Samstag, 24. Januar 2009

Changeling - Der fremde Sohn

USA 2008 - Originaltitel: Changeling - Regie: Clint Eastwood - Darsteller: Angelina Jolie, John Malkovich, Jeffrey Donovan, Michael Kelly, Colm Feore, Jason Butler Harner, Amy Ryan - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 142 min.

Los Angeles, 1928. Als an einem Samstagabend Christine Collins (Angelina Jolie) von der Arbeit nach Hause zurückkehrt, ist ihr Sohn Walter (Gattlin Griffith) verschwunden. Der Fall ist rätselhaft. Die Suche einer Spezialabteilung des LAPD bleibt ergebnislos – bis fünf Monate später der verzweifelten Mutter mitgeteilt wird, dass ihr Sohn gefunden worden ist. Das sorgfältig für die Presse arrangierte erste Treffen wird allerdings zum Fiasko: Christine bestreitet, dass das Kind, das glücklich seine Mutter umarmt, ihr Sohn sei. Trotzdem lässt sie sich vom verantwortlichen Captain J.J. Jones zu einem Pressefoto überreden. Ein Fehler mit Folgen. In der Folge prallen alle Beteuerungen der Mutter am Polizeiapparat ab, während der Junge darauf besteht, dass er Walter Collins ist.
Trotz unbestreitbarer Beweise landet Christine in der Psychiatrie, weil der Polizei eine Aufklärung der Panne ungelegen kommt – eine Code 12-Einweisung. Zu einer dramatischen Wende kommt es, als auf einer Farm in Wineville grauenhafte Beweise für eine Serie von Kindermorden entdeckt werden.

Wenn die Realität schrecklicher ist als die Fiktion
‚Changeling’ heißt Wechselbalg. Und die Geschichte, die Clint Eastwood in seinem Film erzählt, ist so ungeheuerlich, dass sie authentisch sein muss – ein Scriptwriter würde mit einem derart abstrusen Plot wohl keine Chance haben. Tatsächlich basiert „Der fremde Sohn“ auf den berüchtigten Wineville Chicken Coop Murders, die in den 1920ern von Gordon Northcott und seiner Mutter auf einer entlegenen Farm begangen wurden.
Drehbuchautor J. Michael Straczynski erspart dem Zuschauer der streckenweise nur schwer zu ertragenden Geschichte sogar noch die perversen Details der realen Geschichte: Northcott wurde in seiner Kindheit nicht nur schwer misshandelt, sondern von der gesamten Familie sexuell missbraucht. Seine vermeintliche Mutter war in Wirklichkeit seine Großmutter und er selbst das Ergebnis einer inzestuösen Beziehung seines Großvaters und dessen Tochter. Sarah Louise Northcott wurde wegen des Mordes an Walter Collins zu lebenslänglicher Haft verurteilt, aber bereits nach 12 Jahren entlassen. Gordon Northcott, der vermutlich mehr als zwanzig Kinder folterte, sexuell missbrauchte und anschließend mit der Axt erschlug, wurde 1930 gehängt. Ein emotional zerstörter und psychopathischer Triebtäter, der (folgt man den Axiomen der modernen Hirnforscher) völlig schuldlos an seinem Tun war.

„Der fremde Sohn“ spart diese Details, die den Film vermutlich in die tiefsten Abgründe geführt hätten, aus. Abgesehen davon wäre ‚Changeling’ die kassenschädigende Altersfreigabe „x-rated“ mit sexuellen Komponenten wie Pädophilie und Inzest nicht erspart geblieben. So präsentiert der Film lediglich den Jugendlichen Sanford Clark, einen entfernten Verwandten des Mörders, der illegal auf dessen Farm lebte und bei den Morden assistieren musste. Sanford führt einen Ermittler des LAPD nicht nur auf die Farm, sondern lenkt ihn auch auf die Fährte von Walter Collins. In ‚Changeling’ ist die Zivilcourage dieses Fahnders, der auf eigene Faust handelt, entscheidend. Als Clark den verschwundenen Walter auf Fotos identifizieren kann, reagiert der Cop, bevor seine Vorgesetzten auch diesen Fall vertuschen können.

Im Reich des Bösen
Eastwood führt den Zuschauer an einen dunklen Ort, der sich auch nach der Aufdeckung dieses Skandals nie von seiner fatalen Geschichte befreien konnte. Es ist die Geschichte von Los Angeles und auch die authentische Geschichte eines maroden und korrupten Polizeiapparates, der einer Mutter einen Wechselbalg unterschieben will, um ein paar billige Pluspunkte in der öffentlichen Wahrnehmung zu sammeln. Es ist der gleiche Polizeiapparat, den wir aus „Chinatown“ und „L.A. Confidential“ kennen und der auch jenseits seiner Fiktionalisierungen seinen schlechten Ruf redlich verteidigte – bis hin zu den Rassenunruhen im Jahre 1992. Über Jahrzehnte hatte L.A. durch eine besondere Städtebauplanung zur Gettoisierung der schwarzen Bevölkerung beigetragen und eine Verödung der so genannten Inner City gefördert, die zu einem perfekten Nährboden für Kriminalität und Gewaltexzesse wurde, die im berüchtigten "North Hollywood Shootout" gipfelten, einem Szenario, das in „Heat“ nicht einmal sonderlich übertrieben auf die Leinwand gebracht wurde.
So gesehen ist ‚Changeling’ auch ein Synonym für den Wechselbalg, den das LAPD der Öffentlichkeit andienen wollte. Zu den bizarren Monstrositäten dieser Zeit gehörte auch der Code 12, der die Zwangspsychiatrisierung missliebiger Personen für die Behörde zu einem Kinderspiel machte. Auch Christine Collins wurde ein Opfer des Code 12 und Eastwoods unaufgeregter realistischer Erzählstil zeigt mit der ihm eigenen Unbestechlichkeit, dass auch Frauen, die irgendwem irgendwann zu lästig wurden, erbarmungslos in die geschlossene Abteilung geschickt wurden, wo Elektroschocks und in späteren Jahren die Lobotomie auf sie wartete.

Biosozialer Humanismus
Auch hier breitet der Film den Mantel des Schweigens aus, allerdings historisch richtig, denn die Lobotomie, bei der die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Stirnhirn zerstört werden, wurde erst ab 1936 eingesetzt. Ihr aktiver Vertreter, der Psychiater Walter Freeman, beschrieb die Ergebnisse recht pragmatisch: sie „…erlangt ihre Erfolge dadurch, dass sie die Phantasie zerschmettert, Gefühle abstumpft, abstraktes Denken vernichtet und ein roboterähnliches, kontrollierbares Individuum schafft."
Tatsächlich wurden nicht nur psychisch schwer Erkrankte lobotomisiert, sondern auch geschwätzige Frauen, denen man Hysterie nachsagte, unruhige und aufsässige Kinder und kriminelle Farbige. In den 1950er Jahren wurden dann systematisch Homosexuelle und Menschen mit angeblich kommunistischer Einstellung in jene Zombies verwandelt, die wir aus „Einer flog über das Kuckucksnest“ kennen.
Noch in den späten 1970er Jahren wurde Lobotomie als Prävention gegen Rassenunruhen gepriesen und ernsthaft in Erwägung gezogen – auch unter dem Gesichtspunkt der billigen Kosten. Man nannte es „biosozialen Humanismus“.
Freeman selbst reiste übrigens wie ein kirre gewordener Dr. Frankenstein mit dem Wohnmobil durch das „Land of the Free“, um im Akkord Gehirne zu zerstören. Insgesamt knapp 4.000 Menschen gingen allein auf sein Konto. Den Eingriff führte er in der Endphase seines Schaffens ohne Betäubung durch, manchmal schickte er ‚Patienten’ mit schweren Stromschlägen in die Bewusstlosigkeit, in der Mehrzahl trieb er den anderen ohne jegliche Betäubung den berüchtigten Eispickel mit dem Hammer in den Schädel. Dies allerdings nicht aus sadistischen Motiven, sondern um die Patienten während des Eingriffs zu befragen: solange sie noch vergleichsweise intelligente Antworten gaben, rührte er mit dem Pickel im Gehirn herum, erst als nicht einmal mehr einfache Additionen gelöst werden konnten, erkannte er die hinreichende kognitive Zerstörung und entließ die ‚geheilten’ Probanden.

Die Macht der Sprache
Wer ‚Changeling’ vor diesem Hintergrund sieht, muss mit Entsetzen die eiskalten Dialoge zwischen Christine und dem Psychiater betrachten, der mit sichtbarem Vergnügen jede Regung der ausgelieferten Frau in ein psychopathologisches Symptom verwandelt, für das er die probate Fachsprache bereithält. Hier gibt es kein Entrinnen und Eastwood nähert sich besonders in diesen Szenen dem eigentlichen Hauptthema des Films: der Macht der Sprache.
Es ist nicht nur der Psychiater (der für das LAPD arbeitet), der mit Worten jene Wirklichkeit schafft, die es zu schaffen gilt; es ist auch die Macht der leicht manipulierbaren Medien, die sich in einer Sprache widerspiegelt, die Einfluss auf die Masse hat und selbst den Mächtigen die nackte Angst einjagt. Es ist die Autorität der Sprache, die Christine eine absurde Realitätswahrnehmung aufzwingen will und der Mutter die Fähigkeit abspricht, ihren eigenen Sohn zu erkennen. Und es ist die Sprache, die zum Widerstand befähigt.
In ‚Changeling’ ist es der Pfarrer Briegleb (John Malkovich), der geistliche Vorstand der presbyterianischen Gemeinde, der die korrupte Polizei nicht nur in seinen Predigten, sondern auch über den kirchlichen Rundfunksender angreift – ein mächtiges Medium, das nicht so leicht auszuschalten ist. Briegleb ist es auch, der Christine aus der Psychiatrie befreit und letztlich auch Code 12 beseitigt (tatsächlich wurde Christine Collins entlassen, weil der ihr untergeschobene Junge endlich zugab, nicht ihr Sohn zu sein – das vagabundierende Kind hatte sich nicht ohne Zutun der Polizei als Walter Collins ausgegeben, um endlich einmal in die Stadt seines Westernhelden Tom Mix zu kommen).
Pfarrer Briegleb wird in ‚Changeling’ als pragmatischer Visionär gezeigt, der früh erkennt, dass dem Gewaltmonopol einer rechtsfrei operierenden Staatlichkeit nur durch den gezielten Einsatz eines Massenmediums beizukommen ist. Eine zweischneidige Erkenntnis, die spätestens dann nicht mehr optimistisch stimmt, wenn die Gerechtigkeit unter die Räder der Medien gerät.

Clint Eastwood und der störrische Individualismus
Clint Eastwood ist sicher einer der bedeutendsten Regisseure der Filmgeschichte. Seine Doppelrolle als Schauspieler und Filmemacher verstellt aber gelegentlich den Blick auf sein Werk, da es selbst heute noch schwer fällt, das emotionslose Gesicht des ersten Star des Italo-Western und die zynische Kälte seines „Dirty Harry“ aus dem Gedächtnis zu streichen. Aber selbst „Dirty Harry“ ist nicht wirklich ein Zyniker, sondern eine Figur, die einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besitzt und einem Wertecodex verpflichtet ist, der nicht verhandelbar ist, sondern in konkrete Handlungen umgesetzt wird.
Eastwoods Figuren, egal, ob er sie selbst verkörpert oder nicht, sind häufig derart störrische Sonderlinge, die dem gesellschaftlichen Konsens misstrauen und ihre eigenen Gesetze über die öffentliche Moral stellen. Dies ist eine zutiefst pessimistische Sicht der Dinge, da die großen realistischen Erzähler immer die Hoffnung vermittelten, die Gesellschaft könne sich durch das Erkennen von Wahrheit und Gerechtigkeit zum Besseren wandeln.
Eastwood scheint diese Hoffnung nicht zu teilen. Aber der Alternative scheint er auch zu misstrauen: Seine Figuren mitsamt ihrer Rigorosität scheitern entweder („Mystic River“) oder bleiben moralisch ambivalent wie in „Unforgiven“ oder „Million Dollar Baby“. Gelegentlich siegt ihre Sturheit („Absolute Power“, „True Crime“), aber insgesamt sind sie meistens unbeugsame Individualisten hart am Rande der Anarchie und der Niederlage.

Andererseits ist es oft die Gesellschaft, die in Eastwoods Filmen die Wahrheit nicht erkennen will („Flags of Our Fathers“, „Midnight in the Garden of Good and Evil“) und den Außenseitern damit ihren Weg vorschreibt. Was immer diese Figuren treibt, sie tun es mit rigoroser Konsequenz, die wortwörtlich über Leichen gehen kann. So etwas haben wir schon bei John Ford gesehen und es beschreibt letztendlich den Kampf zwischen den Individualisten und der Gesellschaft. Es ist der Widerspruch zwischen Freiheit und System.

In ‚Changeling’ scheint das ‚Gute’, verkörpert durch die Integrität des Rechtssystems, zu siegen. Die Korrupten werden ihrer Ämter enthoben, die Störrischen sind die Gewinner. Da der Zuschauer, sofern er ein wenig mit der Geschichte vertraut ist, durchaus wissen kann, dass dieser Triumph der Gerechtigkeit bald in eine moralische Talfahrt münden wird, gerät auch in Eastwoods Film die Hoffnung letztendlich unter die Räder.
Eastwood bleibt, so gesehen, ein nüchterner, unbestechlicher und skeptischer Beobachter der „Condition Humaine“.

Stilfragen
Auf den ersten Blick scheint ‚Changeling’ nicht ganz an Eastwoods Meisterwerke heranzureichen. Dies mag auch ein wenig an Angelina Jolie liegen, der man nicht immer die Entschlossenheit abnimmt, die ihre Figur im Laufe der Handlung entwickelt. Auch die Besetzung des Pfarrer Briegleb mit John Malkovich konnte mich nicht restlos überzeugen.

Dafür fesseln andere Qualitäten des Films. In ‚Changeling’ haben einige Figuren in dramatische Situationen oft nur wenige Sekunden, um sich zu entscheiden. Sie tun es, es ist die richtige Entscheidung und man erkennt dies an den Folgen. Eastwood hat dafür einen effizienten, lakonischen Erzählstil entwickelt, der frei von formalen Mätzchen ist. Man mag dies konventionell nennen, aber es ist pure Ökonomie – der Blick aufs Wesentliche. Eastwoods mise en scene studiert das Verhalten der Personen in ihren räumlichen und sozialen Kontexten, erklärt es aber nicht unbedingt psychologisch. Closeups wird man in ‚Changeling’ nicht finden.
Sicher verdankt der Film die stilistische Geschlossenheit auch der Kameraarbeit von Tom Stern („Mystic River“, „Million Dollar Baby“, „Flags of Our Fathers“, „Letters from Iwo Jima“) und dem ruhigen Schnitt von Joel Cox. Die Musik stammt übrigens von Clint Eastwood und es ist kein Zufall, dass die Trompete (schlechthin das Instrument der späten Noir-Filme) motivisch an „Chinatown“ und „L.A. Confidential“ erinnert.

Noten: BigDoc = 1,5