Dienstag, 13. März 2018

„Annihilation“ - SciFi exklusiv auf NETFLIX

„Auslöschung“ heißt der deutsche Verleihtitel. Wer denkt da nicht an völlige Zerstörung? In der Physik funktioniert Annihilation anders. Wenn ein Teilchen mit einem Antiteilchen zusammentrifft und beide zerstrahlen, verschwinden sie nicht, sondern verwandeln sich in andere Teilchen. Das kommt dem Film von Alex Garland recht nahe.

Alex Garland hat mit „Ex Machina“ einen sehenswerten Film über Künstliche Intelligenz geschaffen. Gut kam der von Oscar Isaac gespielte Schöpfer der KI dabei nicht weg. Garlands bemerkenswerte Studie über den Überlebenswillen einer KI spielte in Räumen, Laboren, weit entfernt vom Tageslicht. Ein etwas klaustrophobischer Film.
In „Annihilation“ wird der Zuschauer in eine fremde Welt versetzt, die sich aus Fragmenten dessen, was sie gewesen ist, und etwas völlig Anderem, Fremden zusammensetzt. Ein Wald, in dem eine fremdartige Vegetation die Herrschaft übernommen hat und im dem Hirsche auftauchen, die statt eines Geweihs wunderschöne Äste mit farbfrohen Blüten tragen. Und dann völlig synchron davonhüpfen. Dort verwandeln sich die Menschen gelegentlich in Pflanzen, aber man weiß nicht so recht, ob das immer geschieht. Denn dort, wo „The Shimmer“ herrscht, gibt es offenbar keine Gesetze.




In der bunten Seifenblase ist alles anders

Irgendetwas ist in einen Leuchtturm nahe der Küste eingeschlagen. Die Behörden haben schnell die wenigen Menschen evakuiert und beobachten nun, wie sich der Wald, der von einer in allen Farben schillernden seifenblasenartigen Substanz eingehüllt wird, verändert. Er expandiert auch. Irgendwann wird er Städte verschlingen, vielleicht unseren ganzen Planeten. Wer hineingeht, kommt nicht zurück. Man weiß nicht, warum. Aber einiges spricht dafür, dass die Mitglieder der Explorationsteams wahnsinnig werden und/oder sich umbringen. Die wunderschöne Seifenblase haben die Behörden trotzdem „Shimmer“ genannt. Auf Deutsch heißt das „Schimmer“ und das ist nicht ganz so schön wie das Wort Seifenblase.

Natalie Portman spielt in „Annihilation“ die Zellularbiologin Lena. Früher war sie auch Soldatin bei der US-Army. Sie kann also schießen, muss sie dann auch. Zusammen mit vier anderen Wissenschaftlerinnen wird sie von der etwas mysteriösen Organisation Southern Reach in den Wald geschickt, um dort den Leuchtturm zu untersuchen und Daten zu sammeln. Nach Möglichkeit sollen alle überleben. Mit anderen Worten: es ist Himmelfahrtskommando.
Alle haben ihre eigenen Motive, um in den „Shimmer“ zu gehen. Lena will dies, weil ihr Mann Kane, ein Elitesoldat, auch dort gewesen ist. Und er ist der Einzige, der jemals zurückgekehrt ist. Allerdings in einem miserablen Zustand, er kollabiert. Gewaltsam wird er in das Southern Reach-Zentrum gebracht, ein Überleben ist unwahrscheinlich.
Alex Garland erzählt die Vorgeschichte in langen Flashbacks. Nun aber bricht Lena zusammen mit der Psychologin und Teamleiterin Dr. Ventress (Jennifer Jason Leigh), der Physikerin Josie (Tessa Thompson), der Geologin Cass (Tuva Novotny) und der Sanitäterin Anya (Gina Rodriguez) auf, um der Area X genannten Region ihr Geheimnis zu entlocken.



Magische Evolution

„Annihilation“ basiert auf dem gleichnamigen Sci-Fi-Roman von Jeff VanderMeer, der sich auch in anderen Büchern dem Magischen Realismus verschrieben hat. Das kennt man eigentlich aus der Kunstgeschichte, aber auch in der fiktionalen Literatur gibt es dies: reale Wirklichkeit und magische Gegenwelten prallen aufeinander, Halluzinationen und Träume stellen eine neue Erfahrungsebene her.
Oft dringt auch das Wunderbare in unsere Realität ein, aber „The Shimmer“ scheint anders zu funktionieren. Eigentlich ist er ein grauenhafter Ort, in dem Monster auftauchen. Zum Beispiel ein Alligator, der im Maul Haifischzähne trägt. Und auch eine grässliche Kreatur, die womöglich ein Bär gewesen ist und nun die Fähigkeit besitzt, die Stimmen der Opfer nachzuäffen, die er zuvor gerissen hat. Mit anderen Worten: im magischen Wald schaltet und waltet etwas, das völlig anders als unsere irdische Evolution funktioniert. 


Alex Garland zeigt dies exemplarisch unter dem Mikroskop: dort sieht man eine uns bekannte Zellteilung – eine Zelle kopiert sich. Nichts ändert sich. Zellen, die dem „Shimmer“ ausgesetzt sind, teilen sich auch, aber es entsteht instantan etwas völlig Neues. Es ist ein evolutionäres Gegenprogramm. In der irdischen Evolution verändert sich die Morphologie einer Spezies durch Mutationen, deren Gen-Code nur dann erfolgreich durch Fortpflanzung vererbt werden kann, wenn er Überlebensvorteile bietet. Allerdings kennt unsere Biologie auch Mechanismen, die nicht auf Selektion basieren, zum Beispiel Gendrift oder Genshift, zufällige und spontane Veränderungen des Genpools. So kann aus einem Grippe-Virus per Genshift plötzlich ein tödlicher Erreger entstehen, der eine weltweite Pandemie auslöst. Und so stellt sich die Frage, ob in Area X etwas geschieht, was für den Planeten Erde eine Krebserkrankung ist, für die Aliens aber möglicherweise eine fortgeschrittene Form der Existenz. Vielleicht sogar die einzig denkbare.



Zu schlecht fürs Kino, gut genug für NETFLIX?

Im „Shimmer“ sind spontane Mutationen offenbar Naturgesetz geworden, nur geschieht alles rasend schnell und der Verdacht liegt nahe, dass auch die Zeit in der Area X anderen Gesetzen unterliegt. Alex Garland hat aus dieser Kernsituation einen mysteriösen Film entwickelt, der seinen Zauber daraus gewinnt, dass er in schönen Bildern schwelgt, aber immer mysteriöse bleibt und uns mehr verschweigt als erzählt. 

Da war auch VanderMeers Southern Reach Trilogie nicht anders – der Leser wurde pausenlos mit neuen Rätseln konfrontiert. VanderMeers Trilogie wurde 2014 in schneller Folge auf den Markt geworfen, innerhalb von acht Monaten. Eine Strategie, die Margaret Wappler in der Los Angeles Times „Netflix-inspired“ nannte. 
Jeff VanderMeer wurde schnell zum Star der literarischen Szene und landete mit Teil 2 und 3 auf der Bestseller-Liste der New York Times. Und ein Scherz des Schicksals wollte nun, dass die Verfilmung des ersten Teils des Netflix-inspirierten Autors tatsächlich bei Netflix landete. 


Es war aber ein grausamer Scherz, denn Paramount Pictures ging nach desaströsen Sneak Previews geradezu schändlich mit Alex Garlands Film um. Producer und Co-Finanzier Dave Ellision (verantwortlich für ‚Meisterwerke‘ wie „Geostorm“, aber auch für Filme wie „Mission: Impossible – Rogue Nation“ oder „Star Trek Beyond“) bezeichnete „Annihilation“ als zu intellektuell. Darüber hatten sich vermutlich auch die Zuschauer bei den Previews beklagt. Co-Producer Scott Rudin, der mit Garland bei „Ex Machina“ zusammenarbeitete, stellte sich hinter den Regisseur. Das Ergebnis: „Annihilation“ wird begrenzt in den USA, dazu auch in Kanada und China in den Kinos zu sehen sein, während NETFLIX den Science-Fiction-Film in allen anderen Ländern „on demand“ anbietet.
 

Angeblich hat NETFLIX 50 Mio. US-Dollar für „Annihilation“ hingeblättert. Es ist nach dem völlig missratenem „The Cloverfield Paradox“, den man als einen der schlechtesten Filme der Filmgeschichte bezeichnen kann, der zweite Deal mit Paramount. Und es ist der Versuch des Streaming-Anbieters, endlich auch im Filmgeschäft qualitativ zu punkten.

Dies sorgte bei den Kritikern für wenig Heiterkeit, denn es drohte immerhin, dass an dem neuen Film von Alex Garland, dem neuen Shooting-Star, kräftig herumgeschnippelt wird. Das passierte dank NETFLIX nicht. Der Verrat am Kino stieß sauer auf und vielleicht auch deswegen wurde „Annihilation“ als neues Meisterwerk und als einer der wichtigsten Filme der Dekade bezeichnet. Und das natürlich auch in einem Atemzug mit den üblichen Verdächtigen: Stanley Kubrick „2001 – A Space Odyssee“, Stanislaw Lems Roman „Solaris“ oder Ridley Scotts „Blade Runner“. 

Am ehesten könnte Andrej Tarkowskijs „Stalker“ (1979) genannt werden, dessen religiös-poetische Visionen allerdings dezidierter waren. In „Stalker“ bringt ein geheimnisvoller Führer zwei Kunden in ein verbotenes Sperrgebiet und dort zum „Raum der Wünsche“, in dem das geschieht, was sein Name verspricht. In Tarkowskijs Film wird den Menschen bei der Reise durch das Niemandsland ein Spiegel vorgehalten, eine existenzialistische Parabel über das Scheitern. In „Stalker“ werden die Menschen nämlich mit der Hinterlassenschaft von Außerirdischen konfrontiert, Gegenstände, die sich als nützlich oder tödlich erweisen, benutzt, aber nie richtig verstanden werden.



Wer rauskommt, ist nicht der, der reingegangen ist

„Annihilation“ ist trotz seiner überragenden ästhetischen Qualitäten und der virtuos umgesetzten Aura des Geheimnisvollen längst nicht auf dem Niveau des mystischen Russen angelangt. Von Stanislaw Lem, der wirklich intellektuelle Science-Fiction geschrieben hat und den nicht einmal Tarkowskij angemessen verfilmen konnte, trennt ihn die Luzidität der Fragestellung, von Kubrick die formale Logik. Und Vergleiche mit Ridley Scott sind albern. Auch mit „Arrival“ kann Garlands Film nicht verglichen werden, jenem überragenden Narrativ, das schlüssig mit seinem Thema umging.

Auch Jeff VanderMeers Trilogie ist trotz ihrer Popularität nicht wirklich originell. Ähnliches gab es im vergangenen Jahrhundert bereits in der sogenannten „New Wave“ des literarischen Science-Fiction-Genres. Und selbst ein Veteran wie Clifford Simak hat 1965 in „All Flesh is Grass“ von einer Schutzzone erzählt, in der die Aliens sich in Gestalt von Blumen niederlassen.

„Annihilation“ ist dagegen ein Rätselfilm, der von der stimmigen Musik von Ben Salisbury und Geoff Barrow und von seinen ‚Leerstellen‘ lebt, jenen Konstruktionen in einer fiktiven Erzählung, in der die Leser alles, was durch Perspektivwechsel und überraschende Wendungen, aber auch durch Weglassen von Informationen rätselhaft erscheint, ergänzen und interpretieren müssen. Und so tauchen auch in Alex Garlands Films die berühmten „Doppelgänger“ aus Jeff VanderMeers Trilogie auf, die die Lust an der phantasievollen Deutung erst recht stimulieren. Doch auf welcher Grundlage? 

Kyle Smith schrieb vor einigen Wochen im
„National Review“: „In the end, the viewer is left to judge for himself exactly what has happened and what it means. Making movies steeped in vagueness these days is proving to be an excellent way to earn critical praise, but being artfully ambiguous strikes me as a way to cover for not being able to finish the job“ (Am Ende muss der Zuschauer selbst entscheiden, was passiert und was alles bedeutet. Wenn man heutzutage Film macht, die in Unklarheiten eingetaucht werden, scheint dies ein ausgezeichneter Weg zu sein, um von den Kritikern bejubelt zu werden. Aber diese kunstvolle Mehrdeutigkeit scheint stattdessen die Unfähigkeit verschleiern zu wollen, dass man den Job nicht richtig erledigt hat).

Das ist hart, aber nicht unwahr. Eine Regel kennt  „Annihilation“ aber auf jeden Fall: Wenn schon mal etwas aus Area X herauskommt, so ist es garantiert nicht das, was zuvor hineingegangen ist. 
Ansonsten ist Regellosigkeit das Prinzip, aber auch im „Shimmer“ verändert sich nicht alles ständig. Die menschenähnlichen Pflanzen, die vor ihrer Verwandlung wohl die Mitglieder eines Erkundungsteams gewesen sind, scheinen ihr Endstadium erreichte zu haben. Auch eine völlig aus dem Ruder gelaufenen außerirdische Evolution scheint den Status Quo zu kennen.

Vielleicht wollte Alex Garland auch mit dem, was er aus VanderMeers Romanen extrahiert hat, zeigen, dass es ein evolutionäres Gegenkonzept zu uns sterblichen Wesen gibt. Wir sterben, weil uns die Evolution den Zelltod einprogrammiert hat. Was passiert, wenn wie den Schalter umlegen und uns nicht zellular reproduzieren, sondern permanent verändern? Tatsächlich gibt es bereits unsterbliche Zellen, die wir in der Petrischale züchten. Die sogenannten HeLa-Zellen wurden allerdings den Epithelzellen eines Karzinoms entnommen. Auch ein grausamer Scherz. 

Vielleicht geht es auch um Alien-Intelligenz und die Vorstellung, dass fremde Intelligenzformen möglicherweise frei von Intentionalität und sich zudem ihrer selbst nicht einmal bewusst sind.

So schnell werden wir es nicht herausfinden, denn „Annihilation“ sieht schön aus, schweigt aber. Etwas unterscheidet ihn nicht von anderen Filmen des Genres: das Fremde wird am Ende plattgemacht. Und der finale Plot Twist? Der zeigt prompt, dass dies nicht stimmt. 
Vielleicht finanziert NETFLIX ja eine Fortsetzung.


Im Filmclub löste der Film Irritation und Unverständnis aus. Ich selbst gab dem Film eine Zwei – wegen der schönen Bilder.
 

Noten: BigDoc = 2, Klawer, Melonie = 3,5
 

Annihilation (dts. Auslöschung) – USA 2018, Paramount, Netflix – Regie, Buch: Alex Garland – Musik: Ben Salisbury, Geoff Barrow – Kamera: Rob Hardy - Laufzeit: 115 Minuten – D.: Natalie Portman, Jennifer Jason Leigh, Oscar Isaac u.a.