Freitag, 1. Februar 2008

Drachenläufer

Drachenläufer (The Kite Runner), USA 2007, 122 min., Regie: Marc Forster, Darsteller: Khalid Abdalla, Ahmad Khan Mahmoodzada, Shaun Toub, Sait Taghmaoui, Atossa Leoni.

In Marc Forsters Verfilmung des gleichnamigen Erfolgsromans von Khaled Hosseini kreisen papierne Drachen über Kabul. Im friedlichen Wettkampf. Die Kamera ist auf Augenhöhe und beobachtet das filigrane Spiel wie in einem Actionfilm, spannungsgeladen und elegant. Es sind schöne Aufnahmen und wenn Foster auf die zwei Jungen schneidet, die sich im Wettstreit der Drachenflieger gegen ihre Altergenossen behaupten wollen, entsteht dennoch eine ambivalente Stimmung, denn das Ganze ist ein Flashback und der Zuschauer weiß sehr genau, dass die zivile afghanische Gesellschaft, die hier bei ihren harmlosen Vergnügungen gezeigt, bereits tot ist. Historisch gesehen.

Marc Forster hat einige der wichtigsten Filme des neuen amerikanischen Kinos gemacht. „Monster’s Ball“ (2001) verschaffte Halle Berry einen Oskar, in „Finding Neverland“ zeigte Forster 2004 mit seiner Geschichte über den Peter-Pan-Autoren J. M. Barrie (Johnny Depp) sein Gespür für die gepflegte Tragikomödie, während er das intellektuelle Publikum zwei Jahre später mit „Stranger Than Fiction“ (wurde in BigDoc’s Filmclub ausführlich besprochen) begeisterte, einem jener Filme, von denen man annimmt, ja weiß, dass sie weit davon entfernt sind jemals zum Massenpublikum vorzudringen. Aber egal: der Deutsch-Schweizer hat eine Bilderbuchkarriere hingelegt und darf seit 2005 als Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences darüber entscheiden, wem ein Oskar in die Hand gedrückt wird. Da wird der eigene bald zur Pflicht. Es fehlt nur ein Film, der massentauglich ist.
„Drachenläufer“ könnte so ein Film sein. Seine Geschichte ist exotisch und doch sehr eng mit der amerikanischen Geschichte verknüpft. Der Film besitzt exzellente, unverbrauchte Darsteller, er provoziert nicht aufdringlich, sondern ist sensibel und differenziert, ohne das historische Wissen des Kinogängers zu überfordern – und dieses kann man ja durchaus in „Der Krieg des Charlie Wilson“ ergänzen, wo erzählt wird, aus welchen Quellen die Taliban das Geld für ihre Waffen erhielten. Aber das ist eine andere Geschichte. Jene, die in „Drachenläufer“ erzählt wird, stürzt am Ende kläglich ab und warum es dazu kommt, ist überraschend einfach zu erklären. Mich überrascht es jedenfalls nicht, das The Kite Runner nicht einmal für Kategorie Bestes Adaptiertes Drehbuch nominiert wurde, sondern nur in der Sparte Musik. Auf seinen ersten „richtigen“ Oscar wird Forster noch etwas warten müssen.

Eine Frage der Moral

Amir und Hassan sind die Jungs, die 1979 über Kabul den Drachen steigen lassen. Amir ist Sohn eines reichen Paschtunen, Hassan ist der Sohn des Hausdieners und Angehöriger des Hazara, die als niedriger Stand schlechte Karten in der säkularen Gesellschaft Afghanistans haben (der sunnitisch-schiitische Konflikt, der dafür verantwortlich ist, wird im Film nicht erwähnt). Trotzdem verbindet eine tiefe Freundschaft beide Kinder, obwohl die Aufgabenteilung beim Drachenfliegen deren sozialen Status widerspiegelt: Amir ist der Lenker, Hassan der „Drachenläufer“, der das Fluggerät nach dessen Landung in den engen Straßen Kabuls wiederfinden muss. Das erledigt er mit sicherem Gespür und einer fast unglaublichen Intuition.
Diese Intuition besitzt der Analphabet offenbar auch in moralischen Fragen, denn als Amir und sein Freund von dem etwas älteren Assef und seiner Paschtunengang wegen der nicht standesgemäßen Freundschaft bedroht werden, ist es Hassan, der mit seiner Schleuder tapfer und loyal seinen Freund vor einer Tracht Prügel bewahrt.

Forster erzählt die Geschichte dieser Freundschaft sehr genau und unaufdringlich. Hier stimmt jeder Ton, besonders dann, wenn sich Hassan von Amir dessen erste literarische Gehversuche vorlesen lässt, kleine Geschichten, die für Hassan die Tür in eine ihm unbekannte Welt öffnen. Das sich nun anbahnende Drama wird überzeugend aus der psychologischen Konstellation beider Kinder abgeleitet, deren Freundschaft auch von einer erkennbaren gegenseitigen Abhängigkeit geprägt ist: Amir ist weich und, wie sein Vater erkennen lässt, unmännlich, Hassan ist tapfer und damit auch latent eine Herausforderung für Amirs Selbstwertgefühl.
Nach einem Drachenwettkampf, den Amir gewinnt, wird Hassan von Assef und seinen Schlägern überfallen, zusammengeschlagen und vergewaltigt. Amir, der alles heimlich aus einem Versteck beobachtet, ist vor Angst gelähmt und kommt seinem Freund nicht zu Hilfe. Ein moralisches Drama, das nicht zuletzt auch deswegen berührt, weil es im wahrsten Sinne des Wortes allzumenschlich ist. Zivilcourage ist offenbar nicht ursächlich mit Bildung und Stand verbunden. An sich eine banale Einsicht, aber Forster bebildert diesen moralischen Konflikt so präzise, dass er fast shakespearesche Dimensionen erhält.
Und genau an das erinnert auch alles Weitere: Amir wird von Scham und Schuld gequält und kann sich scheinbar nur durch Hass und Wut dieser Gefühle entledigen. Und so erniedrigt und quält er Hassan, bis dieser nach einem von Amir fingierten Diebstahl zusammen mit seinem Vater das Haus verlässt.

In der Enklave

Nach der sowjetischen Invasion fliehen Amir und sein Vater via Pakistan in die Vereinigten Staaten. Amir besucht ein College und wird gegen den Willen seines Vaters, der sein Vermögen verloren hat und sein Geld in einer Tankstelle verdient, Schriftsteller. Bald darauf verliebt sich Amir in die ebenfalls aus Afghanistan geflohene Soraya. Das Mädchen ist Tochter eines angesehenen afghanischen Generals.
Dieses Intermezzo ist das Bindeglied zwischen dem ersten und dem letzten Teil des Films, durchaus von Sinn, denn die afghanische Migrantenkultur beharrt auch in den USA auf ihrem religiösen und ethnischen Standesdünkel . Die Assimilierung findet nur ökonomisch statt, die eigene Kultur wird in der Enklave nicht befragt. Amir heiratet Soraya und kurz nach der Hochzeit verstirbt Amirs Vater an Krebs.

Der Absturz

2000: Amir wird von Ramir Khan, einem alten Freund seines Vaters, aufgefordert nach Pakistan zu kommen. Dort erfährt er, dass Hassan der illegitime Sohn seines Vaters und einer Dienerin und somit sein Halbbruder ist. Hassan jedoch wurde mittlerweile ein Opfer seiner Zivilcourage: Er und seine Frau wurden von den Taliban getötet. Nur ihr Sohn Sohrab hat überlebt. Ramir Khan bittet Amir, nach Kabul zurückzukehren und Sohrab aus einem afghanischen Waisenhaus zu retten.
Als Amir mit falschem Bart und gekleidet wie ein Taliban die Grenze nach Afghanistan überquert, wird aus dem moralischen Drama, in dessen Kern immerhin auch die politische, religiöse und ökonomische Tragödie der Afghanen ein Platz hat, eine chancenreiche Allegorie: Amir wird in Kabul Zeuge einer rituellen Steinigung, die von den Taliban in der Halbzeitpause eines Fußballspiels mit grausamer Härte inszeniert wird. Spätestens an dieser Stelle konnte sich Forster dafür entscheiden, das Private mit dem Gesellschaftlichen zu verknüpfen, sichtbar zu machen, dass die Schuldgeschichte einen historischen Kern besitzt, der Amir möglicherweise keine Seelenfrieden verschaffen kann, aber ihn zu der Erkenntnis führen könnte, dass seine Schuld nicht in den unauslotbaren Tiefen eines Charakterdefizits angesiedelt ist, sondern von Anfang an den sozialen Determinanten seines Milieus geschuldet war.
Stattdessen kippt der Film: Forster entscheidet sich für ein sentimentales Actiondrama und reizt jedes Klischee hemmungslos auf eine Weiseaus, dass den Film in den sicheren und oscar-verdächtigen Hafen des Melodrams überführt. Lächerlich ist nicht nur, dass Sohrab von Taliban verschleppt wurde, die offenbar die islamische Revolution nutzen, um ihre pädophilen Neigungen auszuleben, lächerlich ist auch, dass es ausgerechnet Assef ist, der sich zum talibanistischen Oberbösewicht aufgeschwungen hat und mit Sohrab (Ahmad Khan Mahmidzada in einer denkwürdigen Doppelrolle, mit er als Best Young Actor bei den Broadcact Film Critics Assoziation Awards gewann) nach dem Vater nun auch den Sohn schändet, der (natürlich) in der entscheidende Szene Amir (natürlich) mit einem gezielten Schuss seiner Schleuder rettet. Beiden gelingt die Flucht und nach der gemeinsamen Rückkehr in die Vereinigten Staaten nimmt Amir den Sohn seines toten Freundes in seine Familie auf.

In den aus meiner Sicht trostlosen Schussszenen schlägt Forster einen rührseligen, versöhnlichen Ton an, der sich gemessen an der Sensibilität der einleitenden Sequenz hart an der Grenze des kalkulierten Kitsches bewegt. Damit ist weniger die unvermeidliche Szene gemeint, in der Amir mit dem in sich gekehrten Sohrab erneut den Drachen steigen lässt, sondern die weitgehend von der Kritik unbeachtet gebliebene Szene, in der Amir am familiären Mittagstisch seinen arroganten Schwiegervater zurechtweist, als dieser Sohrab als Hazara herabwürdigt. Man lerne: Ist der Feigling erfolgreich aus dem Kampf zurückgekehrt, so ist Zivilcourage kein Problem mehr.
Bringen wir es auf den Punkt: Diese Zuckergussvariante ist aus meiner Sicht ein ziemlich unsäglicher Kompromiss mit dem Gebot der Kasse. Dabei ist mir persönlich herzlich egal, ob es sich um ein Adaptionsproblem handelt oder nicht. Es scheint so, als wäre im zurückliegenden Kinojahr das komplette Scheitern der politisch intendierten Filme an den amerikanischen Kinokassen der entscheidende Warnschuss für einige Regisseure gewesen.
An Kino, das aussöhnen will, sind wir gewöhnt – als Kritiker muss man da nicht unbedingt mit dem Hammer zuschlagen. Bei einem Film, der ungewöhnlich gut und intelligent beginnt und dann so kläglich endet, allerdings schon.

Pressespiegel
„Der Film ist berührend, aber er verweigert sich mit seiner Sentimentalität der vollen Härte der Realität“ (Christoph Schneider, Tages-Anzeiger, Schweiz).
"Drachenläufer ist … ein symbolischer Sieg über das einstige Bilderverbot der Taliban. Und auch wir können uns jetzt ein vielschichtigeres Bild von jenem zerrissenen Land machen. Das ganz große Epos freilich ist nicht daraus geworden“ (Peter Zander, Berliner Morgenpost).
„Was der Kinoadaption fehlt, ist die psychologische Tiefe der Persönlichkeitsdarstellungen sowie die Deutlichkeit und Schärfe, mit der im Roman Rassismus und Fanatismus angeprangert werden… Auch anderes erscheint geschönt auf der Leinwand, so dass der Film im Vergleich zum Buch insgesamt doch etwas weichgespült wirkt“ (Ralph Umard, epd-Film).
„Woran Drachenläufer neben der Tendenz zum exotischen Melodram aber am meisten krankt, ist das Unvermögen, zu berühren…Was Drachenläufer fehlt, ist das Gefühl, Anteil zu nehmen, und so wirken viele Szenen, die das Grauen der Flucht oder den Horror der Fremdherrschaft durch die Taliban versinnbildlichen sollen, nur wie eine Aneinanderreihung von Alptraumbildern, die in den schwächsten Momenten des Films sogar zur Peinlichkeit verkommen“ (Marieke Steinhoff, SCHNITT).
„Die rührselige Geschichte geht ans Herz, und ganz nebenbei bekommen die bildungsbeflissenen und politisch interessierten Bürger des westlichen Kulturkreises eine garantiert leichte Dosis Afghanistan-Konflikt, die das Bewusstsein für die Krise am Hindukusch schafft, ohne allzu sehr mit Realismus zu verstören. Mehr kann Hollywood nicht, mehr will es meistens nicht“ (
Andreas Borcholte, SPIEGEL).

Noten: Mr. Mendez = 3, Melonie = 3, BigDoc = 2,5 (wegen des starken Beginns)