Mittwoch, 8. Juni 2016

Mr. Holmes

Inmitten der super-virilen Sherlock Holmes-Adaptionen, die TV und Kino bevölkern, kommt Bill Condons Version wie eine Anti-These daher. In „Mr. Holmes spielt Ian McKellen den Meisterdetektivs als alten, dementen Mann. Allerdings ist Holmes noch nicht am Ende. Es gibt noch einen letzten Fall.

Ist ein Film vorstellbar, in dem James Bond als alterschwacher Mann gezeigt wird, der ohne Sessellift keine Treppe mehr bewältigen kann? Das wäre mit Sicherheit in vier Jahrzehnten eine schöne Altersrolle für Daniel Craig, der bereits in jungen Jahren die Nase voll hat von den physischen Belastungen des Agenten-Daseins vor der Kamera. In „Mr. Holmes“ vollzieht Bill Condon diesen Zeitsprung. Er zeigt den berühmten Sherlock Holmes als Tattergreis, hart am Rande der völligen Demenz. 


Der fast 80-jährige Ian McKellen (Gandalf in „Herr der Ringe) performt dies mit großer Würde und ebenso großer Schwäche im Angesicht des herannahenden Todes seiner Figur. Das macht er großartig, ja sogar oscar-reif. In Bill Condons „Gods and Monsters“ (1998) spielte er bravourös die letzten Tage von James Whale nach, jenem Regisseur, der Mary Shelleys „Frankenstein“ auf die Leinwand brachte und damit ein Kultobjekt des klassischen Genrekinos schuf. In „Gods and Monsters“ (Condon erhielt den Oscar für das ‚Beste Adaptierte Drehbuch’) verliert McKellen immer mehr die Herrschaft über seine Gedanken, in „Mr. Holmes“ die über seine Erinnerungen.

Bill Condon versetzt das berühmte Private Eye, der die Detektivkunst immer als logische deduktive Wissenschaft betrieben hat, ins ländliche Sussex des Jahres 1947. Dort verbringt Holmes seine letzten Tage mit Bienenzucht und den quälenden Versuchen, seinen letzten Fall zu Papier zu bringen.
Nicht einfach. Sein Sidekick Dr. Watson ist schon längst tot und Holmes ist
selbst kaum im Stande, sich noch an den Fall zu erinnern, der ihn dazu brachte, seine Karriere als Detektiv abrupt zu beenden. Das schmerzt. Holmes ist auch als alter Mann immer noch so wie er immer war: im Kern ein rational argumentierender Wissenschaftler mit zynischer Attitüde und wenig Mitgefühl. 

Verzweifelt versucht er mit skurrilen Hausmittelchen seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Kurz zuvor war er nach Japan gereist, doch auch das von dort mitgebrachte Zauberkraut hilft ihm nicht auf die Sprünge. Nur die zögernd zugelassene Freundschaft zu Roger, dem Sohn seiner Haushälterin Mrs. Munro (Laura Linney), bringt etwas Licht in seine beschwerlichen Tage. Das Kind (Milo Parker mit einer beeindruckenden Vorstellung) ist unerbittlicher Fan des Detektivs, Holmes muss jedoch Einiges gerade rücken: Das Meiste, was man von ihm weiß, sei eine literarisches Erfindung von Dr. Watson gewesen, gesteht er Roger – also keine Deerstalker-Mütze und keine Meerschaumpfeife. Er habe in Wirklichkeit Zigarren geraucht und die literarische Heldenverehrung seines Freundes mit großem Misstrauen betrachtet.

Holmes muss nun allerdings Ordnung in sein Leben bringen und seinen letzten Fall lösen. Und der dreht sich um eine junge Frau namens Ann Kelmot (Hattie Morahan), die ihre einzigen Kinder durch zwei Fehlgeburten verlor und die Holmes kurz nach dem Ersten Weltkrieg im Auftrag ihres Mannes observierte. Holmes hatte den Verdacht, dass die depressive Frau die Ermordung ihres Mannes im Schilde führte. Doch er irrte sich und nachdem sich Ann vor einen Zug warf, beendete er seine Karriere.

Erzählt wird die Geschichte in Rückblenden, die sich immer mehr ihrem wesentlichen Kern nähern. Der zweite Fall, der den Greis beschäftigt, ist die Geschichte des Japaners Tamiki Umezaki (Hiroyuki Sanada), der Holmes unter dem Vorwand, ein großer Bewunderer zu sein, nach Japan gelockt hat. Dort sucht er nach japanischem Pfeffer, dem anti-dementiven Wunderkraut, wird aber auch mit dem von einer Atombombe vernichteten Hiroshima konfrontiert. 
Die eigentliche Tragödie, die er in Japan erlebt, verdankt Holmes weniger seinen eigenen Handlungen als vielmehr denen seines literarischen Alter Egos. Umezakis Vater hatte vor vielen Jahren aus Bewunderung für den brillanten Sherlock Holmes seine Familie verlassen, um dauerhaft in England zu bleiben. Und Holmes soll seinen Beschluss energisch befürwortet haben. Tamiki Umezaki hat danach seinen Vater nie wieder gesehen und will nun dem Mann ins Auge blicken, der seine Familie zerstört hat. Holmes teilt seinem Gastgeber mit, dass er dessen Vater nie kennengelernt hat. Umezakis Familiengeschichte zerbricht ein zweites Mal. Zwei Fälle, zwei Begegnungen und Schuldgefühle, die Holmes im idyllischen Sussex Tag für Tag bedrängen. 


Die Fiktion in der Fiktion

Sherlock Holmes lebt. Nicht weil fiktive Figuren heimlich ein reales Vorbild haben, sondern weil man die besten unter ihnen nicht vergisst. Erst recht nicht im Kino.
Das Mastermind aus der Baker Street hat seinen Weg in die Welt der Bilder nicht erst seit der Britserie „Sherlock“ und den waghalsigen Interpretationen eines Robert Downey jr. gefunden. Zu frühem Ruhm kam er durch Basil Rathborne, der ihn 1939 in „Der Hund von Baskerville“ spielte und danach immer wieder, allerdings nicht immer werkgetreu nach Büchern des großen Sir Conan Doyle. Maßgeblich war auch die Deutung Peter Cushings in den späten 1950er Jahren.
Zum letzten Mal verkörperte der Brite mit beherrschter Eleganz und zurückgenommener Gefühlwelt 1984 den mythenumwitterten Detektiv. Peter Cushing gilt bei Fans immer noch als einzig legitime Verkörperung des Mannes mit der Deerstalker-Mütze und dem Inverness-Mantel.

Filme, Hörspiele, Hörbücher und TV-Serien haben das Logikgenie unter den privaten Ermittlern mittlerweile bis an die Grenze des Machbaren gedreht und gewendet. In „Mr. Holmes“ schaut sich die Titelfigur sogar angewidert einen alten Schinken aus den 1980ern an. Man kann ihn verstehen: In der seit 2012 ausgestrahlten Serie „Elementary“ leben Holmes und sein Assistent und Biograph Dr. Watson im New York von heute und lösen dort ihre Fälle. Und Dr. Watson wird dort sogar von einer Frau verkörpert (Lucy Liu), was nicht die schlechteste Lösung angesichts des Gender Mainstreaming ist, mit der Mythologie der Conan Doyle aber wenig zu tun hat.

Auch in „Mr. Holmes“ findet eine kräftige Dekonstruktion des Holmes-Mythos statt, doch die führt natürlich auch nicht in die Realität. Sherlock Holmes ist und bleibt eine literarische Figur. Holmes - ein medialer Wiedergänger, nicht tot zu kriegen, und die regelmäßige Wiederbelebung durch die Medien weiß daher eine Menge eine Menge über die Faszination zu berichten, die von unterkühlten Geistesakrobaten offenbar ausgeht. 
Bill Condons Point of View erzählt zwar eine realistische Geschichte, diese führt aber zu einer neuen Phantasiegeburt. Zum Glück.
Seinen Sherlock Holmes präsentiert der Regisseur als fiktionale Figur, die sich mit den ärgerlichen Folgen der literarischen Fiktionalisierung auseinandersetzen muss. Eine doppelte Fiktion sozusagen, die sich da bespiegelt, eine Kunstfigur, die sarkastisch darüber nörgelt, dass sie zur Kunstfigur geworden ist - das hat Witz.
Ian McKellens Darstellung des Meisterdetektivs setzt diese narrativen Tricks mit bemerkenswerter Konsequenz um. Trotz der Gebrechlichkeit und der sich auflösenden Erinnerungen spielt er Holmes als einen Mann, der sich zwar nur noch mit tausend Raffinessen über den Tag retten kann, aber wegen seiner zunehmenden Schwäche empfänglich wird für die Schwächen anderer. Am Ende löst er den Kelmot-Fall daher nicht auf detektivische, sondern auf menschliche Weise. Und die blickt mitunter instinktsicher hinter die Kulisse der Fakten.

Holmes erinnert sich endlich an die letzte Begegnung mit Ann Kelmont, in der ein Gespräch die völlige Einsamkeit der beiden offen legte. Doch Holmes lehnte das Angebot, diese Einsamkeit gemeinsam zu verbringen, distanziert ab und riet Ann zur Rückkehr in die unglückliche Ehe. Ann wählt jedoch den Freitod. Holmes letzter Fall scheiterte nicht, weil der Detektiv kriminalistisch versagte, sondern weil er Angst vor etwas hatte, das mit Logik nicht zu packen ist.


Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Mit der Verfilmung des Romans „A Slight Trick of the Mind“ (2005) von Mitch Cullin ist Bill Condon ein bemerkenswerter Film gelungen. Zusammen mit dem deutschen Kameramann Martin Schliessler entstand ein gemächlicher Erzählrhythmus, der ohne ästhetische Experimente seine eigene Ruhe findet, ohne dabei die Geschichte aus den Augen zu verlieren. Langweilig wird „Mr. Holmes“ nie – Old Sherlock ist zwar old-school, aber das muss ja nicht schlecht sein. Und so interessiert sich Bill Condons Film nicht an finalen Plot Twists, sondern an seiner künstlerischen Quintessenz: „Mr. Holmes“ erzählt von der schieren Notwendigkeit der Empathie inmitten der sich verlierenden Zeit. Und das mit einer Figur, deren Mangel an Empathie zu ihrem Markenzeichen wurde.

Während Benedict Cumberbatch in „Sherlock“ nicht nur dem klassischen Markenkern des kühlen Intellektuellen eine neue moderne Ausrichtung gegeben hat und sein Holmes den eigenen soziopathischen Charakter erkennt und sogar offensiv feiert, ist Condon den anderen Weg gegangen. Er hat seinen Holmes zwei Weltkriege erleben lassen und ihn, quasi aus der Zeit gefallen, zu einem Opfer seiner Vergangenheit gemacht. Diese ist in doppelter Hinsicht eine Qual: ihre Bedeutung will sich nicht auflösen, sie ist jeden Tag spürbar, aber die konkreten Erinnerungen verblassen mit zunehmender Geschwindigkeit. Das Einzige, was da noch helfen kann, sind nicht die Gespenster der Vergangenheit, sondern die Menschen, die noch da sind. Eine Haushälterin, die kaum lesen und schreiben kann, und ein Kind, dessen Intelligenz allemal für einen neuen Holmes ausreicht. Manchmal ist halt vieles ganz einfach. Holmes muss es nur logisch betrachten.

Am Ende lernt Holmes seine verschüttete Menschlichkeit kennen – nicht schlecht für einen Mann, über den Conan Doyle gesagt hat, dass alle Gefühle seinem kalten Geist zuwider waren. Es gehört zu den Qualitäten dieses Films, dass Condon seiner Figur und den Zuschauern dabei das große Melodram erspart. Dafür sorgt auch die bemerkenswerte darstellerische Leistung von Ian McKellen. McKellen zeigt ohne aufdringliche Sentimentalität, wie sein Sherlock Holmes seine ganz eigene Empfindsamkeit entdeckt, und sei es, indem er wie ein Japaner Steine auf dem Boden arrangiert – Symbole für all die Toten, die ihn zurückgelassen haben.

Den Fall des traumatisierten Japaners löst Holmes schließlich nicht mit kühlen Fakten, sondern mit einer erfundenen Geschichte. Eigentlich sogar mit einer Lüge. Aber einer, die helfen wird. Die allerdings ist nicht von Dr. Watson. Es ist die erste Geschichte, die Holmes selbst geschrieben hat. Er hat gelernt, dass Fiktionen manchmal wichtiger sind als Fakten. John Ford hat dies auch gewusst.
Noch einmal: Sherlock Holmes lebt.


Noten: Melonie = 1, BigDoc = 1,5


Mr Holmes – USA, GB 2015 – Laufzeit: 104 Minuten – Regie: Bill Condon – Buch: Jeffrey Hatcher – Kamera: Tobias A. Schliessler – D.: Ian McKellen, Laura Linney, Milo Parker, Hiroyuki Sanada.