Samstag, 16. Juli 2016

Toni Erdmann

In Cannes jubelten die Kritiker, große Preise gab es zwar nicht, nur den FIPRESCI-Preis der Filmkritiker, aber die Verleihrechte an „Toni Erdmann“ wurden bereits in 55 Länder verkauft. Ist Maren Ades Film die Wiedergeburt eines „Neuen Deutschen Kinos“ oder eine Kostümklamotte, in der Fremdschämen zur Methode erklärt wird?

Die ersten Lacher im Kino gibt es bereits am Anfang. Winfried Conradi (Peter Simonischek) öffnet einem Paketzusteller die Tür und verwickelt den Ärmsten in ein umständliches Gespräch. Der wird, natürlich unter Zeitdruck stehend, immer nervöser. Aber sein Kunde ruft ins Haus hinein nach seinem Bruder, der sei der Empfänger, dann verschwindet er kurz und dann steht tatsächlich ein zotteliger Typ mit Überbiss vor dem ungeduldigen Zusteller und quittiert den Empfang mitsamt einem fetten Trinkgeld.
Natürlich gibt es den Bruder nicht. Winfried, der pensionierte Musiklehrer hat sich mit ein paar Requisiten passend verwandelt und hat einen Heidenspaß an der Sache. Das Gebiss, das ihn zum trotteligen Kauz macht, trägt Conradi in der Brusttasche seines Hemdes herum. Er schiebt es sich immer in den Mund, wenn es notwendig ist. Und das wird oft der Fall sein.




Psychopathologie der Globalisierung

Eins  wird schnell klar: der Mann ist ein Außenseiter, den man bei der Einladung zum Familiengeburtstag kurz und bündig und mit Absicht einzuladen vergisst. Warum das so ist, kann man in Maren Ades Film nur ahnen, eine richtige Backstory hat der Mann nicht.
Als sein Hund stirbt, bricht Conradi nach Rumänien auf, um bei seiner Tochter Ines (Sandra Hüller) nach dem Rechten zu schauen. Die arbeitet für eine Unternehmensberatung und hat gerade einen fetten „Business Case“ an der Angel. Man trifft sich kurz vor der Präsentation mit dem Kunden zu lockeren Gesprächen, meistens in Englisch, in der Hotel-Lounge, in Restaurants, und hinter der Lockerheit taucht schon mal ganz abrupt die schreckliche Angst vor dem Versagen auf. Denn Ines verliert - nur einmal - die Kontrolle und erklärt beim Smalltalk die Präferenzen ihres Kunden, und das in dessen Beisein: Man plane ein profitables Outsourcing für sein Unternehmen. Alles locker, alles entspannt, nur der Kunde legt verärgert sein Veto ein: Dies sei nur eine von vielen Optionen. Ines versteinert. Ein kleiner Fehler nur, aber er könnte in der Welt der globalisierten Profitoptimierung verhängnisvoll sein.


Winfried sitzt mittendrin, erzählt mitunter Albernes. Er wird zu einem Paradiesvogel, den Ines widerwillig mit sich herumschleppt. Was Outsourcing ist, muss ihm Ines später erklären. Dass in ihren Kreisen kommunikationsverträgliche Euphemismen gebräuchlich sind, versteht ihr Vater schnell. Übersetzt man den Sprachtrash, dann geht es natürlich darum, dass einige Hundert Arbeitsplätze wegrationalisiert werden sollen. Das will der Kunde aber nicht so unverblümt hören, schon gar nicht öffentlich. Die Consultingfirma, das hat Ines schnell erkannt, bezahlt er dafür, dass sie ihn mit harten Zahlen davon überzeugt, etwas zu tun, wofür er später nur beschränkt die Verantwortung übernehmen will. Was Maren da beiläufig hinzaubert, ist eine Psychopathologie der Globalisierung.



Fremdschämen und Glück

„Toni Erdmann“ legt es konsequent darauf an, dass Fremdschämen zum beherrschenden Gefühl im Kino wird. Überall, wo Ines ihren kauzigen Vater hinschleppt, fabriziert dieser Blödsinn, stellt die falschen Fragen und gibt noch falschere Antworten. Winfried schiebt sich dann auch noch fallweise die schiefen, hässlichen Zähne in den Mund. Man windet sich im Kinosessel und die Lacher wirken nicht befreiend, denn eigentlich ist es zum Heulen. Auch das ist psychopathologisch interessant.
Fremdschämen ist nämlich garantiert etwas, was uns die Spiegelneuronen systematisch antun. In einer Art von empathischem Reflex gewinnen wir aber nicht etwa ein wohlwollendes Verständnis für den anderen, sondern werden sogartig in Erinnerungen hineingezogen, die leider nur allzu oft mit Dingen verknüpft sind, die man im eigenen sozialen Umfeld erleben musste. Da ist jemand, der ungeschriebene Regeln verletzt, dies auch noch lustvoll-naiv zelebriert. Fremdschämen, das ist Scham ohne eigenes Zutun. Es reicht, wenn der kauzige Vater sich zum Trottel macht.

Als es zur Konfrontation zwischen Ines und ihrem Vater kommt, reist der nur scheinbar ab. Ganz plötzlich ist wieder das, komplett verwandelt, mit Perücke und schiefen Zähnen stellt er sich als „Toni Erdmann“ vor und treibt das Possenspiel, erleichtert durch die Maske, immer neuen Höhepunkten zu. Dabei ist Winfried kein messerscharfer Analytiker, kein intellektueller Systemkritiker und auch der Nimbus des Alt-68ers, den ihm einige Kritiker untergeschoben haben, will sich nicht so recht einstellen. Winfried aka „Toni“ will einfach seine Tochter nicht verlieren und fragt deshalb, nachdem er ihr eine Käsereibe zum Geburtstag geschenkt hat, ob sie glücklich sei (jenes Streben, das Freud als Lebenssinn zu erkennen glaubte, der aber definitiv im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen sei). Die schnappt nach Luft, das seien doch ziemlich große Worte, die plötzlich herumfliegen, und in ungewohnter Sprachlosigkeit weiß sie nicht antworten, die starke, clevere Business-Frau. Und im Kino fragt man sich plötzlich verblüfft, warum man sich eigentlich nicht fremdschämt, wenn all die cleveren Business-Männer in ihrem gediegenen euphemistischen Trashtalk sich wie feindliche Kolonialmächte in einem Land aufführen, das schlicht und ergreifend arm und beinahe perspektivlos ist. Einmal, und da muss man schon genau hinschauen, schaut Ines nach einem Meeting aus dem Fenster und dort blickt sie in eine andere Welt, in einen schmuddeligen Hinterhof mit verrotteten Wohnbaracken und dreckigen Kindern, die dort spielen. Das ist dann aber die Perspektive der Kamera und nicht ihre.



Erotik und Verdinglichung

Dass Ines, die kühl Kalkulierende, neben der Ökonomie des Qutsourcing auch jene des Sexus und der Arbeitsmoral beherrscht, zeigt eine Schlüsselszene in Maren Ades Film. Ines hat einen rumänischen Kollegen, der auch ihr Liebhaber ist. Man trifft sich zu einem Tete-à-tete im Hotel. Ines’ Lover merkt ironisch an, dass Gerald, ihr Chef, gesagt hat, er solle Ines nicht so oft vögeln, da sie sonst ihren Biss verlieren würde. Ines verzieht keine Miene und beschließt zuzuschauen, und das bedeutet, mit hochgeschobenem Rock, den heftig masturbierenden Lover zwischen den Schenkeln zu haben - Instrumentalisierung par exellence.
Man muss nicht Freud kennen, um die Szene zu begreifen, aber es tut der Sache keine Abbruch, ihn zu zitieren: „Es scheint vielmehr, dass sich jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht aufbauen muss; es scheint nicht einmal gesichert, dass beim Aufhören des Zwanges die Mehrzahl der menschlichen Individuen bereit sein wird, die Arbeitsleistung auf sich zu nehmen, deren es zur Gewinnung neuer Lebensgüter bedarf. Man hat, meine ich, mit der Tatsache zu rechnen, dass bei allen Menschen destruktive, also antisoziale und antikulturelle Tendenzen vorhanden sind und dass diese bei einer großen Anzahl von Personen stark genug sind, um ihr Verhalten in der menschlichen Gesellschaft zu bestimmen“ (Die Zukunft einer Illusion – Arbeitszwang und Triebverzicht als Fundament der Kultur“, 1927).
Es scheint, als habe sich Sigmund Freud damit im Vorgriff auf die Seite Ines' geschlagen. Aber da ist ja noch das von ihm paradigmatisierte Unbehagen an der Kultur, denn neben dem Eros muss auch der Destruktionstrieb unterdrückt werden, damit Kultur funktioniert. Das macht keinen Spaß, deswegen helfen Ines und ihre Kollegen gelegentlich mit etwas Koks dem Fun auf die Sprünge. Das hedonistische Treiben, das anschließend in einer Disco stattfindet, scheint auch den anarchischen Toni zu überfordern. Und da stellt sich schon die Frage, wem das Attribut 'antisozial'  gebührt - der Tochter oder dem sublimativen Toni Erdmann. Den Begriff der Verdinglichung kannte Freund wohl nicht, was Instrumentalisierung bedeuten kann, dürfte ihm nicht fremd gewesen sein. 



Improvisierter Naturalismus

Maren Ade hat für diese beklemmende Tragikomödie eine eigene Bildsprache entwickelt. Keine artifizielle, sondern eine ganz einfache: sie lässt die Kamera zuschauen, auch dann, wenn der Zuschauer im Kopf bereits den fälligen Schnitt verlangt. Der kommt aber nicht. Die Einstellungen sind lang, die Szenenauflösung ist unambitioniert und sehr pragmatisch. So kommen dann auch 162 Minuten Laufzeit zusammen, die aber nicht zu lang geraten sind.
Das liegt auch an den Darstellern. Der 70-jährige Peter Simonischek, der ansonsten am Burgtheater Wien spielt, aber auch etliche Filme („Rubinrot“) und TV-Produktionen („Bella Block“) im Portfolio hat, spielt nicht Toni Erdmann, er ist es. Simonischek legt eine Performance hin, wie man sie lange nicht im deutschen Kino gesehen hat. Er brabbelt, tastet sich in die Sätze hinein, und wenn er tiefgründig wird, fühlt es sich an, als sei es ein Zufall. Da sitzen sogar die Pausen zwischen den Sätzen, die unauffälligen Mienenwechsel fallen auf, eben weil sie diskret, so improvisiert erscheinen. Und wenn er sich dann als Toni Erdmann immer wieder der Entourage seiner Tochter aufdrängt, wird sogar sein schlechtes Englisch etwas besser und in der "Schildkröten"-Szene legt Erdmann eine brillante Komödienszene hin, die einfach mitreißt.
Sandra Hüller (die keinen Mangel an Darstellerpreisen beklagen muss, u.a. Deutscher Filmpreis für „Finsterworld“) bewegt sich an der Seite ihres renommierten Kollegen mit Bravour und zu Recht verweilt die Kamera oft sehr lange auf ihr und ihrer Mimik, einer Mischung aus Toughness und Verklemmtheit. Ihren Vater und sein Alter Ego lässt sie nach erstem Widerstand mehr an ihrem Leben teilnehmen, als dieser erwartet hat und verstrickt ihn in moralische Konflikte, die ihn überfordern. So ist der unglükliche Winfried schließlich sogar für die Entlassung eines rumänischen Arbeiters mitverantwortlich, was Ines cool mit der Feststellung kommentiert, dass sie nun um so weniger Menschen entlassen muss. Die holperige, ungelenke Kommunikation der beiden erreicht dabei eine grandiose Authentizität. Im Grunde genommen sieht man in „Toni Erdmann“ das virtuose Gegenstück zum Overacting.

Überhaupt hat man ständig das Gefühl, dass am Set häufig improvisiert worden ist. Das verschleppte Tempo reißt Leerstellen in die Szenen, die aufgefüllt werden müssen. Psychologisch erklärt dies wenig, aber es gibt dem Film einen Rhythmus, der – fernab von Behäbigkeit – so aussieht, als sei der Naturalismus wie der Phönix aus der Asche wieder auferstanden. Gemeint ist aber nicht der philosophische Naturalismus mit seinen wissenschaftsfixierten Paradigmen, sondern jener Naturalismus, der in Literatur und Theater mit präziser Beobachtung der Individuen und ihrer sozialen Determinanten verbunden wurde – eigentlich ein literarisches Kind des 19. Jh., entschieden abzugrenzen vom Realismus, der ja in seinen linken Deutungsformen mit einem explizit analytischem Anspruch auftrat.


Mir scheint aber, dass ein Film, der über weite Strecken so aussieht wie eine ausufernde Improvisation, bei der auch am Schneidetisch jegliche Effizienz aufgegeben wurde, genau das notwendige Tempo besitzt, um den Film nicht den Kalauern und der Situationskomik zu überlassen.
Denn eins ist klar: eine Komödie ist „Toni Erdmann“ nicht. Zu oft bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Zum Beispiel, wenn Winfried als anarchistischer Toni Erdmann etliche Partys und Verstaltungen okkupiert und niemand so recht versteht, warum die Businessfrau diesen schrägen Typen herumschleppt. Dort bringt er seine Tochter irgendwann zum Singen, er begleitet sie am Klavier, und wenn Ines dann Whitney Houstons
Greatest Love of All“ mitsamt dem programmatischen „Learning to love yourself" in die Runde schmettert, dann ist dies qualitativ irgendwo zwischen Können und Wutschrei angesiedelt. Allein die idealisierte Wendung zum Guten bleibt aus. Zwar verwandelt Ines am Ende ganz lapidar ihre Geburtstagsparty in eine Nacktparty, aber weder das Lachen im Kino wirkte bei diesen Bildern befreit noch das Szenario selbst. Man wird nicht frei, wenn man die Kleider ablegt.

Fazit: „Toni Erdmann“ könnte Beginn oder Fortsetzung eines naturalistischen Kinos sein, das in Deutschland nicht gerade häufig zu sehen ist. Dem Naturalismus fehlt die analytische Schärfe, eben der realistische Duktus. Eine Message sucht man vergeblich, die lange Schlusseinstellung auf Sandra Huller, die sich beinahe schüchtern in der Schlussszene selbst in ‚Toni Erdmann’ verwandelt, zumindest ganz kurz, mag sinnbildlich dafür stehen. Immerhin hat Ines am Ende den Sprung nach Singapur und zu McKinsey geschafft – aber für diesen globalen Unternehmensberater sind Massenentlassungen quasi ein Markenzeichen geworden. Die große Katharsis ist das nicht.

Maren Ade erzählt ihre Geschichte mit unerbittlicher Überlänge und mit einfachen visuellen Mittel und allergrößter Akribie.
„Ich suche nach dem Drama einer Figur oder nach ihrer Verzweiflung", hat die Regisseurin in einem Interview erklärt. Das hat sie hinbekommen. Mitsamt Fremdschämen und gequältem Lachen. Ihre Figuren machen einen kleinen Schritt, die Revolte bleibt aus. Es geht weiter wie gehabt, und Toni Erdmann ist ein Don Quichotte, der am Räderwerk der globalisierten Welt nichts ändern wird. Dem Naturalismus wohnt eben auch ein unübersehbarer Fatalismus inne, das hat bereits Kant erkannt. Die Windmühlen drehen sich weiter, Don Quichotte zieht davon. Der Zuschauer muss selbst herausfinden, was er davon halten soll.

Note = 1,5

Toni Erdmann – Deutschland, Österreich 2016 – Laufzeit: 162 Minuten – Regie, Buch: Maren Ade – D.: Peter Simonischek, Sandra Hüller, Michael Wittenborn, Thomas Loibl.