Freitag, 19. Dezember 2025

The Tower I – II -Serienperle mit Verspätung

ARTE hat mit zwei Staffeln der britische Mini-Serie „The Tower“ wieder eine qualitativ überragende Serie in der Mediathek aufgenommen. Neu ist sie nicht. Die erste Staffel ging bereits im November 2021 bei ITV an den Start. Die Fälle, die von den Ermittlern gelöst werden müssen, spiegeln den alltäglichen Horror wider: häusliche Gewalt, sexuell missbrauchte Schülerinnen, scheinbar banale Streitigkeiten mit den Nachbarn – alles führt zu einer Spirale von Gewalt und Mord.

Aber auch zu Cops, die nach eigenen Regeln handeln. Keine neues Thema, aber „The Tower“ erzählt dies realistisch, klischeefrei und daher ziemlich deprimierend. Denn Helden und Schurken gibt es in der Serie nicht. „The Tower“ gehört denk dieser subtilen Tonalität mit zum Besten, was bei uns aktuell im Genre Cop-Film zu sehen ist. Leider mit erheblicher Verspätung. Die dritte Staffel wurde im September 2024 erneut bei ITV gezeigt und wird hoffentlich bald einen Weg nach Deutschland finden.

Substanz und Authentizität

Was die Serie von Patrick Harbinson (Autor, Executive Producer) von anderen Genreprodukten unterscheidet? Harbinson braucht nicht viele Episoden, um die Geschichten zu erzählen. „The Tower“ hat drei ca. 50 min lange Episoden, “The Tower II: Death Message” hat vier, die letzte Staffel „The Tower III: Gallowstree Lane“ schafft es in drei Episoden - nämlich geerdete, aber keineswegs unkomplizierte Crime Plots mit starken Charakterstudien zu erzählen. 

Alle Staffel basieren auf den von der Kritik gefeierten Romanen von Kate London, die selbst Detective im Metropolitan Police Service war, bevor sie den Dienst quittierte, um Schriftstellerin zu werden. Ihre Erfahrungen garantieren Substanz und Authentizität, Eigenschaften, die auch in Patrick Harbinsons Adaption konsequent umgesetzt wurden.

Im Mittelpunkt der ersten Staffel stehen Detective Sergeant Sarah Collins (Gemma Whelan, „Game of Thrones“) und ihr Partner Detective Constable Steve Bradshaw (Jimmy Akingbola, „Ted Lasso“). Die beiden werden in Southeast London zum Portland Tower gerufen, wo sie zwei Tote finden, die vom Dach des Hochhauses gestürzt sind. 
Es sind Farah Mehenni (Lola Elsokari), eine junge syrische Frau, die mit ihrem Vater Younes (Nabil Elouahabi, „His Dark Materials“) nach England geflüchtet ist, und der Police Constable Hadley Matthews (Nick Holder). Auf dem Dach findet der lokale Polizeichef Kieran Shaw (Emmett J. Scanlan; „Guardians of the Galaxy“) seine verstörte Kollegin PC Lizzie Adama (Tahirah Sharif), die einen fünfjährigen Jungen in den Armen hält. Und der wurde offenbar von Farah entführt. 

Loyalität und Vertuschung 

Mysteriös wird der Fall, als die junge Polizistin Lizzie Adama plötzlich von der Bildfläche verschwindet. Sie taucht unter, Collins will sogar eine Fahndung einleiten, gerät aber mit Shaw aneinander, der Lizzie nicht der Öffentlichkeit ausliefern will. Aber es gibt auch andere Gründe.
Aufgebröselt werden sie durch Flashbacks, die sich zeitlich immer mehr dem schrecklichen Finale nähern. Collins findet heraus, dass der bei seinen Kollegen beliebte Hadley Matthews zusammen mit Adama einen alltäglichen Streit zwischen einer Engländerin und ihren syrischen Nachbarn untersuchen sollte. Der erfahrene und sympathische Hadley, der vor einer Beförderung steht, soll allerdings etwas Rassistisches zu Farah Mehenni gesagt haben. Ein Fall für die Sondereinheit für interne Ermittlungen.

In den Flashbacks werden die komplexen Regeln von Loyalität und Vertuschung in der Londoner Polizeieinheit peu à peu aufgedeckt. Sie führten dazu, dass die afro-englische Lizzie Adama als Rookie ihren Kollegen trotz moralischer Bedenken in ihrem Bericht entlastete. Das Problem: Farah hat die übergriffigen Äußerungen auf ihrem Handy aufgenommen. Das Dilemma: Hadley ist kein Rassist, hat sich aber zu einem herabsetzenden Spruch hinreißen lassen. 
Diskriminierung ist als neue Normalität in den Alltag eingesickert - und wird verharmlost, weil alles ganz anders gemeint war. Als dann Kieran Shaw eine Affäre mit der wieder aufgetauchten Lizzie Adama beginnt, wächst der Druck auf die junge Polizistin, während Show alles tut, um 
Farahs Handy verschwinden zu lassen, das von Headly Matthews mittlerweile beschlagnahmt wurde. Das wird von Shaws Frau erledigt, aber nichts ist so, wie es zu sein scheint.

Das Besondere an der Eskalation ist, dass es in der ersten Staffel keine Schurken gibt, sondern ambivalente Figuren, die nicht immer richtig handeln. Gemma Whelan spielt mit einer brillanten Performance die Ermittlerin Sarah Collins als scheinbar sanfte und beherrschte Beamtin. Privat wurde sie von ihrer Lebensgefährtin verlassen, aber zum Glück wird dies in „The Tower“ psychologisch nicht breitgewalzt, was in anderen Krimis oft der Fall ist. Tatsächlich ist sie eine unbeugsame Moralistin, die mit der Gruppenloyalität ihrer Kollegen nichts anfangen kann und sich weigert, den Anweisungen ihrer Vorgesetzten zu folgen. Die haben kein Interesse an weiteren Ermittlungen. 

Jimmy Akingbola spielt ihren Partner Steve Bradshaw als cleveren und unkonventionellen Ideengeber, erhält aber insgesamt zu wenig Screentime, um der Figur die erforderliche Tiefe zu geben. Am Ende wird es in einer Schlüsselszene ausgerechnet Bradshaw sein, der Lizzie Adama davon überzeugt, dass sie lügen muss, um ihren Job zu behalten und der Polizei nicht zu schaden. Damit hintergeht er seine Partnerin Sarah Collins.

Ambivalent sind auch die anderen Figuren. Emmett J. Scanlan spielt den Kieran Shaw als kompetenten Anführer, der sich kompromisslos vor seine personell überlasteten Untergebenen stellt. Um sie zu schützen, handelt er nach eigenen Regeln, ohne die katastrophalen Folgen einschätzen zu können. 

Tahirah Sharif emotionalisiert die moralischen Dilemmata der unerfahrene Berufsanfängerin Lizzie Adama sehr überzeugend. Die Tragik: Lizzie versprach Farah unbedingte Unterstützung, kann das Versprechen aber nicht einhalten. Dieser Vertrauensbruch ist für Farah aber ein Angriff auf ihren Ehrencodex: es ist dieser Clash of the Cultures, der am Ende dazu führt, dass zwei Menschen in den Tod stürzen werden.

Die zweite Staffel hält den hohen Level

Die erste Staffel war kein Procedural, wie einige Kritiker vermuteten. Auch in der zweiten Staffel werden trotz neuer Fälle die Verstrickungen um das Drama auf dem Portland Tower immer wieder eine Rolle spielen und vermutlich erst in der dritten und letzten Staffel ein Ende finden. 
In „The Tower II: Death Message” hat sich Collins erfolgreich um einen Posten bei der Homicide Division beworben, wird dort aber mit einem Cold Case zunächst in die Ecke geschoben. Es geht um ein junges Mädchen, das vor mehr als zwei Jahrzehnten spurlos verschwand. Der scheinbar unlösbare Fall entpuppt sich als eine Serie von sexuellen Missbrauchsgeschichten: Eine Reihe von jungen Mädchen wurden von ihrem Musiklehrer manipuliert und missbraucht. Eins kam ums Leben und der inzwischen landesweit populäre Musiker steht ganz oben auf Collins Liste. 

Aber Sarah Collins wird auch in einen anderen Fall involviert. Es geht um häusliche Gewalt und einen psychopathischen Mann, der seine Frau regelmäßig krankenhausreif schlägt. Die zuständigen Polizisten können nicht verhindern, dass das Opfer totgeschlagen wird und der Täter mit seinem Kind flieht, dabei aber so clever agiert, dass er sich immer wieder seinen Verfolgern entziehen kann.

Auch in „Death Message“ legt sich Collins mit ihrem Chef an, kann aber in beiden Fällen konkrete Ergebnisse liefern und macht sich in der Homicide Division damit unentbehrlich. Da das Tower-Drama und seine Folgen immer noch eine Gefahr für Shaw und Adama sind, tauchen diese Figuren ebenso wie Steve Bradshaw in Staffel 2 wieder auf. 

Während Adama immer größere Risiken eingeht und beinahe ums Leben kommt, steht Shaw vor einem Karrieresprung. Er soll eine Spezialeinheit leiten, die einen der führenden Köpfe des organisierten Verbrechens ausschalten soll. Was Shaw nicht weiß: Seine Frau Mary (Laurie Delaney) ahnt, dass ihr Mann sie mit Lizzie Adama betrügt und zerstörte Farahs Handy. Nun kann sie ihren Mann jederzeit beruflich vernichten.

Wie es weitergeht, könnte man in Staffel 3 erfahren – wenn sich ARTE oder ein anderer Streamingdienst die Lizenz besorgt. Alles andere wäre unerfreulich, denn die beiden ersten Staffeln überzeugten durch spannende Crime Plots, deren wichtigster nicht restlos aufgeklärt wurde. Auch das Pacing ist nicht überdreht. Eine hyper-komplexe Erzählung wie zum Beispiel in der Serie „Will Trent“, wurde nicht konstruiert. Die Fälle sind kompliziert, erzähltechnisch ist alles aber nachvollziehbar.

Patrick Harbinson arrangierte die Geschichten mit mittlerem Tempo. Die Kameraarbeit von Anna Patarakina, Ashley Barron und Tasha Back nutzt dies für einen Blick auf die unterschiedlichen Milieus der Stadt. Gedreht wurde auch in Liverpool und Manchester, überwiegend mit offenen Einstellungen. Close-ups kommen selten vor. 

Soziale Themen werden by the way und auf intelligente Weise aufgriffen. Nicht programmatisch, sondern beobachtend. Dass die Kleinfamilie Mehenni nicht so gut mit ihrem Müll umgeht, wie es ihre Nachbarn tun, ist der Ausgangspunkt einer absurden Eskalation. Die 
Mehennis haben Angst, von ihrer Nachbarin aus ihrer Wohnung vertrieben zu werden. Zuvor lebten sie zwei Jahre lang im Lager. Prompt zerkratzt Farahs Vater das Auto der bösen Frau von neben an. Die ruft die Polizei und alles läuft aus dem Ruder.

Hervorragend ist Gemma Whelan als widerspenstige Ermittlerin in einer Welt, in der man nicht mehr miteinander spricht, eine Polizistin, bei der häufig die Intuition erfolgreicher ist als die kriminalistische Logik. Allerdings nicht immer. Aber das ist auch gut so. Wenn das Interesse an vielschichtigen Figuren wichtiger wird als die Auflösung eines komplizierten Falles, dann hat man garantiert einen guten Krimi gesehen.


Noten:

  • Staffel 1: 1,5
  • Staffel 2: 2


The Tower, The Tower II: Death Message – GB 2021-2023  - 7 Episoden – Buch, Executive Producer: Patrick Harbinson – Regie: Jim Loach (Staffel 1), Faye Gilbert (Staffel 2) – D.: Gemma Whelan, Jimmy Akingbola, Tahirah Sharif, Emmett J. Scanlan, Lola Elsokari, Nabil Elouahabi, Nick Holder u.a.