Montag, 12. September 2016

Stanislaw Lem und ‚seine‘ Filme

Essay und Annotationen zu „Solaris“

Vor 95 Jahren wurde der Philosoph und Schriftsteller Stanislaw Lem am 12. September im polnischen Lemberg geboren. Vielen ist Lem nur als Science Fiction-Autor bekannt, Lem sah sich in späteren Jahren nicht so, 1987 erschien sein letzter Roman. Allerdings nutzte er Fiction als Vehikel, um philosophische Fragen als Gegenstand empirischer Science zu diskutieren. „Solaris“ ist sein bekanntester SF-Roman. Welchen Nachhall dieses Buch hat, zeigen neben Hörspielen, Bühnenfassungen und sogar Opern auch die Verfilmungen: insgesamt dreimal wurde die Geschichte adaptiert, einmal für das russische Fernsehen, zweimal fürs Kino, und zwar von Andrej Tarkowski und Steven Soderbergh. Grund genug, um sich diese beiden Filme (die Lem übrigens verwarf) noch einmal gründlich anzusehen.
 

Solaris – das Buch

In seinen non-fiktionalen Büchern tauchten statt Kant und Hegel vielmehr Kybernetik, Informations- und Wahrscheinlichkeitstheorie auf. Auch als fiktionaler Autor blieb Lem Wissenschaftler. Auch in „Solaris“ ist das so, in anderen Büchern sogar noch prägnanter. Auf Steven Soderberghs gleichnamige Verfilmung reagierte er empört. Er schaute sich den Film nicht vollständig an.
 „Alles Interessante an meinem Roman bezog sich auf das Verhältnis der Menschen zu diesem Ozean als einer nicht-humanoiden Intelligenz – nicht auf irgendwelche zwischenmenschlichen Liebesgeschichten. Na, wenigstens haben sie mir ein anständiges Schmerzensgeld gezahlt.“

Da hatte er wohl Recht. Aber eben nicht ganz. Die Liebesgeschichte hat Lem in seiner Geschichte selbst platziert, für den Skeptiker und Pessimisten war sie wohl die beste Möglichkeit, die emotionalen, moralischen und wissenschaftlichen Grenzsituationen, in die seine Figuren geraten, plausibel vor Augen zu führen. Dass sich seine cineastischen Nachahmer keineswegs wie Adepten aufführten, sondern den Stoff für ihre Zwecke überwältigten, ist kaum eine Überraschung – die Textur von „Solaris“ war und ist bis heute einfach zu verführerisch, die epistemischen Fragestellungen sind so unsterblich wie der Planet Solaris. Was die Solaris-Verfilmungen anders gemacht haben, ist eines der Ziele dieser Untersuchung. Eine möglichst genaue Inhaltsangabe des Romans ist daher conditio sine qua non für einen kritischen Abgleich.


Der Psychologe Kris Kelvin fliegt zum Planeten „Solaris“, um einige Ungereimtheiten auf der wissenschaftlichen Raumstation zu überprüfen. Nach seinem Eintreffen erfährt er, dass sich sein Freund Gibarian unmittelbar vor seiner Ankunft das Leben genommen hat. Kelvin trifft nur noch den skurrilen Kybernetiker Snaut an, der abweisende Physiker Sartorius schließt sich meistens in seinem Labor ein. Nach kurzer Zeit stellt Kelvin fest, dass Gibarjan, Snaut und Sartorius Besuch von „Gästen“ bekommen haben. Der Gast des toten Gibarjan, eine fettleibige Schwarze, schlurft immer noch durch die Gänge. Über Snauts Nemesis erfährt man so gut wie nichts und Sartorius scheint ein Strohhut zu quälen. 

Dass alle Menschen auf der Station sich in der Begegnung mit den „Gästen“ mit Schuldgefühlen auseinandersetzen müssen, wie vielfach in der Lem-Rezeption behauptet wird und was auch bei der Analyse der Verfilmungen meist unwidersprochen unterstellt wird, ist im Text nicht zweifelsfrei zu erkennen. Lem hüllt sich in dieser Sache in Schweigen. 



Wie auch immer: Snaut und Sartorius reagieren verzweifelt, paranoid und zynisch auf ihre „Gäste“ und wollen dem Spuk mit allen Mitteln ein Ende bereiten. Besonders Sartorius scheint kompromisslose Optionen nicht auszuschließen. Snaut nennt ihn einen „Faust in reverse“ (engl. Ausgabe). Auch Kelvin, der Ich-Erzähler des Romans, wird am nächsten Morgen besucht – er erwacht und sieht seine Frau Harey. Die jedoch ist tot. Sie hat sich das Leben genommen. Eigentlich.

„Eigentlich“ ist sprachlich ambivalent. Aber auch philosophisch. Es wäre interessant, dass Verhältnis von Eigentlichem und Uneigentlichem in Lems Roman im Heideggerschen Sinne zu diskutieren, aber das ist hier nicht das Thema. 
Als Sprachspiel ist das Eigentliche das Ungesagte, aber als wahr Behauptete jenseits des Gesagten oder das im Gesagten verschlüsselte und nur dem enthüllenden Kenner Zugängliche – ein Interpretationsmuster, das bei Tarkowski zu berücksichtigen ist. 
In „Solaris“ bleibt die Tür zum Eigentlichen fest verschlossen. Die Phänomene, die die Wissenschaftler auf der Oberfläche des Planeten und im Inneren der Station beobachten, verstehen sie nicht. Gelten die Naturgesetze universell, dann können Tote nicht zurückkehren. Vor Kelvin steht aber kein Monster oder ein Untoter, sondern ein lebendiges Wesen, das (wie man erfahren wird) zu 99% und bis zur subatomaren Ebene einem Menschen gleicht. Eine virtuelle Existenz.
 

Nicht nur sein Verstand, auch Kelvins Unbewusstes rebellieren, als ihm die Frau gegenübertritt, die sich auf der Erde vor Jahren das Leben genommen hat. Eigentlich ist Harey ja tot, aber das, was dem bis ins Mark erschütterten Psychologen etliche Lichtjahre entfernt von seiner Heimat widerfährt, ist überwältigend und verstörend zugleich, weil es mehr ist als ein neuer empirischer Tatbestand. 
Ist die Frau, die plötzlich vor ihm steht, eine Kopie? Wer hat sie hergestellt? Und vor allen Dingen: Warum? Am wichtigsten aber ist nicht die Frage, ob die Erscheinung ein Mensch ist, sondern die Frage, ob dieses Wesen im ethischen Sinne als Mensch behandelt werden muss.
 Kelvin, der fest davon überzeugt ist, auf der Erde für den Selbstmord seiner Frau verantwortlich gewesen zu sein, findet in dieser Situation eine radikale, aber temporär praktische Lösung: Er setzt sich mit diesen Fragen erst gar nicht auseinander, sondern entsorgt seinen „Gast“, dessen Tod billigend. Er lockt Harey 2 in eine Raumkapsel und schießt die verzweifelt Schreiende in eine Umlaufbahn um den Planeten.
„…ich hätte alles nur Erdenkliche getan, nur um zu vermeiden, dass ich wiederum diese grässliche Stimme hören müsste, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. Eines konnte ich mir sagen: dass alles Blendwerk zerrissen war, und dass durch Hareys vorgespiegeltes Gesicht ein anderes Gesicht hindurch zu blicken begann, das wahre Gesicht, gegen das die Alternative des Wahnsinns wirklich einer Befreiung gleichkam.“

Das Problem der Solaristen auf der gottverlassenen Raumstation ist, dass sie keinen Kopien begegnen, sondern Verkörperungen ihrer eigenen Bewusstseins- und Erinnerungsinhalte, die der Planet ausgelesen und zusammengemixt hat. Das, was Solaris erschaffen hat, ist allerdings empfindungsfähig ist und es spürt schnell, dass etwas ‚falsch’ ist.
Schon am nächsten Tag steht Harey 3 vor ihm. Und die weiß nichts von ihrer unglücklichen Vorgängerin (dass die „Gäste“ beinahe unsterblich sind, erfährt Kelvin später). Kelvin erlebt sein existenzielles Waterloo, ohne dessen Ausmaß bereits zu kennen: Nun hat er möglicherweise zwei Frauen auf dem Gewissen.
Der Leser hat ebenfalls ein moralisches Problem: Kann man diese Geschöpfe im Weltraum entsorgen oder haben wir hier das Data-Problem aus „The Measure of a Man“ („Wem gehört Data?“ - „Star Trek – The Next Generation“, Season 2, ep. 9)? 

Es ist eines der fundamentalen Probleme der
„Theory of Mind": Kann künstliche Intelligenz mentale Zustände wie ein Mensch haben oder kann sie diese nur simulieren? Wie ist eine Simulation einzuschätzen, wenn sie so beschaffen ist, dass sie perfekt Leid und Verzweifelung als emotionale Reaktion auf einen Input erzeugt?
Lem hat in der Kurzgeschichte
Non Serviam" anklingen lassen, dass eine formal perfekte KI zu erstaunlichen Leistungen fähig wäre, ausgewöhnliche kreative Leistungen eingeschlossen. Aber dafür würde sie kein Bewusstsein benötigen. Dazu müsste man das widerspruchsfreie System unterwandern: mit Widersprüchen und Asymmetrien - die Emotionen müssten der Vernunft widersprechen, die KI müsste „unerträgliche Zerrissenheit" erleben.
Harey 3 hat Erinnerungen, aber diese fühlen sich für sie nicht so an, als hätte sie die damit verbundenen Ereignisse wirklich erlebt. Das ist schon verdammt selbstreflexiv und zerrissen ist es auch. Ich vertrete daher hilfsweise die These, dass eine intelligente Entität eine solche ist, wenn sie im kognitiven und physischen Sinne (Denk- und Körpererfahrung) Selbstbewusstsein besitzt, kommunizieren kann (wobei sie fähig ist, etwas nicht zu verstehen) und ihre Seinsweise als Lebensform für unantastbar hält, weil sie deren Zerstörung fürchtet. Letzteres hat erhebliche rechtliche Konsequenzen (für Interessierte: Dredd Scott versus Sandford-Verfahren).


Was können wir wissen?

Aber „Solaris“ ist nicht nur eine Moral- und Ethikdebatte. Der eigentliche Kern des Romans ist eine Reflexion über Wissenschaft, ausführlich, detailreich und unentbehrlich für das Verständnis des Romans. Lange Passagen des Buches bestehen aus den Zusammenfassungen der Solaris-Forschung, die Lem grandios in Szene setzt, wenn er seinen Helden in die Stationsbibliothek schickt, um ihn dort in alten Folianten blättern und von den Ergebnissen der Solaris-Erforschung erzählen zu lassen. 

Der vor über 100 Jahren entdeckte Planet, so berichtet Kelvin über die Solaristik, ist eine wabernde Gallerte, die merkwürdige Formen erzeugt und wieder verschwinden lässt. Symmetriaden und Asymmetriaden und besonders die geheimnisvollen Mimoide offenbaren faszinierende, aber auch geheimnisvolle Aktivitäten. Sie zeigen deutlich, dass der Planet mimetische Fähigkeiten besitzt. Aggressivität geht von Solaris nicht aus, die aus dem Ozean herauswachsenden Gebilde weichen sogar gefährlich nahekommenden Fluggleitern aus, um menschliches Leben nicht zu gefährden. Solaris korrigiert auf unbekannte Weise außerdem die Laufbahn um die Sonne seines Systems, was komplexe mathematische Kenntnisse voraussetzt. Ein denkender Planet?
Zunächst für eine bio-chemische Monstrosität gehalten, unterstellt bereits die zweite Forschergeneration der Solaris eine biologische Existenz – Bewusstsein inklusive. Die andere Hälfte bestreitet dies weiterhin, auch weil alle Kontaktversuche erfolglos bleiben. Unzählige Methoden hat die scholastische Solaristik entwickelt, unzählige Modelle wurden aufgestellt. Doch der Planet schweigt, jedenfalls im herkömmlichen Sinne, er ‚spricht‘ nicht mit seinen Besuchern. Das macht das Ziel einer erfolgreichen Kontaktaufnahme erst recht zum Maß aller Dinge. Auch für Kelvin.


Die Bibliotheksexkurse in Lems Roman besitzen eine Schlüsselfunktion. Zum einen, weil Stanislaw Lem sie nutzt, um mit überwältigendem Detailreichtum die Beschreibung des Planeten mit literarischen Mitteln zu einer quasi-sinnlichen Erfahrung zu machen, zum anderen, um mit einer exakten naturwissenschaftlichen Beschreibung die immensen Anstrengungen der Solaristik widerzuspiegeln. So entsteht zwangsläufig auch eine skeptische und desillusionierende Auseinsetzung mit einer Wissenschaft am Rand der Erkenntnismöglichkeit – ein Schlüsselthema in Lems Schriften.

Sowohl in Tarkowskis als auch in Soderberghs Kino-Adaption fehlt dies vollständig. Nicht nur die zugegebenermaßen schwer verfilmbaren Exkurse der Solaristik gehen verloren, sondern damit auch eine für den Zuschauer sinnlich erfahrbare Darstellung des Planeten. Tarkowski scheint dies nicht interessiert zu haben. Soderbergh standen die technischen Möglichkeiten zur Verfügung, möglicherweise aber nicht das Budget, um den Planeten in seiner ganzen Fremdartigkeit zu visualisieren.


Der Planet ist ideengeschichtlich ein Spiegelbild des Kant‘schen Dings an sich, das prinzipiell nicht erkannt werden kann, wenngleich der Mensch mit den apriorischen Kategorien und den ihm vorgegebenen Sinnen keineswegs Kopfgeburten nachstellt, sondern Realien. Mit diesen Werkzeugen kann man auch bei Kant weit kommen, aber hinter den Vorhang schaut man nicht. Auch Lem reißt ihn nicht beiseite. 
Wenn Tarkowski und Soderbergh nicht auf die epistemischen Aspekte eingehen wollen oder können, so offenbart dies konträre Erzählstrategien. Sie konterkarieren nicht nur Lems Narrativ, sondern torpedieren auch dessen Fragestellungen. 
Tarkowski hat Lems Roman für eine spät-romantische und spirituelle Interpretation instrumentalisiert, Soderbergh entscheidet sich für einen Diskurs über die Liebe und am Ende für einen eschatologischen Gnadenakt, der über die Intention der Instanz, die sich als gnädig erweist, keinerlei Auskunft gibt.
Lem war an religiösen Interpretationen seines Buches nicht interessiert. Die zentrale Fragestellung ist meiner Meinung nach folgende: 

  • Was geschieht mit uns, wenn die Wissenschaft und das Erkenntnisvermögen auf unüberwindbare Grenzen stoßen?
Und damit ist nicht nur eine philosophische Debatte in geisteswissenschaftlicher Tradition gemeint, sondern unser persönliches Verständnis der technologischen Evolution und die Art, wie wir emotional und rational darauf reagieren und wie beides miteinander verflochten ist. 
Diese Frage ist umso interessanter, als Lem sehr häufig Katastrophen beschrieben hat, die von einem unbegrenzten technischen Fortschritt ausgelöst werden, einem Progress, der sich von ethischen Debatten längst abgekoppelt hat. Lem würde heute zum Beispiel danach fragen, warum wir Angst vor Datenmissbrauch haben, aber freiwillig Informationen preisgeben, die von den Algorithmen spezieller Programme in Personenprofile mit erschreckender Tiefenschärfe verwandelt werden. Ist die Angst ein Ausdruck massenhaften Unwissens, verbunden mit dem irrsinnigen Glauben, die technische Nutzung von social media sei gleichbedeutend mit der Kontrolle über ihren Funktionsumfang? Wahrscheinlich würde er seiner Kyberiade eine weitere Kurzgeschichte hinzufügen, in der jemand vor einem Ding panische Angst hat, während er gleichzeitig fest davon überzeugt ist, es perfekt zu kontrollieren.
 

Lem war nun nicht etwa ein Anhänger des Königsberger Philosophen, als er den Planeten als unerklärbar beschrieb. Kelvins Bibliotheksexkurse deuten vielmehr an, dass auch eine materialistische oder naturalistische Sichtweise angesichts der Rätsel dieses merkwürdigen Planeten keinen Schritt weiterkommen würde. Mit anderen Worten: Der Griff in einer der zahlreichen Schubladen der Philosophiegeschichte befreit die Forscher nicht von dem Dilemma, etwas verstehen zu müssen, das ausdrücklich nicht zu unserer bekannten Realität gehört. 

Und so erfährt man über die dritte Forschergeneration, dass sie bereits in die Phase des inkohärenten Zerfalls eingetreten ist, in der nichts Innovatives mehr geschieht. Die Klassiker werden zitiert, neue Ideen sind rar, extremere Gemüter plädieren für den Einsatz von Nuklearwaffen. Mit anderen Worten: Die Forscher sind ratlos, haben aber einige Tausend Bücher verfasst.
 

In der Bibliothek findet Kelvin dann zufällig ein schmales Bändchen, das er bereits einmal von Gibarian erhalten hatte: „Die Solaristik - schreibt Muntius - ist die Ersatzreligion des Weltraumzeitalters, sie ist Glaube, eingehüllt in das Gewand der Wissenschaft; der Kontakt, das Ziel, dem sie entgegenstrebt, ist ebenso nebelhaft und dunkel wie die Gemeinschaft der Heiligen oder die Herabkunft des Messias. Die Erkundung kommt einem in methodologischen Formeln existierenden Liturgie-System gleich; die demütige Arbeit der Forscher ist das Warten auf Erfüllung, auf die Verkündigung, denn Brücken zwischen Solaris und Erde gibt es nicht und kann es nicht geben. Aber diese Selbstverständlichkeit wird wie andere, wie das Fehlen gemeinsamer Erfahrungen, wie das Fehlen von Begriffen, die man übermitteln könnte, von den Solaristen zurückgewiesen, so ähnlich, wie von den Gläubigen die Argumente zurückgewiesen wurden, die ihres Glaubens Grundlage umstürzten.“

Das alles blättert Kris Kelvin erneut durch. Das meiste kennt er, aber die aktuellen Ereignisse werfen ein neues Licht auf das Ganze. Besonders auch, als Kelvin auf einen weiteren verborgenen Hinweis stößt. Es handelt sich um die Vernehmungsprotokolle und Aufzeichnungen des Piloten André Berton, der sich vor Jahren auf dem Planeten an der Suche nach einem vermissten Physiker beteiligte. Die Beobachtung einer neuartigen Nachbildung, die von Solaris hervorgebracht wurde, verstörte Berton zutiefst: der Planet konnte nach menschlichem Ermessen die Vorlage für seine Nachahmung gar nicht kennen. Bertons Beobachtungen wurden von der Solaris-Forschung als Halluzination, als neurologischer Fehler klassifiziert (dieser Abschnitt spielt in Tarkowskis Film eine prominente Rolle). Die Schlussfolgerung, dass ein obskurer Ozean in den Kopf von Menschen eindringen könnte, war nicht denkbar.


Hilfe inmitten des Schlamassels ist nicht zu erwarten, erst recht nicht von dem schweigenden Planeten: Kommunikation mit der Solaris ist nach herkömmlichen Maßstäben nicht möglich. Es gibt keine gemeinsame Sprache, keine vertraute Grammatik.
Das schließt aber nicht aus, dass der Planet bereits mit seinen Besuchern spricht. Kelvin zieht dies in der Bibliothek in Betracht, als ihm ein Gedankenexperiment einfällt. Was wäre, wenn in der Bibliothek Besucher vor den Regalen stehen und die Farben der Einbände bewundern, während man die Sprache, in der die Bücher verfasst worden sind, nicht versteht? Oder noch schlimmer: sie überhaupt nicht ins Kalkül zieht, weil man sie für bedeutungslose Zeichen hält?
Kelvin wird dank des Auftauchens der „Gäste“ (auch F-Gebilde genannt) klar, dass mindestens die Hälfte der Solaris-Forschung obsolet geworden ist, sie ist schlicht und einfach falsch. Ein Planet, der offenbar die Gedächtnisengramme der Menschen auslesen und verstehen kann, um auf dieser Grundlage Modelle zu schaffen, die erst jenseits der molekularen Ebene von den biologischen Bauplänen des Menschen abweichen, besitzt nicht nur überragende Fähigkeiten, sondern handelt auch absichtsvoll. Und, was gewiss ist: Solaris ist intelligent, wenngleich nicht auf eine humanoide Weise.


Der hinderliche Anthropozentrismus

„Intelligenz ist ein Rasiermesser: Man kann sie sinnvoll nutzen, sich aber ebenso gut auch die Gurgel durchschneiden damit. Im Grunde ihres Wesens ist sie ungesund.“
Lems Aphorismus kann man als Scherz lesen, er ist aber keiner. Während Lem die Wissenschaftsgeschichte der Solaristen und deren Auf und Ab genüsslich nacherzählt (allein dies lohnt die Lektüre), zeigt er seinen Skeptizismus, aber auch seinen sehr trockenen Humor. Die empirischen und mathematischen Modelle der größten Forscher versagen zwar nicht vollständig, aber selbst die populärsten Erklärungsmodelle der Solaristik zeigen, dass sie ohne ad hoc gesetzte Prämissen nicht hätten entstehen können. Und natürlich werden diese Prämissen nicht konsequent hinterfragt. Ein grundsätzliches Problem. 
Immer häufiger nehmen gestandene Naturwissenschaftler simple psychologische Projektionen oder schlichtweg Übertragungen vor, wie sie auch dem Analytiker in seinen Sitzungen begegnen, wenn der bemitleidenswerte Patient auf der Couch liegt. Wie kann man auf diese Weise intelligentes Leben verstehen, das an schlechten Tagen wie ein Wackelpudding aussieht?
 

Erst vor diesem Hintergrund erhält die Lem’sche Liebesgeschichte jenseits der epistemologischen auch eine emotionale und moralische Bedeutung. Wie man Wissen über etwas Fremdes begründet, mag die eigentliche Herausforderung sein, die emotionale Verarbeitung ist aber das, was unter die Haut geht. Die zweite zentrale Frage des Romans lautet daher: 
  • Wenn es richtig ist, dass es zu unserer moralischen Entscheidungsfähigkeit gehört, die Intentionen aller an einer kritischen Situation beteiligten Akteure zu kennen - was passiert, wenn eben dies nicht möglich ist?
Daran schließen sich weitere Fragen und Überlegungen an. Ist der Planet überhaupt eine dem menschlichen Sinne nach intentional handelnde Person? Warum reagiert er nicht wie ein zorniger Gott und bestraft die Menschen für die Ermordung der „Gäste“? Sind seine Hervorbringungen nur sekundäre Manifestationen eines blinden Nachahmungstriebs oder autonome Geschöpfe? Was ist, wenn Solaris mentale Ereignisse und das Sinnieren über richtig oder falsch als irrelevant betrachtet und flüchtige Erinnerungen nur dann für bedeutsam hält, wenn er sie materialisieren kann und mit unverwüstlichen Eigenschaften ausstattet?

Kelvin findet beinahe ad hoc und ohne tiefschürfende Reflexionen erneut eine pragmatische Lösung: Er entschließt sich, Harey 3 so zu behandeln, als sei sie ein Mensch. Man könnte sagen: Er liebt sie, aber ohne Begeisterung. Materiell ist sie menschlich, nur auf subatomarer Ebene entdeckt Kelvin Neutrinos, die auf eine Abweichung vom menschlichen Bauplan hinweisen. Und emotional erweist sie sich bald feinfühliger als der mit sich hadernde Kelvin.
Entscheidend ist aber nicht nur Kelvins empathische Kehrtwende. Auch Harey entdeckt recht schnell, dass sie offenbar ein Geschöpf ist, das nach dem Vorbild der intensiven Erinnerungen Kelvins an seine tote Frau zusammengesetzt worden ist. Sie wird depressiv und trinkt flüssigen Sauerstoff, aber sie kann nicht sterben. In ihren Bauplänen steckt ein perfektes Regenerationsprogramm. Während sie über den vergeblichen Suizidversuch nicht mehr reden, träumen Kris und Harey von einem gemeinsamen Leben auf der Erde. Eine Charade, wissen beide doch, dass dies eine Illusion ist. Was sie tatsächlich verbindet, ist nicht die Aussicht auf ein fragiles Glück, sondern Verzweiflung. Währenddessen bastelt Sartorius an einem Annihilator und bestrahlt den Planeten unter Einsatz harter Röntgenstrahlung mit Kelvins enzephalografisch aufgezeichneten Gehirnströmen. Die „Gäste“ müssen weg!


Ist Moral begründbar?

So landet man bei der Moral in Lems „Solaris“. Auch hier taucht, das ist das Vertrackte an Lems intelligenter Versuchs- und Denkanordnung, ein erneutes Problem auf. Angesichts der Geschöpfe, die der Planet erzeugt und die immer wiederkehren, müssen die Menschen moralische Entscheidungen treffen. Aber welche?

Ist Moral relativ (gemeint ist damit nicht, dass alles völlig egal und je nach Laune frei bestimmbar ist), also auch von unseren sozialen, ökonomischen und evolutionsbiologischen Determinanten abhängig? Dann verändert sie sich, sie ist in letzter Konsequenz zufälligen oder unerwarteten Begebenheiten unterworfen, aber auch von der Beurteilung ihrer praktischen Wirksamkeit abhängig. In diesem Fall ist Ethik ein Akt der Balance und, wie Montaigne meinte, in letzter Konsequenz relativ, ohne beliebig zu sein.

Oder gibt es, wie es nicht nur Kant, sondern auch der deutsche Philosoph Franz von Kutschera behauptet, eine Moral, die sich rational begründen lassen? 
Franz von Kutscheras Position ist auch für die Interpretation von Lems Roman interessant. Der deutsche Denker, der als letzter Universalphilosoph des 20. Jahrhunderts bezeichnet wird, vertritt den sogenannten moralischen Realismus (im Gegensatz zum Subjektivismus) - er ist von der Objektivität der Werturteile überzeugt. Sie basieren auf unzweifelhaft existierenden Werterfahrungen. 
Es gibt „Werttatsachen, die unabhängig von unseren subjektiven Präferenzen bestehen. Sie beschreiben daher die Realität, wenn auch unter anderen Aspekten als etwa die Aussagen der Physik (…) Wertfragen entscheiden sich an objektiven Tatsachen, nicht an unseren Meinungen oder Interessen.“

Die subjektivistische Gegenposition bildet die bereits von David Hume vertretene Projektionstheorie, in der die Werterfahrung „nicht die Erfahrung objektiver Werttatsachen, sondern die Erfahrung natürlicher Sachverhalte im Licht unserer eigenen Präferenzen“ ist. Die Frage, welche der beiden Positionen richtig ist, hält von Kutschera prinzipiell für unentscheidbar, auch bei der Formulierung objektiver Wertaussagen könne man sich schließlich irren. Allerdings könne die subjektivistische Position keine relevanten Aussagen über die objektive Realität machen.

Obwohl dieser Exkurs eine detaillierte Ausführung verdient, sollen hier nur die Grundzüge der Problematik skizziert werden. Für die Themen dieser Arbeit war etwas anderes aufschlussreich, nämlich die Laudatio, die Wolfgang Lenzen auf Franz von Kutschera hielt, als diesem der Ehrendoktor durch die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig verliehen wurde. Mit angemessenem Humor wies Lenzen darauf hin, dass von Kutscheras Position zu anthropozentrisch sei, weil „viele der Phänomene, mit denen sich die Philosophie des Geistes, die Kognitionswissenschaft und die Neurowissenschaften auseinandersetzen, eben auch bei nicht-menschlichen Lebewesen auftreten.“

Lenzen meinte hier die irdische Tierwelt. Überlegt werden muss, ob diese Kritik nicht ebenfalls anthropozentrisch ist. Aber formal kann Lenzens Einwand mühelos auf Aliens aller Art und auch auf Planeten  mit sonderbaren Eigenarten ausgedehnt werden, obwohl diese nicht zu unserer Evolutionsgeschichte gehören. Wenn ja, dann muss die Frage erlaubt sein, ob sich die Objektivierbarkeit moralischer Werturteile auch auf einem fernen Planeten herstellen lässt. Welche Werterfahrung macht denn Kelvin, wenn die schmerzhafteste seiner Erinnerungen durch einen Widergänger verkörpert wird, der mit seiner eigenen Existenz nicht einverstanden ist und schließlich den Selbstmord allen weiteren Qualen vorzieht?


In den Dekaden nach der Veröffentlichung des Romans im Jahre 1961 ist dies unzählige Mal durchdekliniert worden. Im Kino, in TV-Serien wurde durchgespielt, was „Real Humans“ sind oder sein können. Entscheidungsfähige Roboter, androide Lebensformen und Künstliche Intelligenzen wurden von den Autoren und Regisseuren in Stellung gebracht. Im Zweifelsfall behielten die trivialen Lesarten die Oberhand. Die Phantasmagorien von der bösartigen KI und den bösartigen Aliens, die sich bar menschlicher Emotionen und oft aus logischen Erwägungen gegen den Menschen stellen, scheinen bis heute reizvoller zu sein als die Vorstellung, dass das Andere vielleicht humaner sein könnte als der Homo Sapiens.
 

Im Grunde genommen ist es der Anthropozentrismus, der den Menschen in Lems Gedankenexperiment im Wege steht. In der Konfrontation mit dem Fremden kann er nicht auf Anhieb darauf verzichten, sich selbst im Gegenstand der Untersuchung wiederzuerkennen. Was intelligentes Leben ist, wird am eigenen Bild festgezurrt. 
Der Mensch, der in den Weltraum aufbricht, so lässt Lem den Kybernetiker Snaut konstatieren, ist zwar neugierig, erwartet aber dann doch, etwas zu finden, was ihm ähnelt: „Wir brechen in den Kosmos auf, wir sind auf alles vorbereitet, das heißt, auf die Einsamkeit, auf den Kampf, auf Martyrium und Tod. Aus Bescheidenheit sprechen wir es nicht laut aus, aber wir denken uns manchmal, dass wir großartig sind. Indessen, indessen ist das nicht alles, und unsere Bereitschaft erweist sich als Theater. Wir wollen gar nicht den Kosmos erobern, wir wollen nur die Erde bis an seine Grenzen erweitern. Die einen Planeten haben voll Wüste zu sein, wie die Sahara, die anderen eisig wie der Pol oder tropisch wie der brasilianische Urwald. Wir sind humanitär und edel, wir wollen die anderen Rassen nicht unterwerfen, wir wollen ihnen nur unsere Werte übermitteln und, als Gegengabe, ihrer aller Erbe annehmen. Wir halten uns für die Ritter vom heiligen Kontakt. Das ist die zweite Lüge. Menschen suchen wir, niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel. Mit anderen Welten wissen wir nichts anzufangen.“
 

Snauts Spiegel-Analogie gehört zu den wichtigsten Passagen des Buches. Sind die Menschen Teil eines Laborversuches oder sollen sie erlöst werden? Ist Solaris so etwas wie der Teufel, der die Menschen zwingt, sich wie in Jean-Paul Sartres Drama „Geschlossene Gesellschaft“ besonders zu subtil quälen, und der daraus auch noch einen Erkenntnisgewinn zieht? Zumindest Snaut scheint diese Version zeitweilig allen anderen vorzuziehen. Oder ist der mimetisch agierende Planet ein liebender Gott, der den Verzweifelten das Verlorene zurückgibt und sie zur Selbsterkenntnis führt? Damit käme man Tarkowskis Lesart nahe, aber was ist, wenn beides zutrifft?

Wenn Lems listige Erzählung ein epistemologisches und ein moralisches Thema hat, so zeigt der Autor in beiden Fällen, wie die Grenzen aussehen können. Die dritte Frage, die uns der Roman stellt, lautet daher: 

  • Sind wir moralisch zu widerspruchsfreien Handlungen fähig oder ist Moral nur die jeweilige Art und Weise, mit der wir dem Blick auf die Dinge eine Perspektive geben?
„Keine Moral ohne Gefühle“, meint der deutsche Philosoph Martin Seel. Daran schließt sich die Frage an, ob unsere Entscheidungen überhaupt widerspruchsfrei sein müssen. Vielleicht ist es wichtiger herauszufinden, was man besser nicht tun sollte, anstatt darüber nachzudenken, was zweifelsfrei getan werden muss.
Macht man Moral an Empathie fest, und diese ist keineswegs ein Synonym für Gefühle, dann wird Hareys grausamer Entscheidung am Ende des Romans für den Leser vielleicht die menschlichste sein, die in der gottverlassenen Raumstation getroffen wurde.


Was ist menschlich – und ist dies überhaupt wichtig?

„Solaris“ ist nicht Lems einziger Roman, in dem er menschlichen Grenzsituationen rabiat auf den Grund geht. Auch in „Eden“ (1959) und „Der Unbesiegbare“ (1967) holen sich die Entdecker und die Wissenschaftler blaue Flecken. Und häufig sind die Grenzen der Erkenntnisfähigkeit an moralisches Neuland gekoppelt, was folgerichtig zu fatalen Fehlschlüssen führt. 
In „Fiasko“ (1986), Lems letztem Roman, wählen die Kosmonauten bei der Begegnung mit einer fremden Intelligenz sogar extrem gewalttätige Mittel, um einen Kontakt zu erzwingen. Nur um nach einem wahnwitzigen Genozid festzustellen, dass sie von Anfang an von einer völlig falschen Prämisse ausgegangen sind.

Nun ist Lem kein Misanthrop, der sich gehässig über die menschlichen Limitierungen lustig macht. Seine Prosa ist, genau gelesen, skeptisch und illusionslos, wenn es um technische, zivilisatorische, wissenschaftliche und ethische Errungenschaften geht. So dekonstruiert er auch in „Solaris“ die menschlichen Selbstentwürfe: Wenn alles, was in unzähligen Flügen über den Planeten und in zahllosen Laborversuchen und physikalischen Modellen ergebnislos von diesem Planeten abprallt, dann ist dies nicht nur eine Beleidigung der Wissenschaft, sondern auch eine Kränkung des menschlichen Selbstmodells. Dies ist die Position Snauts. Egal, was man misst, evaluiert, exakt erfasst oder moralisch wertend und projizierend mit Solaris anstellt – es führt nur zu geringem Mehrwert. Auch in den moralischen Dilemmata der humanoiden Stationsbewohner exerziert Lem durch, dass der Weg zu einer moralischen Werttatsache ein schwerer und möglicherweise auch ein sehr langer ist.

Das hat beinahe die Funktion eines Spiels. In Lems „Philosophie des Zufalls“ (1983), einem Buch, das eine empirische Theorie der Literatur werden sollte, schrieb der Autor, dass er es besser „Theorie der Unmöglichkeit einer Theorie des literarischen Werkes“ hätte nennen sollen. Lem Ankündigung seines Scheiterns war allerdings nicht ganz ironiefrei, denn methodisch grenzte der Literaturwissenschaftler Lem das ab, was er der Autor Lem mit anderen Mittel erreichen wollte: „Mir schwebte eine experimentelle Methode vor, die nicht nur den Aufbau des jeweiligen Werkes untersuchen, sondern durch aktive Einmischungen, Störungen, ja sogar verstümmelnd in seinen ‚Organismus‘ eindringen würde, um die Widerstandsfähigkeit des Textes und seine ‚Gesamtreaktion‘ auf derartige Eingriffe festzustellen.“
 

Die ‚Störungen‘ werden auch im Roman „Solaris“ zur experimentellen Methode eines denkenden Planeten. Während Snaut, der Kybernetiker, sich durch Solaris gedemütigt fühlt, wird der kalte Sartorius von anthropozentrischer Hybris angetrieben. Im Zweifelsfall wird zerstört, was nicht kooperiert. 

Moralisches Handeln bleibt wenigstens für Kelvin ansatzweise ein Gradmesser. Aber auch bei Kelvin lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass die Gewissensfragen, denen er grübelnd nachhängt, nur der letzte Rettungsanker für ihn sind. Wenn das Andere so anders ist und die empirischen Wissenschaften die Absurdität der vergeblichen Kontaktaufnahme nur auf die Spitze treiben, betritt man lieber ein menschliches Spielfeld und grübelt über Schuld und Verantwortung. Schafft dies aber gültige Werttatsachen?


„Solaris“ endet mit einem nicht ganz hoffnungslosen Fiasko. Harey, die Kelvin nicht zu einem Leben auf der Raumstation verurteilen will, aber auch ihrer Existenz überdrüssig geworden ist, lässt sich durch Sartorius und dessen neuen Annihilator töten. Aus Liebe. Sie ist zu menschlich geworden, und dies ist schwer zu ertragen, wenn man die Intentionen seines Schöpfers nicht kennt. Zu sehen war nur ein Blitz, berichtet Snaut dem zuvor mit einem Schlafmittel betäubten Kelvin. Und ein Lufthauch war zu spüren. Auch die anderen „Gäste“ verschwinden und kommen nicht zurück. 
Snaut, der zuvor noch davon überzeugt war, dass die besondere Situation auf dem Planeten alle Formen menschlicher Moral unwirksam gemacht hat, sieht nun völlig überraschend eine Chance auf einen Kontakt. Während sich Kelvin mit fassungsloser Wut ausmalt, den Planeten mit Anti-Materie zu vernichten, stellt Snaut lakonisch fest: „Du behandelst ihn als Mensch. Du hasst ihn (…) Er ist blind! Er hat etwas geschaffen, aber ohne zu wissen, welche Bedeutung es für uns hat.“
Ist etwas blind, das gezielt in die intimsten Bereiche des Menschen eindringt und sich dort, wo der Mensch seit jeher seine ‚Seele’ vermutet, die für seine Tätigkeit erforderlichen Informationen holt? Kelvin wurde bereits vor Hareys Tod von Träumen gequält, die eine gesteigerte rauschhafte Form der Wahrnehmung und gleichzeitig tiefe Angst erzeugen. Es sind surreale Träume, die scheinbar deutungsoffen sind. Ist Solaris erneut in das Bewusstsein seines Besuchers eingedrungen? Antwortet er nun endlich, indem er Kelvin sein Äquivalent für mentale Vorgänge vorführt? 
Kelvin erfährt in diesen Träumen eine prägnante, beinahe majestätische Sinnlichkeit, die so fremdartig ist, dass er nach dem Erwachen das Wachsein für unwirklich hält. Beinahe für einen Traum. Allein die Katharsis will sich nicht einstellen. Und auch der Leser wird Probleme bekommen, die ausdrucksstark beschriebenen Zeichen zu dekodieren. Das wird im letzten Kapitel auf die Spitze getrieben.

In „Das alte Mimoid“ fragt Kelvin Snaut plötzlich nach Gott und bietet seinem Gesprächspartner sogleich seine eigene Vision eines „gebrechenbehafteten Gottes“ an: „Mir geht es um einen Gott, dessen Unvollkommenheit nicht aus der Schlichtheit seiner menschlichen Schöpfer folgt, sondern seinen wesentlichsten innewohnenden Zug darstellt. Das soll ein Gott sein, der begrenzt ist in seiner Allwissenheit und Allmacht, fehlbar beim Voraussehen der Zukunft seiner Werke, einer, den der Verlauf der von ihm geformten Phänomene in Entsetzen versetzen kann. Das ist ein... krüppelhafter Gott, der immer mehr begehrt, als er kann, und sich das nicht sofort klarmacht. Einer, der die Uhren konstruiert hat, aber nicht die Zeit, die sie abmessen. Naturgefüge oder Mechanismen, die bestimmten Zielen dienen; aber sie wuchsen über diese Ziele hinaus und verrieten sie. Und er hat die Unendlichkeit erschaffen, die von dem Maß seiner Macht, das sie hätte sein sollen, zum Maß seines grenzenlosen Versagens geworden ist."

Dies entspricht zumindest in Ansätzen der Position des Deismus, wie ihn der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz beschrieb: Gott als ein Uhrmacher, der ein perfekt funktionierendes Uhrwerk erschaffen hat, das nun aber ganz ohne seine Eingriffe funktioniert. Natürlich impliziert dies eine scharfe Trennung zwischen Gott und Welt. Teil der deistischen Konzepte, so der polnische Anthropologe Andrzej Sulikowski in „Stanislaw Lem und das theologische Denken“, ist die Vorstellung, dass Gott zwar existiert, aber nicht fähig zum Dialog sei: „Jedes Gebet ist daher sinnlos.“

Kelvins fiktiver Gott ist jedoch ein absurder Gott: Er ist mit seiner Qual einfach nur da, ein Gott, der zu nichts dient. Ein Gott, der etwas erschaffen hat, das aber keineswegs perfekt funktioniert, ein Gott, der nun nicht mehr in die aus dem Ruder laufende Schöpfung eingreifen kann.
Snaut erwidert scharfsinnig: „Ja, aber der verzweifelnde Gott, das ist ja der Mensch, mein Bester? Um den Menschen geht es dir... Das ist nicht bloß gestümperte Philosophie, das ist sogar gestümperte Mystik.“
Aber den Menschen meint Kelvin nicht, auch nicht den Ozean: „Er wiederholt sich, Snaut, der, an den ich denke, täte das niemals.“

Nach den fehlerbehafteten Gottheiten fragt auch Peter E. Hogarth, der fiktive Autor von Lems Roman „Die Stimme des Herrn“. Hogarth meint dabei aber das Problem der Theodizee. Obwohl die Annahme plausibel erscheint, dass die Schöpfung ein makabrer Scherz ist und das Böse gar nicht von den Menschen ferngehalten werden soll, schließt Hogarth diese Option in seinem ebenfalls fiktiven Vorwort aus. Auch der manichäische Mythos sei ein primitiver Einfall – der Mensch sei dafür zu unbedeutend. „Was wir für das Ergebnis eines boshaften Eingriffs halten, könnte allenfalls als gewöhnliche Fehlkalkulation, als Irrtum verstanden werden, dann aber begäben wir uns auf das Gebiet einer nicht existierenden Theologie fehlbarer Gottheiten.“
Da Autoren weiß Gott nicht immer ihre Figuren für sich reden lassen, lässt Lem uns mit diesem Problem zurück. Von „Die Stimme des Herrn“ wird aber später noch die Rede sein. Auch Kelvins Phantasien sind letztlich spekulative Metaphysik, die, wie Snaut anzüglich feststellt, den vielen Theorien über den Ozean nun eine weitere hinzugefügt hat. Und vielleicht sei ja Solaris die Wiege von Kelvins Gott.


Glaubt man dem Literaturtheoretiker Lem, dann funktionieren auch Bücher auf eine Weise, die uns an den schweigenden Planeten erinnert: „Ein neues Werk ist also in den Augen der Rezipienten ein formloses, uneindeutiges, zuweilen auch sinnloses Gebildes.“ Erst regelmäßige und stabilisierende Rezeption könne dem Werk eine feste semantische Gestalt geben.
Der Autor Lem widerspricht aber in der Schreibpraxis wieder einmal dem Theoretiker Lem. Die feste semantische Gestalt bleibt den Wissenschaftlern auf Solaris auch nach ‚regelmäßiger Rezeption‘ verborgen.
Als Kelvin am Ende zu dem alten Mimoid fliegt, den Snaut und er zuvor beobachtet haben, erlebt er aber zum ersten Mal etwas, was er zuvor nur aus Büchern kannte: das Plasma des Ozeans folgt seiner Hand, ohne sie zu berühren. Was sich wie ein Kontakt erleben lässt, endet damit, dass der Ozean irgendwann wie immer teilnahmslos wird und nicht mehr reagiert. Aber die sinnliche Erfahrung Kelvins ist eine singuläre – sie füllt ohne Anflug von Mystik die Lücke zwischen Unverständnis und den Anstrengungen der Naturwissenschaft - sicher eine asymmetrische Erfahrung im Sinne Lems.
Ob dies Kelvin Entscheidung verfestigt, auf Solaris zu bleiben? Lems Held gibt zwar die Hoffnung auf, aber nicht die Erwartung. Er wird bleiben: „Auf welche Erfüllungen, welchen Spott, welche Qualen war ich noch gefasst? Ich wusste nichts, und so verharrte ich im unerschütterlichen Glauben, die Zeit der grausamen Wunder sei noch nicht um.“


Annotationen zu Andrei Tarkowskis „Solaris“

„Intellektuelle, Schriftsteller, Wissenschaft! - Die glauben an nichts, an gar nichts. Bei ihnen ist das Organ, mit dem man glaubt, atrophiert, weil es nicht mehr gebraucht wird“ 
(Stalker)

Solaris (UdSSR 1971/72) - Regie: Andrei Tarkowski - Buch: Friedrich Gorenstein, Andrei Tarkowski. - Kamera: Wadim Jusow. - Schnitt: Ljudmila Fejginowa. - Musik: Eduard Artemjew (Variation über das Präludium f-moll von Johann Sebastian Bach) – D.: Natalja Bondartschuk (Harey), Donatas Banionis (Kris Kelvin), Jurij Jarvet (Snaut), Anatolij Solonizyn (Sartorius), Nikolaj Grinko (Kelvins Vater), Sos Sarkisjan (Gibarjan), Wladislaw Dworshezkij (Berton) u.a. - Laufzeit: 167 min.

Der russische Filmregisseur (1932-1986) ist, festgemacht an seiner aktuellen Rezeption, ein Auslaufmodell des Weltkinos. Kein Fernsehsender würde es wagen, einen Film wie „Stalker“ zu zeigen – von den im Exil entstandenen Werken soll erst gar nicht die Rede sein. Nur eine Handvoll Cineasten kennt noch den Meister des poetischen Kinos, sie feiern den Magier der Neo-Romantik immer noch enthusiastisch für seine rätselhaften und tiefgründigen Spekulationen über das ‚Eigentliche‘, den Sinn des Lebens.
Andererseits war Tarkowski ein visuelles Genie. Niemand konnte das Streben nach Innerlichkeit, Reinheit, Natur, Wahrheit, Opferbereitschaft und die Suche nach Gott so vollkommen ins Bild setzen wie der Schöpfer von „Andrej Rubljow“ und „Nostalghia“. Dass Tarkowski möglicherweise ein Ultrakonservativer mit einem verqueren Frauenbild war – geschenkt. 


Nachdem er die Sowjetunion verlassen hatte, wurde er im westeuropäischen Kino von Teilen der Kritik als Genius, als Autorenfilmer par excellence gefeiert, als ein Vertreter des geistigen und spirituellen Kinos. Er zog (und das tun seine Filme auch heute noch) magnetisch Menschen an, die nach Höherem streben, das Erhabene suchen und denen nach der Rezeption eines Films wie „Solaris“ nicht selten die ergriffene Rede von der „Unendlichkeit des Weltalls“ einfällt: Esoterisches Gemurmel ohne grundlegende Kenntnisse der Astrophysik.

Stanislaw Lem, dem viel an der Empirie lag, dürfte sich bei einer Beschwörung des „grenzenlosen Kosmos“ im Grabe umdrehen. Mit Andrei Tarkowski ist er auch nicht klargekommen, obwohl der alles Mögliche, aber sicher keine Binsenweisheiten in die Welt setzte. 
„Das Drehbuch ersetzt den tragischen Konflikt bezüglich des Fortschritts … und reduziert das Problem erkenntnistheoretischer und ethischer Widersprüche auf ein familiäres Melodram,“ wetterte Lem und meinte damit den ersten Drehbuchentwurf, in dem plötzlich eine Ehefrau Kelvins auftauchte. Und damit sind wir bei Tarkowskis „Solaris“.


Prolog

Zu den Klängen eines Bach-Präludiums nähert sich Kelvin (Donatas Banionis) dem Haus seines Vaters. Er geht durch eine scheinbar unberührte Landschaft mit luftigen Mischwäldchen, hohen Gräsern, sich wiegenden Zweigen und perlenden Bächen. Ein schwarzes Pferd läuft über eine Wiese. In einem idyllischen Haus auf einer Lichtung triff Kelvin nicht nur seinen Vater (Nikolai Grinko), sondern auch den Piloten Berton (Wladislaw Dworschezki). Berton weiß, dass Kelvin zur Solaris-Station fliegen wird. Er kommt schnell zur Sache: es bestünde die Gefahr, dass die Station geschlossen wird, wenn Kelvins Bericht negativ ausfällt. 

Cut: Der Zuschauer sieht Bertons (nun deutlich jünger) Aussage vor einem Untersuchungsausschuss. Einige Forscher, darunter auch der Solarist Fechner, sind auf dem ozeanischen Planeten verschwunden, Berton war einer der Piloten, die an der Suche beteiligt waren. Während des Fluges über den Ozean bemerkte er nicht nur gewisse mimetische Qualitäten des Planeten, Berton sah auch die Nachbildung eines Kindes, ein Gebilde, das er als „monströs“ beschreibt. Einige Fachleute ignorieren diese Aussage und bezeichnen die Solaris-Forschung als „waste of time“. Andere betrachten Solaris nach wie vor als Herausforderung – und zwar als erkenntnistheoretische.


Andrei Tarkowski, der zusammen mit Friedrich Gorenstein das Drehbuch verfasst hat, platziert in seinem fast 45-minütigen Prolog (der ansonsten inhaltlich nichts mit Lems Roman zu tun hat) eine der wichtigsten Passagen des Romans gleich zu Beginn. Der Zuschauer wird nicht langsam an das Rätsel herangeführt, er weiß ziemlich schnell, dass Solaris seine Besucher zur Kenntnis genommen hat und Nachbildungen hervorbringt, deren Originale er ohne Zugriff auf die menschlichen Erinnerungen überhaupt nicht kennen kann. Ein Zuschauer, der Lems Roman nicht kennt, wird so davon abgehalten, sich zu lange mit den technischen Aspekten der ‚Abbilder‘ zu beschäftigen. 

Die Sequenz wurde von Kameramann Wadim Jussow in Schwarz-Weiß gedreht. Bertons Aussage vor dem Untersuchungsausschuss ist aber kein Flashback, sondern eine Video-Aufzeichnung, die sich Kelvin, sein Vater und der mittlerweile deutlich ergraute Pilot gemeinsam anschauen.

Wichtig ist die psychologische Beschreibung Kelvins. Tarkowski verwandelt ihn in einen kalten Grobian, der Berton brutal klar macht, dass es nur noch darum gehen könne, die Station zu schließen und das Schicksal der Solaristik zu besiegeln – oder stattdessen den lebendigen Planeten hart zu bestrahlen, um endlich etwas über ihn zufahren. 
„Möchten Sie das zerstören, was wir nicht begreifen? Ich will keine Wahrheit um jeden Preis!“ Bertons Protest (er bezeichnet Kelvin als Buchhalter, nicht als Wissenschaftler) gipfelt in der Feststellung, dass Wissen ohne Moral keinen Wert besitzt, was Kelvin mit der lakonischen Antwort kommentiert, dass der Mensch die Wissenschaft moralisch oder auch unmoralisch mache. Der sich auftuende Gegensatz zwischen diesen Sätzen erschließt sich in Tarkowskis Film nicht ad hoc.
Auch Kelvins Vater will nicht, dass sein Sohn ins All fliegt: es sei „to fragile“ – die Erde habe sich an so was wie ihn jedoch gewöhnt. Berton verlässt die beiden, ruft aber später mit dem Videotelefon an und stellt fest, dass das „Kind“, das er auf Solaris gesehen hat, exakt Fechners Sohn glich. Der aber befand sich auf der Erde.


Mensch und Natur

Nun erst tritt Kelvin seine Reise an. Tarkowski spart dabei ein ästhetisches Pathos, wie es Kubrick in „2001“ zelebrierte und was dort nicht gänzlich ironiefrei war, völlig aus. Kris Kelvin wirkt bei seiner Ankunft auf der Raumstation eher wie jemand, der gerade mit Motorrad zum Bäcker gefahren ist. Ähnlich wie in Soderberghs Film begegnet er seinem Freund Gibarian nur noch in einer Videobotschaft. Der bereitet während der Aufzeichnung seinen Suizid vor und warnt den Ankömmling vor gewissen Phänomenen. Und überhaupt sei der Planet radioaktiv zu bestrahlen, sonst könne man mit dem Monster keinen Kontakt aufnehmen. Während sich in Gibarians Raum offenbar ein Mädchen aufhält, muss der Astrobiologe Sartorius (Anatoli Solonizyn) sich mit einem Zwerg abplagen. Eine Frau geht durch die Gänge der Station. Wenig später ist Harey (Natalja Bondartschuk) da.
Nachdem Kelvin ohne größere Umstände Harey mit einer Kapsel ins All geschossen hat, fragt ihn Snaut zynisch: „Hast Du das Tintenfass geworfen wie Luther?“ Und: Kelvin habe Glück gehabt, dass er einen „Gast“ hatte, den er kannte. Was wäre geschehen, wenn ihn etwas besucht hätte, das es überhaupt noch nicht gibt? 

Der von Jüri Järvet gespielte Kybernetiker unterscheidet sich nicht nur aufgrund einer exzellenten darstellerischen Leistung von dem bizarren Gegenentwurf, den Steven Soderbergh in seiner Filmversion geschaffen hat. Er nähert sich auch der Figur aus Lems Roman stärker an. Dort entwickelt sich Snaut vom verstörten und zynischen Clown zum Philosophen. In Tarkowskis Film erhält er eine noble Eleganz, auch wenn irgendwann ein zerrissenes Sakko von den Kämpfen mit seinem „Gast“ erzählt. Snaut zeigt Kelvin, wie man Papierstreifen am Ventilator befestigt – sie rascheln wie die Blätter eines Baumes im leichten Wind.


Tarkowski wollte einen Science-Fiction-Film drehen, der auch das breite Publikum erreicht, aber auch ein Gegenentwurf zu Stanley Kubricks „2001“ sein sollte. Die Settings in „Solaris“ grenzen sich von Kubrick deutlich ab, entsprachen aber nicht dem Geschmack des russischen Kinopublikums. Sie spiegeln vielmehr Details der ästhetischen Wahrnehmung des Regisseurs wider. 

Während Douglas Trumball die kühle Technifizierung in Kubricks Film nutzte, um die Möglichkeiten der Filmtechnologie auszureizen, war Tarkowski eher an einem glaubwürdigen Naturalismus interessiert. Nur auf der Grundlage einer genauen Beobachtung ließe sich der seelische Gehalt der Dinge erkennen. 

Bereits die einleitenden Naturaufnahmen transzendieren konsequent diesen Naturalismus und lassen (nicht nur in „Solaris“, sondern auch in anderen Arbeiten Tarkowskis) die Natur als beseelt erscheinen. Dem Anthropomorphisieren Tarkowskis geht es aber nicht nur um die Projizierung menschlicher Eigenschaften auf Tiere und Pflanzen, also Natur schlechthin, sondern auch um eine Art von Assimilation, bei der Mensch und Natur verschmelzen. Den Romantikern des 19. Jahrhundert ist diese Erfahrung vertraut, man schaue sich nur die Bilder von Casper David Friedrich an, die auch den schlimmsten Kunstbanausen eine erstaunte ästhetische Erfahrung abringen.
Genau wie in der Romantik spiegelt nicht nur die Natur in „Solaris“ die seelischen Befindlichkeiten des Menschen wider, auch die Settings in haben für Tarkowski eine ähnliche Funktion: sie sind einerseits grell-weiß, leere Funktionsräume mit wenig Mobiliar, andererseits sind sie wie die Stationsbibliothek vollgestopft mit plüschigen Sesseln, Regalen, alten Teppichen, wild durcheinander liegenden Büchern, Sextanten, Bildern alter Meister an der Wand. Artefakte vergangener Jahrhunderte als Zeugen der modernen Raumfahrt oder nostalgische Besinnung auf die zurückgelassene Heimat?
 

Meine Einschätzung, dass Tarkowski Lems Roman für seine Zwecke instrumentalisiert hat, ist kein abwertender Einspruch. Maja Josifowna Turowskaja hat in ihrem Beitrag für das Buch „Film als Poesie – Poesie als Film“ zu Recht darauf hingewiesen, dass Lems Roman aufgrund seiner Details fast unvermeidlich zahlreiche Interpretationen anbietet: vom „kaltem funktionellem Pathos“ Jean-Luc Godards in „Alphaville“ bis hin zur einer Suspense-Version Alfred Hitchcocks. All das ist legitim, ohne Zweifel. Bemerkenswert an Tarkowskis Film ist jedoch, dass er Lems Roman von den Füßen auf den Kopf gestellt hat.

Neuer Fokus auf die Figuren

Spannend ist allerdings, wie Tarkowski dies angestellt hat. Während im Roman der Ich-Erzähler Kelvin die reflexive Hauptrolle spielt, wird Harey bei Tarkowski immer mehr zum eigentlichen Akteur. Der Regisseur konfrontiert die weibliche Replikantin, die von Kelvin beim ersten Kontakt umgebracht wird und die er beim zweiten Auftauchen schweigend in den Arm nimmt, mit dem kalten Wissenschaftler Sartorius, der bei Lem eher im Hintergrund agiert. Tarkowski hat das Figurenensemble neu arrangiert. Auch ästhetisch.
 Während Sartorius in den weißen Funktionsräumen ein visuelles Pendant findet, ist Harey eher bei den alten Bildern in der nostalgisch verklärten, an Kelvins Heimat und Vaterhaus erinnernden Bibliothek zu Hause. Dort wird auch die finale Auseinandersetzung stattfinden. Zuvor treffen sich Kelvin und Harey mit Snaut und Sartorius. „Dies ist meine Frau“, sagt Kelvin. Sartorius geht bei diesem Treffen brutal vor und nimmt keinerlei Rücksichten, als er über die Neutrinos berichtet, aus denen sich die Gäste zusammensetzen. Er verlangt sogar eine Obduktion der neuen Harey. Dies sei humaner als die Tierversuche auf der Erde. 

„Lem hatte den Roman aus der Perspektive seines Helden, Chris Kelvin, geschrieben. Für den Filmautor hingegen wurde Harey zur Hauptfigur, obwohl er ihrer Rolle keine speziellen Akzente hinzufügte. Sie ist es, die Chris zu verstehen versucht, die sich bemüht, die tabula rasa ihrer ‚irdischen Erfahrungen‘ wieder zu füllen und von außen, vom Kosmos her, zu begreifen, was der Mensch ist“
, schreibt M. J. Turowskaja.

Die ‚irdischen Erfahrungen‘, das sind auch alte Filme die Kelvin seiner neuen alten Geliebten vorführt: Natur, Blätter, Kelvin als Kind, die abweisend wirkende Mutter vor einer Landschaft wie in einem Breughel-Gemälde, dann auch Harey selbst („Ich kenne mich nicht!“).
Aber nicht nur Kelvins nostalgischer Film ist ein Spiegel der denkbaren, aber nicht vorhandenen Erinnerungen Hareys, sondern auch Sartorius, der die Menschwerdung Hareys genau beobachtet und bei passender Gelegenheit zynisch entwertet. Bei Tarkowski ist er kein „Faust in reverse“ ist, sondern ein überdimensionales Zerrbild des materialistisch geschulten Wissenschaftlers. Sartorius vertritt weniger „die recht banale und überholte Position der ‚reinen Wissenschaft‘“ (Turowskaja), sondern einen Rassismus, der vom Tod eines offenbar empfindungsfähigen Wesens auch noch einen respektablen Erkenntnisgewinn erwartet. Er ist ein Dr. Mengele des Weltalls.
 

Tarkowski setzt dieses Drama aus ruhigen Bildern zusammen, die bedächtig wirken. Oft sind es lange Totalen, dann schwenkt die Kamera gemächlich über die Interieurs oder von einem Gesicht zu einem anderen. Wenn Harey verzweifelt Kelvin fragt, woher sie kommt und wer sie ist, sieht man lange Kelvins Gesicht in einer Naheinstellung. Während Harey gesteht, dass Sartorius ihr erklärt habe, sie sei nicht die richtige Harey, schwenkt die Kamera langsam ab auf die weinende Frau. Durch den Verzicht auf einen harten Schnitt bekommt die Montage auch in solchen Details etwas Pastorales.
Die finale Auseinandersetzung zwischen Harey und Sartorius findet in der Bibliothek statt. Man trifft sich zu einer von Sartorius für Snaut arrangierten Geburtstagsfeier. Die Kamera schwenkt langsam von Sartorius über Kelvin zu Harey. Snaut kommt hinzu und lässt Kelvin aus Cervantes „Don Quijote“ vorlesen –es ist Sancho Pansas Deutung von Tod und Schlaf: „Nur eins hat der Schlaf, was vom Übel ist, wie ich habe sagen hören, nämlich dass er dem Tode ähnlich sieht, weil zwischen einem Schlafenden und einem Gestorbenen sehr wenig Unterschied ist.“
Snaut konstatiert, dass ein Narr und Genie gleichermaßen hilflos sind und trägt anschließend eine verkürzte Version seiner „Spiegel“-Analogie vor: „Ein Mensch braucht einen Menschen.“ 
Sartorius reagiert empört und hält ein Plädoyer für den unbegrenzten Forscherdrang und den absoluten Willen. Er attackiert Harey: sie sei kein menschliches Wesen. Vielmehr ein Abklatsch, eine Kopie. Harey: „Aber ich werde zum Menschen!“ Und über Kelvin: „In einer unmenschlichen Situation benimmt er sich am menschlichsten!“

Kelvin verlässt mit dem betrunkenen Snaut die Bibliothek, kehrt dann aber zurück und findet Harey rauchend vor. Sie betrachtet das Gemälde „Die Jäger im Schnee“ (Pieter Bruegel d. Ältere). Während man elektronische Musik hört, zeigt die Kamera Teilansichten des Bildes. Pünktlich tritt dann die zuvor von Snaut angekündigte temporäre Schwerelosigkeit ein. Kelvin und Harey schweben, diesmal zu sakraler Orgelmusik, schwerelos im Raum.
Tarkowski schneidet auf eine lange Einstellung des Planeten, später findet Kelvin Harey: sie hat flüssigen Sauerstoff getrunken. Kelvin: „Jetzt bist Du die richtige Harey“. Snaut, der das Ganze beobachtet, zieht sich angesichts der beginnenden Regeneration angeekelt zurück.


Spätestens nach der Bibliotheks-Sequenz ahnt der Zuschauer, dass Tarkowski über das Psychologische hinaus auch die Bilder auf eine besondere Weise konnotiert. Psychologisches wird transzendiert, die dafür gewählten Motive verschlüsseln ihre Bedeutung.
Felicitas Allardt-Nostitz hat 1981 in ihrer Arbeit „Spuren der deutschen Romantik in den Filmen Andrej Tarkowskijs“ diese Erzählstrategie auch an ihren visuellen Attributen festgemacht: „Es scheint, als ob Tarkowskij zunehmend das Vergnügen der Romantiker an bewusster Mystifizierung teile. So fordert Novalis eine ‚Tropen- und Rätselsprache‘, die nur für ‚Gleichgesinnte, Gleichdenkende‘ verständlich sei, unter denen allein wahre Mitteilung stattfände …eben dies ist Tarkowskij in seinen letzten drei Filmen mit ihrer surrealen Dramaturgie der Bilder, Farben und Töne gelungen.“

So ist auch Kris Kelvins Flug zu einem Lichtjahre entfernten Planeten eine „Reise ins Gemüt“. Angesichts eines Ozeans, der sowohl als das Unbewusste als auch an die ‚Weltseele‘ und letztlich auch als Symbol Gottes gedeutet werden kann, wird Kelvin durch die Liebe „zum Menschen“ geläutert: Ehrfurcht, Gefühl und ethische Verantwortung siegen über den Erkenntnistrieb. In dem gedanklichen Kosmos Tarkowskis ist auch das Opfer ein Schritt zur Menschwerdung. Harey erhält erst durch die Liebe eine Seele, und dies ermöglicht ihr zu leiden und – das ist der finale Schritt – sich zu opfern.


An dieser Stelle soll nicht die Verflechtung von Tarkowskis Umdeutung mit romantischen Topoi reflektiert werden, sondern die Verschiebung des Themas zugunsten einer geistigen, meinetwegen auch philosophischen Prämisse: Die Welt mag empirisch erfahrbar sein, wir erhalten, so Tarkowski, aber nur durch eine neue Spiritualität Zugang zum ‚Eigentlichen‘, das sich der kalten Vernunft entgegensetzt. 
Kelvins ‚Reise ins Gemüt‘ ist wie Hareys sittliche Metamorphose somit eine durch die Leidenserfahrung begründete Menschwerdung. Harey opfert sich und Kelvin gelingt nach der Rückkehr auf die Erde die Aussöhnung mit dem Vater, die mit einer christlich-mystischen Bildsymbolik eingefangen wird: es ist die Rückkehr des verlorenen Sohnes aus dem Lukas-Evangelium. Erst als die Kamera zurückfährt, sieht man, dass das Haus von Kelvins Vater auf einer Insel mitten im solarischen Ozean liegt.


Andrei Tarkowskis „Solaris“ ist ein autonomes Kunstwerk, das in Stil und Geisteshaltung ins späte 18. Jahrhundert gehört und heute wie ein Fremdkörper wirkt. Das steigert seinen filmhistorischen Wert.
Obwohl intellektuelle Kongruenz mit der Vorlage nicht zu den Aufgaben einer ambitionierten Kinoadaption gehört, muss festgestellt werden, dass Tarkowski konsequent darauf verzichtet hat, sich auch nur ansatzweise mit den Intentionen Lems zu beschäftigen. In Lems Roman spekuliert Kelvin über einen „gebrechenbehafteten Gott“, bei Tarkowski ist der Planet möglicherweise nicht Gott, folgt aber dem göttlichen Plan wahrhaftiger als die Menschen. Tarkowski hat Stanislaw Lems Roman benutzt, um eine auch für ein breiteres Publikum goutierbare Verbindung zwischen der Deutschen Romantik, der russischen Mystik und dem christlichen Erlösungsgedanken herzustellen. Schon zwei Jahre wandte sich der russische Regisseur in „Der Spiegel“ der von Novalis geforderten Rätselsprache endgültig zu.



„Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. — Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.“
Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg)


Annotationen zu Steven Soderberghs „Solaris“

Solaris - USA 2002. Regie: Steven Soderbergh - Buch: Steven Soderbergh - 
D.: George Clooney (Chris Kelvin), Natasha McElhone (Rheya), Jeremy Davies (Snow), Viola Davis (Dr. Gordon), Ulrich Tukur (Gibarian) - Länge: 99 Min.
 

Steven Soderberghs Film sollte kein Remake von Tarkowskis Film sein, sondern eine Neuverfilmung von Lems Roman. Das Ergebnis ist bekannt: Soderberghs Version zerschellte an den Kinokassen. Wer sich den fürchterlichen Trailer der 20th Century Fox heute anschaut, ahnt, welche Gründe dies hatte. Geteasert wurde ein Film, der wie eine Mixtur aus „Titanic“ (James Cameron war Produzent des Films), „Matrix“ und Space Opera angekündigt wurde – ein Film, in dem die Liebe alle Grenzen überwindet, wie die Textinserts knallig behaupteten.

Hollywood bestätigte damit die allerschlimmsten Befürchtungen und stellte seinem Publikum die Expertise aus, dass es weder das Herz noch den erforderlichen Intellekt besäße, um Stanislaw Lems Gedankenexperiment zu ertragen. Man konnte bei den Marketingexperten durchaus auch ein prinzipielles Intelligenzdefizit vermuten, denn an Soderberghs Film änderte der Trailer nicht das Geringste. So kam, was kommen musste: die Zuschauer rannten nicht wegen Soderberghs „Solaris“-Deutung, sondern wegen Action, großen Gefühlen und George Clooney ins Kino – und bekamen keine Kampfschiffe und auch kein schwüles Melodram zu sehen. Dafür aber wenigstens Clooneys nackten Hintern.

Auch der Rest ist bekannt: ein Teil der Kritik bescheinigte Soderbergh, nicht das Geringste verstanden zu haben. Andere feierten den Film als Meisterwerk. Und das mit Beobachtungen, die ich auch nach mehrfachem Sehen nicht machen konnte – und ich habe mich weiß Gott angestrengt.
Soderbergh verteidigte sein Konzept: „In meinen Filmen beschäftige ich mich gerne mit der Bedeutung von Erinnerungen. Normalerweise nehmen sie Einfluss auf die Gegenwart, aber in diesem Fall haben sie konkrete Gestalt angenommen und sind selbst Gegenwart geworden. Genauer gesagt, sie haben sich eine menschliche Person verwandelt. Und jetzt lauten die Fragen: Sind diese Erinnerungen das gleiche wie ein Mensch? Was bedeutet es überhaupt Mensch zu sein?“
Damit näherte sich Soderbergh der Lem’schen Fabel durchaus respektabel, mit einem Schuss legitimer Umdeutung und etwas Vernebelungsstrategie: „Ich will jeden verwirren, der glaubt er weiß, was ich will.“
 

Wie auch immer -  die Liste der Verfehlungen in Soderberghs „Solaris“ ist ellenlang: 
  • Soderbergh interessierte sich nicht einmal ansatzweise für Lems Reflexionen über Technologie und Erkenntnisgrenzen.
  • Ähnlich wie Tarkowski sprengte er die kammerspielartige Plotstruktur des Romans mit einem Prolog, der unmissverständlich Soderberghs eigenes Thema einführte: die ausschließliche Fokussierung auf die Love Story zwischen Kelvin und Harey (die im Film Rheya heißt).
  • Die Figuren der Vorlage wurden bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und streckenweise trivialisiert.
Der letztgenannte Punkt ist der ärgerlichste. Aus Snaut wurde der von Jeremy Davies als Nerd-Clown gespielte Snow, der sich am Ende sogar als „Gast“ entpuppt, der sein Original bereits kurz nach dem Erstkontakt umgebracht hat. Aus dem kühlen Sartorius wurde ein weiblicher Haudrauf namens Dr. Gordan, gespielt von Viola Davis als Wissenschaftlerin am Rande des Nervenzusammenbruchs, bereit, den gesamten Planeten mitsamt seiner Geschöpfe zu vernichten. Und der von Ulrich Tukor gespielte Gibarian wirkt in seiner obligatorischen Videobotschaft so lässig-entspannt, dass man ihm den bevorstehenden Selbstmord nicht eine Minute lang glaubt. Mit anderen Worten: ein komplett verkorkstes Personal.

In Soderberghs Dramatisierung geriet damit fast alles zur Staffage, was Lems Roman ausgezeichnet hatte. Dafür bröselte der Regisseur bereits in der ersten Sequenz, die wie bei Tarkowski auf der Erde spielte, die gescheiterte Beziehung zwischen Kelvin und Rheya auf. Große Teile der Films wurden auch in der Folge mit Flashbacks aufgefüllt, die das Beziehungsdrama illustrieren.

Dennoch ist Soderberghs nicht trivial geworden. Dies liegt zum einen daran, dass sein Film eine Farbdramaturgie mit einem eigenständigen visuellen Touch besitzt. Auch die Montage interpretiert das Thema mit pointierten assoziativen Schnitten. So erzeugt Soderbergh einen eigenen Look, der die Vorgeschichte und die erneuten ‚Begegnung‘ Kelvins und seiner Frau in eine melancholische Stimmung taucht, die besonders von George Clooney über das Melodramatische hinaus in glaubwürdige Verzweiflung verwandelt wurde.

Am Ende bleibt auch Soderberghs Held auf dem Planeten. Seine neue/alte Geliebte ist tot, die Raumstation stürzt auf den Planeten. Und dann taucht jener Junge auf, der Gibarians „Gast“ war, und reicht Kelvin die Hand. Der metaphorische Gehalt dieses Bildes bezieht sich auf Michelangelos „Erschaffung Adams“, auch wenn dort die Berührung mit der Fingerspitze ausreicht, um den ersten Menschen zu beseelen. 
Cut: Kelvin ist (wie durch ein Wunder) auf die Erde zurückgekehrt. Er verletzt sich in der Küche mit einem Messer. Die Wunde verheilt umgehend. Rheya erscheint. Sie erklärt dem Verblüfften, dass die konventionelle Bedeutung von Leben und Tod für sie beide nicht mehr gelte und dass ihnen vergeben worden sei.


Versöhnungen

Das Publikum konnte und wollte dem nicht folgen, was für den Rezensenten der „Süddeutschen“ keinen Sinn ergab. Und George Clooney fuhr aus der Haut, als ein Journalist den Film auf der Pressekonferenz als „langweilig“ beschrieb. Ein „Jerk“ sei er, also ein Trottel. Unversöhnlich übten sich auch danach Kritiker in Hate Speech: von einem „ätherischem Nichts“ war die Rede, „inhaltliche Leere“ erfülle den Film und überhaupt sei der Regisseur kein großer Denker.
Davon kann jedoch nicht die Rede sein. Vergleichbar mit Tarkowskis Programmatik einer sittlichen Läuterung durch die Kraft der eigenen Innerlichkeit, hat auch Steven Soderbergh lediglich sein eigenes Thema aufgegriffen. Während für Tarkowski, wie Matthias Hurst in „Grenzsituation, Heilung und Versöhnung“ feststellte, die Kunst eine eigene Erkenntnisform auf dem Weg zur absoluten Wahrheit ist, scheint auch Soderberghs Reflexion über die Natur der Liebe das Rätsel der Solaris unter einem mystisch-religiösen Vorzeichen aufklären zu wollen. Der Aspekt der Versöhnung verwandelt sich bei ihm in einen Gnadenakt.
Der gipfelt darin, dass der Planet nicht wie bei Tarkowski lediglich das Haus des Vaters entstehen lässt. Bei Soderbergh rekonstruiert Solaris mühelos Kelvins komplette Heimatstadt aus dessen Erinnerungen. Befreit von den Fesseln von Raum und Zeit können sich Kelvin und Rheya nun auf ein ewiges Leben in Liebe einstellen. Kelvin ist selbst zu einem Geschöpf der Solaris geworden, ohne dass ihm das zuvor klar geworden ist. Anders als die um ihre Identität ringende Harey, hat Kelvin bis zur verblüffenden Schlusswendung nicht den geringsten Zweifel daran, dass er der ist, der er zu sein glaubt.

Trotzdem, oder gerade deswegen, hat mir Soderberghs Film immer besser gefallen als die Mystik Tarkowskis. Auch, weil sein alles andere als perfekter Film Ernst gemacht hat mit dem Versuch, die Essenz menschlicher Erinnerungen fühlbar zu machen. Soderberghs „Solaris“ hat streckenweise etwas Schmerzhaftes, durchaus auch Anti-Intellektuelles. Er erinnert daran, dass es Erinnerungsbilder gibt, die wir nicht entsorgen können. Es sind nicht die glücklichen Momente, sondern die tragischen. Aber auch die merkwürdigen, die immer da sind und über die man staunt, weil ausgerechnet sie es sind, die da sind. Und dann ist da das Erinnerungsbild, das am Ende das letzte sein wird. Dieses Bild schiebt Soderbergh gelassen beiseite. Der Tod spielt in seinem „Solaris“ keine Rolle mehr. Hollywoodsches Melodram und spirituelle Ambition wurden auf den Punkt gebracht. Wenn man beides aushalten kann, dann ist Steven Soderberghs Film besser als sein Ruf.


Fazit

Wir mögen nicht wissen, was das absolut Gute, was die absolute Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau.
 Theodor W. Adorno
In der Antike wurde das „Erkenne dich selbst!“ noch als Appell verstanden, die eigene Verletzlichkeit und Sterblichkeit zu erkennen. Die Umdeutungen setzten erst später ein und verwandelten die Inschrift am Apollotempel von Delphi in ein Programm zur Selbstoptimierung. Die Selbsterkenntnis, bei Tarkowski noch ein mit Demut behafteter Schritt zur göttlichen Wahrheit, ist mittlerweile in den Lifestyle-Angeboten der urbanen Kultur angekommen. Zu vermuten ist, dass sich Stanislaw Lem eher zur antiken Variante des Nosce te ipsum hingezogen fühlte. Also Schwäche und Verletzlichkeit und kein unsterbliches Leben.

Arbeitet man die Rezeptionsgeschichte von Lems Roman auf, so wird eine verblüffende Kongruenz der Strategien sichtbar. Und das gilt auch für die zum Teil sehr anstrengenden Kritiken und Interpretationen. 
Lem erzählt aufwändig von einer Solaristik, die trotz unzähliger Erklärungsmodelle und experimenteller Versuche keinen Kontakt zu dem Planeten herstellen kann. Der Kontakt mit dem fremden Planeten war und bleibt Kelvins primäres Ziel. Wenn der Ich-Erzähler am Ende feststellt, dass der Glaube an die Macht der Liebe eine Lüge ist, diese Lüge zwar vergeblich, aber nicht lächerlich gewesen ist, dann söhnt er sich sowohl als Wissenschaftler als auch als Mensch mit dem Dilemma aus, nichts zu wissen, aber wenigstens etwas erfahren zu haben. Hoffnung hat er keine, Erwartungen schon – und sei es nur die Fortsetzung der grausamen Wunder. 
Der Planet hat aber zuvor nicht geschwiegen, die Art seiner Reaktion war allerdings keine Kommunikation, bei der sich die Beteiligten einer bekannten Syntax und Semantik bedienen können. Die Geschöpfe, die Solaris den Wissenschaftlern auf der Raumstation präsentierte, können ebenso wie die wilden Träume Kelvins in der Lem‘schen Diegese nicht ‚an sich‘ verstanden werden, sondern nur in ihrer Bedeutung für die Menschen – oder, wie seine Träume, überhaupt nicht.


Lem hat dieses Problem mit gnadenloser Schärfe in „Die Stimme des Herrn“ (His Master’s Voice, 1968, dts. 1981) seziert. Dort scheitern ganze Heerscharen von Wissenschaftlern an der Interpretation eines Signals aus den Tiefen des Weltalls, ein Signal, das möglicherweise seit einer Milliarde Jahren ununterbrochen gesendet wird. Lem entkernt diesen Roman, entfernt das Belletristische fast vollständig zugunsten einer brillanten und ausufernden Philosophie der Technologieentwicklung, greift dabei weniger auf den Kanon traditioneller ontologischer und metaphysischer Fragestellungen zurück, sondern diskutiert das Problem der Wissensbeschaffung unter sprachlichen, logischen und kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten.

Der fiktive Verfasser von „Die Stimme des Herrn“, ein wissenschaftliches Genie namens Peter E. Hogarth, bringt das Problem in einem Gespräch mit einem Politiker auf den Punkt: „Wir benehmen uns wie jemand, der einen verlorenen Gegenstand nicht überall sucht, sondern nur unter einer brennenden Laterne, weil es dort hell ist.“ Die Conclusio: Selbst dort, wo man glaubt, etwas verstanden zu haben, und man zudem in der Lage ist, aus den Erkenntnissen etwas zu schaffen, was unterschiedlichen Anwendungen dienlich ist, kann man sich vollständig geirrt haben. Das ist in etwa mit einem Neandertaler zu vergleichen, der ein dickes philosophisches Buch entdeckt und feststellt,  dass der Heizwert des Buches für das nächtliche Lagerfeuer einen unschätzbaren, wenngleich temporären Nutzen für ihn besitzt.

Wie gesagt: Das ist keine Häme. Lem hält den Homo sapiens nicht für einen Haufen von lächerlichen Idioten, sondern versucht ihm einzutrichtern, dass er nicht die Zierde der Schöpfung ist – so es denn eine gegeben hat.
Übrig bleiben trotzdem - rezeptionsästhetisch betrachtet - riesige Leerstellen, die mit Bedeutung aufgefüllt werden müssen. Der Literaturwissenschaftler Lem wird dies gewusst haben. Über die Solaris-Rezeption stellte ironisch fest: „I read reviews so profound I barely understood them... Starting from the obvious Freudian interpretation...“
Allerdings, fügte er listig hinzu, seien dabei Fehler gemacht worden, da einige Idiome des polnischen Originals von den Rezensenten eben nicht richtig verstanden worden seien.

Ähnlich wie die ratlosen Figuren des Romans, die beim besten Willen nicht mehr tun können, als ihre emotionalen und moralischen Reaktionen und Urteile auf das Fremdartige zu projizieren, haben sich die Filmemacher, aber auch die Kritiker in ihrem eigenen kulturellen Fundus bedient. Das ist nicht falsch, es ist sogar verständlich.
 Wie weit das Ganze gehen kann, zeigt pars pro toto eine Überlegung von Andreas Borcholte über Soderberghs „Solaris“: „Doch hinter allem Verständnis für den angemessen triefäugigen Clooney verbirgt sich die beunruhigende Frage, wie viel man von seinen Nächsten und Liebsten wirklich wahrnimmt, ob nicht alles, was man als Leben, Liebe oder Beziehung definiert, nur auf Bildern, Illusionen und Idealen basiert, die wir uns nur im Kopf geschaffen haben. Was ist real? Existiert die Welt mit ihren Menschen tatsächlich so, wie wir sie sehen? Oder ist alles nur eine Schimäre, eine chemische Reaktion im Gewitter der Synapsen?“

Das ist Solipsismus, der dem empirisch ausgerichteten Stanislaw Lem kaum gefallen hätte. Allerdings verfehlt Borcholtes Spekulation nicht völlig das, was Soderbergh aus dem Sujet gemacht hat. 


Und wie sieht nun die Kongruenz der Strategien aus? Sie besteht darin, dass Leser, Zuschauer, Kritiker und Rezensenten, Film- und Literaturwissenschaftler genauso funktionieren wie die gesamte Solaristik: vorsichtig tastend, grübelnd, gelangweilt, bemüht, methodisch analysierend, ausgestattet mit Prämissen, die sich mitunter nicht halten lassen. Damit hat Lem eine fiktionale Erzählung geschaffen, die by the way auch gleich die Gesetze ihre Rezeption definiert hat.
Das ist unvermeidbar, evoziert Humor und der ist auch notwendig. Und das fiktionale Konstrukt Stanislaw Lems ist in „Solaris“ nicht die Beschreibung einer Katastrophe, sondern einfach nur eine Standortbestimmung. Katastrophen bei Lem sehen anders aus: sein grundlegender Pessimismus bestand ja aus dem Hinweis, dass der homo technicus in seinen Krisen immer auch Entscheidungen trifft, die das determinieren, was in Zukunft geschehen wird. Und einige Entscheidungen erfolgen offenbar mit unvermeidbarer Notwendigkeit, auch wenn die Folgen fatal sind.


Auf dem Planeten fehlen den Beobachtern allerdings die Instrumente, um die Zukunft zu determinieren. Und, wie bereits ausgeführt, fehlt auch das Wissen über die Intentionen des schöpferischen Planeten. So bleibt der Hauptfigur nur das Warten: „Keinen Augenblick lang glaubte ich, dass diesen flüssigen Koloss, der vielen Hunderten Menschen in sich den Tod bereitet hatte und mit dem meine ganze Rasse seit Jahrzehnten vergeblich auch nur ein Fädchen der Verständigung anzuknüpfen suchte, ihn, der mich wie einen Staubsplitter unwissentlich mit sich forttrug - die Tragödie zweier Menschen rühren könnte. Aber sein Handeln richtete sich auf irgendein Ziel. Freilich, nicht einmal dessen war ich ganz sicher.“

Der Skeptizismus Lems fordert uns einiges ab. Glaubt man dem Zeitgeist oder meinetwegen auch Stephan Hawking („… die Philosophie ist tot. Sie hat mit den neueren Entwicklungen in der Naturwissenschaft, vor allem in der Physik, nicht Schritt gehalten“), dann haben die Religion, die Metaphysik und die gesamte Philosophie den Wettlauf mit der Wissenschaft verloren. Gott wird nicht mehr benötigt, der deterministische Kosmos hat sich selbst in Gang gesetzt – ein Uhrwerk, von dem wir immer mehr erkennen.
 Leider gibt es, anders als es Kelvin erlebt, kein sinnliches Äquivalent für diese Erfahrung.
Beginnend mit Einstein und fortfahrend mit der Quantenphysik scheitern nicht gerade selten die Versuche, den Menschen die Erkenntnisse über einen kaum noch zu verstehenden Kosmos näher zu bringen, an dessen beobachtbaren Grenzen der Raum rasend expandiert und sich die Galaxien mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit entfernen. Kausal haben diese Regionen nichts mehr mit uns zu tun, Informationen von diesen fernen Orten werden uns nie erreichen. Und irgendwann spricht dieser Kosmos überhaupt nicht mehr mit uns.
Dass die Natur des Kosmos in anderen Bereichen dagegen nur probalistisch zu erfassen ist, trägt nicht gerade zur inneren Ruhe bei. Die populärwissenschaftliche Sprache räumt weder die Unverständlichkeit noch das Unverständliche aus, sie erschafft zwar brauchbare Schemen und Schatten, aber ohne avancierte Mathematik landet man dann wieder beim Bestaunen der farbigen Einbände. Aber auch der Physiker weiß nicht davon zu berichten, wie sich eingerollte Strings in ihrer Mehrdimensionalität anfühlen.


„…auf den Perzeptionsebenen der Mikro-, Makro- und Megawelt bleiben wir völlig hilflos. Niemand ist in der Lage, ein Atom, die Galaxis, den Evolutionsprozeß oder die Entstehung der Planeten aus den angeblich protoplanetaren Nebelverdichtungen sehen oder sich so etwas vorstellen zu können. Die ethnische Sprache als breitbandiger, polysemantischer Informationsträger sowie die Mathematik als eine aus dieser abgeleiteten und sehr präzisierten schmalbandigen Sprache stellen unsere "Tentakel", unsere Krücken, unsere "Prothesen" dar. Ähnlich wie ein Blinder, der mit seinem weißen Stock den Steinboden abklopft und so versucht, mit dem Gehör zu erkennen, ob er sich im Zimmer, auf der Straße oder inmitten eines Tempels befindet, so versuchen auch wir mit diesen mathematischen Prothesen das "abzuklopfen", was außerhalb unseres Sensoriums liegt. (…) Der Mensch ist, um das Gesagte zusammenzufassen, eine kleine Wissensinsel, die teilweise aus dem Ozean des außersinnlichen Unwissens herausragt und teilweise in der Unermesslichkeit des Unwissens eingetaucht ist“, resümierte Stanislaw Lem 1999 in dem Essay „Meine Weltanschauung“.
 

Darüber hinaus war Lem aber ein brillanter Satiriker, der sehr viel Lustiges geschrieben hatte. Auch seine Skepsis über technische Fortschritte geriet gelegentlich zum koketten Scherz: die elektrische Schreibmaschine hielt er genauso für überflüssig wie das Internet. Und Computer könne er sowieso nicht bedienen. Und er irrte sich grandios, als er TV-Serien bescheinigte, dass sie banale Erzählmuster auf noch Banaleres herunterbrechen und dieses Vorgehen auch noch ständig wiederholen.

In Lems satirischen Parabeln lernt man schließlich auch einiges über „Solaris“. Zum Beispiel über das „Erkenne Dich selbst“ – dazu benötigt man nur einen Perspektivwechsel. Lem erzählt davon in seiner Kurzgeschichte aus der „Kyberiade“: „Die siebente Reise oder wie Trurls Vollkommenheit zum Bösen führte“. 

Der Konstrukteur, Kybernetiker und Sternenreisende Trurl baut für einen entmachteten König als Spielzeug eine mikroskopisch kleine virtuelle Welt mit virtuellen Menschen. Der böse König, von dem nichts Gutes zu erwarten ist, kann in seinem neuen Reich seine Untertanen nun nach Belieben quälen. Wieder daheim, muss sich Trurl von seinem Kollegen Klapauzius anhören, dass er keineswegs nur einige Elektronen und Schaltkreise arrangiert hat, sondern möglicherweise auch empfindungsfähige Wesen geschaffen hat. Jedenfalls könne er nicht sicher sein, dass es anders sei. Seine Nachahmung war zu perfekt: „Siehst du nicht, wie die Vollkommenheit des Nachahmers bewirkt, dass der Schein zur Wahrheit wird, die Täuschung zur Wirklichkeit? (…) Beweise mir hier auf der Stelle, dass sie nicht leiden, dass sie nicht denken, dass es sie überhaupt nicht gibt als Wesen (…) Beweise mir auf der Stelle, dass du das Leiden nur nachgeahmt, aber nicht geschaffen hast!“

Trurl ist nun aber nicht Kelvins gebrechenbehafteter Gott. Der Kybernetiker hatte an alles gedacht, er war perfekt. Trurls Problem besteht nicht darin, dass er als Wissenschaftler an eine unüberwindbare Grenze gestoßen ist, sondern vielmehr darin, dass er sie als solche gar nicht erkennt hat. Er hatte einfach nicht die Intentionen aller Akteure in Betracht gezogen hat, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass sie welche haben könnten. Und Klapauzius irrt sich, weil er an die Widerspruchsfreiheit seiner Argumente glaubt und nicht für möglich hält, dass Widersprüche einer eigenen Dynamik folgen und sich gelegentlich von selbst auflösen. 

Als Trurl und Klapauzius zu dem Planetoiden fliegen, um die leidenden Schaltkreise zu befreien, haben diese sich evolutionär weiterentwickelt und sich ohne fremdes Zutun selbst von dem Tyrannen befreit. Die ‚gebrechliche‘ Wissenschaft und die ‚gebrechliche‘ Moral sind also noch nicht ganz am Ende, ihre schlimmsten Fehler verwandeln sich manchmal märchenhaft in etwas Gutes. Wie dürfen uns also auf weitere Überraschungen vorbereiten. Oder uns die Frage stellen, die Peter E. Hogarth im fiktiven Vorwort zu „Die Stimme des Herrn“ formulierte: „Weshalb eigentlich sollte jener Prozess, der uns hervorgebracht hat, in irgendeiner Hinsicht vollkommen gewesen sein?“

Das gilt auch für den schweigenden Planeten, der schleunigst damit beginnen sollte, in den Engrammen seiner Besucher nach guter Literatur zu suchen. Am besten fängt er mit Lem an.


Ob das Diktum der Vernunft, nämlich grenzenloser Progress zu sein, immer greift, darf mit Lem aber bezweifelt werden. Vielleicht hatte Kant gute Gründe, als er die Moral vom Gefühl abkoppelte. Moral, Zufall und Wahrscheinlichkeit – das passte für ihn nicht zusammen: Bestimmt die Vernunft den Willen, lassen sich objektiv notwendige Grundsätze ableiten. 
Kant zu lesen, kann trösten. Dass die Vernunft an Grenzen stoßen kann, dass die Gefühle, das Zufällige und Absurde und auch das Unwahrscheinliche und Unberechenbare danach aber immer noch da sind, zeigt Lem nicht nur in „Solaris“ überdeutlich. Und auch wenn man bei all diesen Rätseln nicht weiß, was eine Sache ist und was zu tun ist, dann weiß man erstaunlicherweise sehr oft, was sie nicht ist und was nicht zu tun ist. Das ist immerhin ein Anfang.



Literatur

  • David L. Anderson: What is a person?
  • Hugo Aust: Solaris – wörtlich und schelmisch gelesen. Aus: Lektüren 'bilden': Lesen - Bildung - Vermittlung: Festschrift für Erich Schön, 2013.
  • Stephen Hawking & Leonard Mlodinow: Der grosse Entwurf, 2010
  • Matthias Hurst: Grenzsituation, Heilung und Versöhnung: „Solaris“ von Andrej Tarkowskij. In: Trauma und Versöhnung – Heilungswege in Psychotherapie, Kunst und Religion, 2010
  • Franz von Kutschera: Moralischer Realismus. Aus: Logos - Zeitschrift für systematische Philosophie N.F. 1, S. 241-258, 1994.
  • Stanislaw Lem: Philosophie des Zufalls, Band 1, 1983

    Stanislaw Lem: Solaris, 1961

    Stanislaw Lem: Die Stimme des Herrn, 1981
  • Wolfgang Lenzen: Zur Naturalisierung des Geistes – Laudatio auf Franz von Kutschera
  • Torowskaja / Allardt-Nostitz: Film als Poesie – Poesie als Film, 1981