Dienstag, 24. Mai 2016

Der Staat gegen Fritz Bauer

Die Geschichte Fitz Bauers ist mittlerweile ergiebig aufgearbeitet worden. In Giulio Ricciarellis „Im Labyrinth des Schweigens“ (2014) spielt Gerd Voss den Generalstaatsanwalt und Wegbereiter der Frankfurter Auschwitzprozesse als begleitende Nebenfigur. Sehenswert ist auch Ulrich Noethens Interpretation in „Die Akte General“ (Fernsehfilm, ARD 2016). In Lars Kraumes „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015) spielt Burghart Klaußner den kämpferischen Juristen. Klaußner gelingt es, jene Mischung aus Ruppigkeit und Ohnmacht zu verkörpern, die entsteht, wenn jemand gegen einen übermächtigen Apparat antritt. Der Filmtitel ist programmatisch zu verstehen.
Der Film liegt seit März auf DVD und Bluray vor.


Gleich zu Anfang liegt Fritz Bauer besinnungslos in einer überlaufenden Badewanne. Sein Leben verdankt er dem Zufall. Bauers Chauffeur sieht Wasser im Flur und zieht den Betäubten aus der Wanne. Auf dem Beckenrand: ein Glas Rotwein und eine Packung Schlaftabletten.
Lars Kraume wählt in seinem Film ein beklemmendes Bild, denn auf ähnliche Weise ist der reale Fritz Bauer 1968 tatsächlich zu Tode gekommen. Die einleitenden Bilder von „Der Staat gegen Fritz Bauer“ zeigen einen Mann am Rande seiner Kräfte. Das trifft den Kern.


Wir schreiben das Jahr 1957, Bauer ist 54 Jahre alt, seit sieben Jahren Generalstaatsanwalt in Hessen und keineswegs der beliebteste Jurist in (s)einem mächtigen Apparat. Der jüdische Staatsanwalt, der bereits in der Weimarer Republik für Furore sorgte, wurde von den Nationalsozialisten 1933 im KZ Heuberg interniert und konnte 1936 unter glücklichen Umständen nach Dänemark, später nach Schweden entkommen. Nach dem Kriegsende wurde Bauers Rückkehr nach Deutschland lange verhindert. Den Amerikanern war ein linker jüdischer Re-Emigrant mit politischen und juristischen Ambitionen offenbar zu heikel. Dies soll Bauer mehr geschmerzt haben als die Loyalitätserklärung, die ihm nachgesagt wurde und die er im KZ Heuberg unterschrieben haben soll. Als Bauer 1949 endlich nach Deutschland zurückkehrt, muss er mit ansehen, dass sich in den Folgejahren kein einziger NS-Richter von einem deutschen Gericht verantworten muss. Die deutsche Justiz ist fest in den Händen der Mitläufer und der überzeugten Nationalsozialisten. Davon erzählt Lars Kraumes Film. Man nennt diesen Abschnitt der deutschen Geschichte auch „Restauration“.


Desinformation und Strafvereitelung: Ein Staat wehrt sich.

Kraume zeigt, dass Restauration in dieser Zeit nicht ‚Erneuerung’, sondern ‚Wiederherstellung’ bedeutete. Eine Zeit bedingter Besinnungslosigkeit. Als Bauer (Burghart Klaußner) seine Staatsanwälte kurz nach seinem vermeintlichen Suizidversuch („Ich habe eine Pistole, wenn ich mich umbringe, wird man das wissen“) einbestellt, können diese von keinen Fortschritten bei den Ermittlungen gegen flüchtige und untergetauchte Nazi-Verbrecher berichten. Im Gegenteil: Man beklagt sich über den ungewöhnlichen Besprechungstermin. Es ist Freitag, alle wollen ins Wochenende. Dass aus Bauers Büro eine wichtige Akte verschwunden ist, interessiert keinen.
Als der junge Staatsanwalt Karl Angermann (Ronald Zehrfeld) seinen Chef unter vier Augen daran erinnert, dass dieser ihm die Akte vor einiger Zeit ausgehändigt habe, entsteht ein Vertrauensverhältnis zwischen dem obersten Staatsanwalt Hessens und seinem jungen Mitarbeiter. Bauer zieht Angermann ins Vertrauen und berichtet von seiner Absicht, den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann aufzuspüren und in Deutschland vor Gericht zu stellen. Eichmann war während des Dritten Reichs zuständiger Referatsleiter für die Judendeportation im Reichssicherheitshauptamt und als loyaler Logistikexperte mitverantwortlich für die Ermordung von über sechs Millionen Menschen in Deutschland und im besetzten Europa. Zur Not, so Bauer, müsse man in dieser Angelegenheit auch mit dem israelischen Geheimdienst Mossad zusammenarbeiten, da das BKA und auch Interpol eine Zuständigkeit für die Suche nach NS-Verbrechern ablehnen. Angermann ist zunächst entsetzt. Dies sei Hochverrat. Doch er schlägt sich schließlich auf Bauers Seite.


Die Dystopisierung deutscher Geschichte im Rückblick

Lars Kraume, der in den letzten Jahren überwiegend „Tatorte“ inszeniert hat, erzählt die Episode aus Bauers Leben zupackend. Während die Bilder der heranbrandenden afrikanischen Flüchtlingswellen und des sich abschottenden Europas in Kraumes dystopischem Sci-Fi-Film „Die kommenden Tage“ (2010) mittlerweile prophetische Qualitäten aufweisen, ist seine Reise in die erzkonservative Adenauer-Ära quasi eine Dystopisierung deutscher Geschichte im Rückblick.
Angermann erfährt dies in den arrogant-elitären Kreisen seines Schwiegervaters: die Elite der Gesellschaft kennt nur Verachtung für einen alten Juden, der auszieht, um 15 Jahre nach Kriegsende die Alt-Nazis vor Gericht zu bringen, die sich im restaurativen Deutschland nicht einmal großartig verstecken müssen. 
Der 39-jährige Ronald Zehrfeld („Weissensee“) spielt dies wieder einmal grandios zwischen skeptischer Zivilcourage und persönlicher Zerrissenheit. Um so mehr, als seine Figur eine Neigung zum eigenen Geschlecht offenbart. Als Staatsanwalt fordert er in einem Homosexuellenprozess ein aufsehenerregend geringes Strafmaß, privat lässt er sich auf eine Affäre mit einem Transvestiten ein. Lebensgefährlich in einer Republik, die Schwule für viele Monate ins Gefängnis schickt. Ersatzlos gestrichen wurde der ominöse Paragraph 175 erst 1994.

„Wenn ich mein Amtszimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland“, resümiert Bauer. Seine Gegenspieler sind der Staatsanwalt Ulrich Kreidler (Sebastian Blomberg, u.a. „Zeit der Kannibalen“) und der BKA-Mann Paul Gebhardt (Jörg Schüttauf). Ihre Motive bleiben etwas unscharf, zu erkennen ist aber, dass sie einem informellen Netzwerk angehören, das durch aktive Behinderung und gezielte Desinformation die Aktivitäten Fritz Bauers weitgehend lahm legen will. Sozusagen Strafvereitelung von Amts wegen. Vermutungen über Bauers Homosexualität („Der Jude ist schwul!“) geben nichts Rechtes her, aber dafür wird Gebhardt später Angermanns sexuelle Eskapaden nutzen, um ihn zu erpressen. Das misslingt.

Denn Bauer lässt sich nicht aufhalten. Als er durch den Brief eines deutschen Emigranten erfährt, dass sich Adolf Eichmann in Argentinien aufhält, wird seine Ermittlungstätigkeit endlich handfester. Der Generalstaatsanwalt nutzt seine Kontakte zum Mossad, um eine Überführung Eichmanns nach Deutschland auszuloten. Nur Angermann und der hessische Ministerpräsident Georg-August Zinn (Götz Schubert) sind in Bauers riskante Operationen eingeweiht. Dem BND war laut ZDF der Aufenthalt Eichmanns längst bekannt. Er wurde gedeckt. Der BND entfernte erst ab Mitte der 1960er Jahre konsequent alle Alt-Nazis in seinen Reihen.

Burghart Klaußner („Das weiße Band“, „Bridge of Spies“) spielt den knorrigen Juristen so, als wäre die Geschichte für ihn erfunden worden. Nicht als eloquenten Redner (das war Fritz Bauer auch nicht), auch nicht als intellektuellen Feingeist, sondern als verschlossenen, harzigen Menschen, der kein Problem damit hat, auch humorvoll und empathisch sein zu können, Klaußner agiert zwischen Kollaps und Aufbruch, Verbitterung und Zuversicht – darstellerisch ein Spagat, aber er gelingt. Eine Figur, die gleichzeitig amorph und völlig gefestigt ist. Das eigentliche Kunststück ist aber, dass es Klaußner gelingt, einen Mann zu zeigen, der auf seine Weise charismatisch ist und Menschen anzieht, ihnen aber gleichzeitig unsentimental die Grenzen aufzeigt und keine Intimität der Gefühle zulässt.

Möglicherweise eine Härte, die auch Kraft schafft. Kraumes Film erhält in der zweiten Filmhälfte durchaus Thriller-Qualitäten. Die Israelis wollen nämlich eine zweite Quelle. Nur durch die investigative Arbeit eines dubiosen Anwalts kann Bauer schließlich finale Beweise vorlegen. Der Rest ist Geschichte: der Mossad entführt Eichmann, die israelische Regierung unter David Ben-Gurion liefert den Naziverbrecher aber auf Druck der deutschen Regierung nicht aus. Eichmann wird in Israel verurteilt und hingerichtet.


Die Grenzen der Faktentreue

Wenn die Fiktion der Geschichte einen Stoff entreißt, beginnen Diskussionen, die schnell ermüden. Wahrheit oder Dichtung? Natürlich ist Faktentreue unerlässlich, erst recht, wenn politisch sehr bedeutsame und exemplarische Ereignisse aufgearbeitet werden müssen. Aber das Kino ist innerhalb dieser Debatte nur selten in privilegierter Position – Historiker und Medien haben sich des Themas bereits angenommen. Im Falle Fritz Bauers ist dies nicht anders.

Nicht immer funktioniert eine Fiktionalisierung ohne Widersprüche. So ist in Kraumes Film die Homosexualität des hessischen Generalstaatsanwaltes faktisch gesetzt – die dezenten Hinweise lassen keinen Zweifel daran. Man erkennt sich an der Wahl der geschmacklosen Socken, die man trägt, auch wenn Burghart Klaußner als Fritz Bauer eine körperliche Berührung Angermanns unmissverständlich zurückweist. Tatsächlich aber gab es keine Beweise, die Bauers sexuelle Orientierung belegen können.
Lars Kraumes überpointierte Erzählung mit grellen Bildern aus der Homo- und Transen-Szene ist daher etwas ambivalent. Richtig ist, dass die Stimmungslage der erzkonservativen jungen Republik mitsamt ihres §175 ins öffentliche Gedächtnis zurückgeholt wird. Dramaturgisch notwendig ist das Ganze auch, weil es Kraume ermöglichte, die finale Entscheidung Angermanns als Akt der Zivilcourage erzählen zu können – als Entscheidung eines Mannes, der sich der Repression und der Erpressung entziehen will, die von einem auf Selbsterhalt abzielenden Apparat ausgeht. Angermann wählt die Selbstanzeige und geht ins Gefängnis.

Auf der anderen Seite darf gefragt werden, ob dies auch anders erzählt werden kann. Für „Der Staat gegen Fritz Bauer“ ist diese Nebenerzählung allerdings der Kitt, der die Geschichte zusammenhält, man braucht allein schon erzähltechnisch eine Figur, die handfeste Dialogszenen möglich macht, ohne dabei zum banalen Stichwortgeber zu werden. 

Ob man dies mit einem bisexuellen Staatsanwalt stemmen muss? Vermutlich nicht, historisch authentische Alternativen gibt es. So hatte Fritz Bauer eine sehr vertrauensvolle Beziehung zu Thomas Harlan, dem Sohn des „Jud süß“-Regisseurs Veit Harlan. Thomas Harlan war ein Nazijäger ganz anderer Art. Seine Ermittlungen führten zu unzähligen Strafverfahren und – man mag es nicht glauben – auch dazu, dass er sich wegen seiner Archivrecherchen zehn Jahre lang nicht mehr legal in Deutschland aufhalten durfte. Kinostoff, der noch zu entdecken ist. Für Kraumes Scriptentwicklung hätte dies aber auch ein veritabler Rohrkrepierer werden können.

So ist es halt mit der künstlerischen Freiheit: no risk, no fun. Die Fokussierung des Films auf die Enttarnung Adolf Eichmann ist daher nicht zu kritisieren, ihre Bedeutung wurde durch Hannah Arendt berühmt gewordenes Buch über den Eichmann-Prozess überdeutlich. Kraume unterschlägt aber eine durchaus interessante Episode. Entscheidend für die Aktion des Mossads in Argentinien war eine Nacht- und Nebelaktion des israelischen Geheimdienstes, der den Agenten Michael Maor in Bauers Büro eindringen ließ, um dessen Eichmann-Akte abzulichten. Laut ZDF mit dem Einverständnis Bauers. Bittere Pointe: Es gab Anfang der 1960er Jahre keine Fotokopierer, Bauer hätte dem Mossad allein aus technischen Gründen nur schwer Einblick in die Akte geben können.


Wenn es etwas an Kraumes Geschichtsrevision auszusetzen gibt, dann spiegelt dies die Grenzen wider, die Biopics im Kino nie vermeiden können: die Essenz bleibt auf der Strecke, die Episode hat pars pro toto zu funktionieren. Fritz Bauers Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Rechtssprechung war mehr als die Jagd nach Eichmann und möglicherweise auch wichtiger als die Frankfurter Auschwitz-Prozesse. Spektakulär ist Bauers Kritik am Schuldstrafrecht, das in erheblichem Maße von einem Konzept der Willensfreiheit ausgeht: der Schuldige hat sich für das Böse entschieden, er hatte eine Wahl. 
Das ist bereits vor der durch die moderne Hirnforschung ausgelösten aktuellen Debatte über die Beschränkungen des freien Willens diskutiert worden. Zwar basiert die Diskussion auf einer durchaus fragwürdigen Auffassung von Determinismus, aber ein Blick in die Geschichte der Rechtslehre zeigt, dass die Frage nach der persönlichen Schuld weit zurückreicht. Wer mehr wissen will, darf ruhig nach der utilitaristischen Rechtsethik eines Jeremy Bentham (1748-1832) googeln. 

Fritz Bauer hat kongenial den Kern dieses gravierenden Problems erkannt und überraschende Konsequenzen gezogen: die vom Richter verhängte Strafe soll keine Bemessung der Schuld sein, sondern „ein Mittel, die Rechtsauffassung des Volkes zu klären und zu vertiefen.“ Nach der Schuld der NS-Verbrecher zu fragen und ihre Verantwortung vor einem Gericht einzufordern – eine erzieherische Maßnahme, keine Sühne. Das deutsche Volk habe zu lernen, „wie man sich zu benehmen hat.“ Erstaunliche Weitsicht, auch heute noch. Besser formuliert: erst recht auch heute noch.

Fritz Bauer wurde am Ende von der Ergebnissen der Auschwitz-Prozesse enttäuscht. Kraumes Film deutet dies an. „Fritz Bauer gegen den Staat“ hat Schwachstellen, leistet aber im Ganzen wichtige Erinnerungsarbeit, auch für die, die aus Altersgründen keine Erinnerung haben können. Ob sie wissen, wie man sich zu benehmen hat, wird sich noch herausstellen.

Noten: BigDoc = 2

Der Staat gegen Fritz Bauer – D 2015 – Regie: Lars Kraume – Buch: Lars Kraume, Olivier Guez - Laufzeit: 105 Minuten – FSK: ab 12 Jahren – Darsteller: Burghart Klaußner, Ronald Zehrfeld, Jörg Schüttauf, Sebastian Blomberg, Götz Schubert, Michael Schenk.

Quellen:

DER SPIEGEL: „Feindliches Ausland“ (31/1995)

Irmtrud Wojak (2011): Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach 1945 (Habilitationsschrift, veröffentlicht in: Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Nr. 2 / 2011)

Marcus Marlie (2008): Schuldstrafrecht und Willensfreiheit – Ein Überblick (in: Zeitschrift für das Juristische Studium, ZJS 1/2008, S. 41 ff.)