder: In Supermarkt steht man immer in der Schlange, in der es am langsamsten vorangeht. Und für jene, bei denen es an der Kasse schneller geht, hält Gott dann halt etwas besonders Gemeines bereit.
Fazit: Gott ist ein cholerischer, zynischer Sadist, der dafür sorgt, dass sich
die Menschen, egal ob für die Bibel oder den Koran, in seinem Namen die Köpfe einschlagen oder wenigstens ein gefülltes Rotweinglas auf dem neuen (natürlich weißen) Teppich zerdeppern.

Doch Gott ist auch noch Familienvater. Und als solcher auch permanent sauer. Seine etwas tumb agierende Frau (Yolande Moreau als „Gottes Frau) schüchtert er mit Wutanfällen ein, seine Tochter Éa (Pili Groyne) ist zu renitent und über seinen Sohn redet er nicht gern: mit zu viel Herz bei Sache gewesen, zu viele Bauchentscheidungen – und dann hat er sich noch ans Kreuz nageln lassen!

Irgendwann platzt Éa der Kragen. Sie schleicht sich ins göttliche Arbeitszimmer (natürlich verboten!), knackt das Password und schickt allen Menschen ihr persönliches Sterbedatum aufs Smartphone. Ihr Bruder Jesus, der die meiste Zeit als versteinerte Nippesfigur auf einem Regal herumsteht, rät ihr zudem, sich sechs neue Apostel zu suchen. Denn zusammen mit den bekannten 12 wären es schon 18 und das ist die Stärke einer Baseball-Mannschaft. Immerhin sammelt ja auch Mutti leidenschaftlich Baseball-Karten. Und mit diesem Team könne man dann auch einem neuen Testament die erforderliche Geltung verschaffen. Éa macht sich den Weg. Den Himmel verlassen? Das klappt nur über ein Portal. Es ist die Waschmaschine und Jesus weiß, wie’s geht: auf Waschgang Synthetik stellen, 40 Grad und dann Schleudern mit 1200 Umdrehungen. Und schon ist man unter den Sterblichen.



Liebevoll surreal – irgendwo zwischen Monty Python und Luis Bunuel

Die aber wissen längst, wann ihr letztes Stündchen schlägt. Das ist schon eine sehr witzige Idee, die sich Jaco Van Dormael und sein Co-Autor Thomas Gunzig einfallen ließen, und noch schöner ist die Umsetzung, die in zahllosen witzigen Teasern blitzschnell erzählt wird. Denn statt auszurasten gehen die meisten Menschen aka Belgier in sich, reflektieren ihr Sein und blicken dabei der allumfassenden Absurdität ins Auge. Gott hat seine Macht eingebüßt. Wer weiß, wann er stirbt, geht nicht mehr zur Arbeit, denn dafür ist die Zeit zu kostbar. Kriege werden eingestellt, sie sind nur noch lächerlich. Man setzt sich lieber auf eine Parkbank und schaut den Vögeln zu. Und die ganz Vorwitzigen, die noch Jahrzehnte zu leben haben, stürzen sich von Hochhäusern oder springen ohne Fallschirm aus dem Flugzeug.

Das alles könnte schnell trivial werden, zu einer schlagfertigen, aber substanzlosen Ansammlung von Kalenderweisheiten und einer Revue banaler Sketche. Oder so dumm-dämlich wie die Hollywood-Version Gottes in „Bruce Almighty“ (2003). Aber dafür sind die Gags, die visuellen Metaphern und der gelegentlich an die Monty Pythons erinnernde schwarze Brachialhumor zu pointiert, zu scharf und gelegentlich halt auch zu sardonisch, etwa wenn die frustrierte Martine (Catherine Deneuve), eine der neuen Apostel, ihr neues Liebes- und Lebensglück an der Seite eines zärtlichen Gorillas findet. Und in solchen Szenen ist Van Dormael eigentlich nicht mehr bei den Monty Pythons, sondern in der Liga eines Luis Bunuel, der auch ein Meister der Parabel, der visuellen Analogien und surrealen Metaphern war. Nur dass der Belgier deutlich empathischer mit seinem fiktiven Personal umgeht.

Und dies sind, wir erinnern uns an die Bergpredigt, die Schwachen, die Armen und notfalls auch die Bösen, die der Erbarmung bedürfen oder gar zu neuen Aposteln werden können. Und so findet Éa im obdachlosen Victor (Marco Lorenzini), der nicht schreiben, aber wunderschön zeichnen kann, einen Biographen. Zu den neuen Jüngern gesellen sich auch die einarmige Aurelie (Laura Verlinden), der soziopathische Vollstrecker Francois (Francois Damiens), besagte Martine (Catherine Deneuve), der sexsüchtige Marc (Serge Larivière), der Vogelliebhaber Jean-Claude (Didier de Neck) und der Junge Willy (Romain Gelin), der am Ende seiner Tage lieber ein Mädchen sein möchte. Natürlich macht sich Gott per Waschmaschine schnell auf den Weg, um den Supergau zu verhindern. Und natürlich fällt er in der Welt da draußen seinen eigenen Geboten und Gesetzen zum Opfer. Stichwort: Marmeladenbrot.

Unterm Strich ist Jaco Van Dormael ein erstaunlich tiefsinniger Film gelungen. Gute Komödien haben diese Fähigkeit. Sie sorgen dafür, dass einem das Lachen nicht im Halse stecken bleibt, sondern dass es immer wieder zurückkehrt. Die in sechs Kapiteln erzählte Suche Éas nach ihren neuen Aposteln wird daher zu einer scharfsinnigen und gleichzeitig liebevollen Reise mitten rein in die fragile Natur der Menschen und dem, was sie nach einem biblischen Upgrade tatsächlich sein könnten.

Ach ja: Nietzsche hat den Tod Gottes verkündet und die Bergpredigt nicht gemocht, dieses Sozial- und Ethikprogramm für Schwache und Verlierer. Hätte Jaco Van Dormaels „Gott“ Nietzsche gelesen, würde er den deutschen Philosophen dafür lieben. Zur Not hätte es auch Schopenhauer getan. So aber löscht Gottes Frau am Ende die Todesdaten und schreibt ein völlig neues Upgrade für die Schöpfung. Ihr Mann wurde inzwischen als Staatenloser aus Belgien ausgewiesen und sucht nun in Waschmaschinen nach einem Portal für die Rückreise. Irgendwo in einem Kaff in Usbekistan. Das kann nicht gut gehen.
Und Gott? Die ist eine Frau, genauer gesagt: ein Hausfrau mit Staubsauger, kitschigem Geschmack und schlechten PC-Kenntnissen. Nicht die schlechteste Grundlage für einen Reboot.

Noten: Melonie = 1, Klawer, BigDoc = 1,5

Das brandneue Testament (Le tout nouveau Testament) – Belgien 2015 – Laufzeit: 113 Minuten – FSK: ab 12 Jahren – Regie: Jaco Van Dormael – Buch: Jaco Van Dormael, Thomas Gunzig – D.: Benoit Poelvoorde, Pili Groyne, Yolande Moreau, Marco Lorenzini, Laura Verlinden, Francois Damiens, Catherine Deneuve, Serge Larivière, Didier de Neck, Romain Gelin.