Dienstag, 8. November 2011

Source Code


USA / Frankreich 2011 - Regie: Duncan Jones - Darsteller: Jake Gyllenhaal, Michelle Monaghan, Vera Farmiga, Jeffrey Wright, Michael Arden, Cas Anvar, Russell Peters, Brent Skagford, Craig Thomas, Gordon Masten, Susan Bain - FSK: ab 12 - Länge: 93 min. - Start: 2.6.2011

Kurz vor Chikago fliegt ein Personenzug in die Luft: ein Terrorakt, dem angeblich weitere folgen sollen. Und plötzlich wacht der Hubschrauberpilot Colter Stevens (Jake Gyllenhaal) in einem Zug auf (es ist DER Zug) und sitzt einer hübschen jungen Frau gegenüber, die ihn als eine Person anspricht, die er nicht ist.
Stevens weiß nicht, warum und wie in diese Situation gekommen ist. Ein Blick in den Spiegel verrät zudem, dass sein Bewusstsein sich offenbar in dem Körper eines anderen Mannes befindet. Es bleibt kaum Zeit, sich an den Schock zu gewöhnen und schon fliegt dem kampferprobten Soldaten der Zug um die Ohren. Er ist tot.
Das, was nun folgt, ist kaum besser: Stevens erwacht in einem Tank. Ein Monitor ist die einzige Möglichkeit mit der Außenwelt zu kommunizieren, aber er sieht dort nur den weiblichen Air-Force-Captain Coleen Goodwin (Vera Farmiga), der keineswegs zur Aufklärung beiträgt und ihn ihn ohne viel Federlesen zurück in den Zug schickt, wo sich alles zu wiederholen scheint.

Die Rätsel der Quantenphysik
Nein, Source Code ist kein Film über das ‚Leben nach dem Tod’ und es ist kein erneuter Beitrag zum Thema ‚Virtuelle Welten’. Nein, Duncan Jones’ Film ist vielmehr eine spekulative Abhandlung über die metaphysischen und ethischen Konsequenzen der Quantenphysik, genauer gesagt: der Many-Worlds-Interpretation (dts. Viel-Welten-Theorie) des Physikers Hugh Everett, die wiederum auf einer bestimmten, kontrovers diskutierten Deutung der so genannten Kopenhagener Deutung basiert. Und die wiederum beschreibt quantenmechanische Überlagerungszustände und unter anderem die Folgen, die eintreten, wenn man sie messen versucht.
Kollaps oder Konstanz? Zustandsbeschreibung oder doch reale Welt?
Wenn Everett Recht hat, dann existiert neben dem uns bekannten Kosmos eine schier unendliche Anzahl von Parallelwelten, wobei einige der unseren bis auf Nuancen ähnlich sind und in anderen Adolf Hitler den Krieg gewonnen hat.

Sie verstehen nur Bahnhof? Ja, das ist verständlich, denn die Quantenphysik versteht trotz verzweifelt bemühter populärwissenschaftlicher Werke möglicherweise nur eine Handvoll Menschen auf diesem Planeten, obwohl mittlerweile fast ein Drittel unser avancierten Technologien ohne die Postulate der Quantenphysik nicht funktionieren würden. Auch die Interpretation des vermeintlichen Paradoxons von „Schrödingers Katze“, die in einem Tank durch eine bestimmte Versuchsanordnung eine Fifty-Fifty-Chance hat, nämlich tot oder lebendig zu sein, wird nur selten verstanden. Die Idee, dass man als Beobachter über ihr Schicksal entscheidet, wenn man in den Tank schaut, wird häufig als empirischer Versuch interpretiert, während das berühmte Beispiel doch eigentlich nur aufzeigen will, dass die Katze beides zugleich ist – nämlich tot und lebendig, aber eben nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit.
So ein Thema ist im US-amerikanischen Kino an sich der Tod des Autors und seines Regisseurs, denn immer noch gilt, dass Filme narrativ und inhaltlich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, also den dümmsten anzunehmenden Zuschauer, heruntergebrochen werden müssen. So betrachtet grenzt es schon an ein Wunder, dass Duncan Jones seinen Film überhaupt machen durfte.

Schrödingers Katze meets „Und täglich grüßt das Murmeltier“
In Source Code begnügt sich Drehbuchautor Ben Ripley mit einigen sehr vagen Hinweisen auf eine neue Technik, die an dem Afghanistan-Veteranen Stevens ausprobiert wird: eine besondere Forschungseinheit der Army hat unter den Toten, die dem Anschlag zum Opfer gefallen sind, einen ‚kompatiblen’ Körper gefunden, dessen Gedächtnis-Engramme es mit einigen quantenmechanischen Tricks erlauben, Stevens in die letzten acht Minuten vor der Detonation zu versetzen, den so genannten Source Code. Dort soll er den Täter finden und nicht etwa das Unglück verhindern, denn die Opfer sind tot und die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen.
Von nun an befindet sich Colter Stevens in einer Situation, die wir aus Und täglich grüßt das Murmeltier kennen: er weiß bei jedem Eintauchen in die acht Minuten immer mehr über die Ereignisse, die aber erstaunlicherweise in kleinen Nuancen voneinander abweichen. Mal findet er die Bombe, ist aber kurz danach tot. Und mal findet er einen falschen Täter und auch das hat fatale Folgen. Nur einmal gelingt es ihm, die hübsche junge Christina (Michelle Monagham) zu retten, aber das ist, so bedeuten ihm seine Auftraggeber, letztlich irrelevant.

Ähnlich wie in Moon, dem viel beachteten ersten Film von Duncan Jones, entfaltet sich in Source Code erneut das Schreckenspanoptikum einer depravierten Lebensform, die mehr ist als sie zu glauben weiß und die für andere nur verfügbare Biomasse ist. Sie hängt, obwohl sie fühlt und denkt und leidet, wie eine Marionette an den Fäden inhumaner Strippenzieher, die ihr Opfer zum Objekt erklären und zu einer verdinglichten Existenz verdammen. Der Weg zurück in das, was wir Menschsein nennen, besteht bei Jones allemal darin, das Singuläre der eigenen Existenz anzunehmen und das Beste daraus zu machen. Viel Raum für 08/15-Moral lässt dies nicht.

Die Physik ist in Source Code kein McGuffin
Das Besondere an Source Code (den man vermutlich mehr als einmal sehen muss, um den raffinierten Plot wirklich in seiner ganzen Ambivalenz zu verstehen) ist der Umstand, dass der Kinogänger etwas über Quantenphysik verstehen muss. Diese ist nicht ein McGuffin oder eine leere Worthülse wie in anderen Filmen des Sci-Fi-Genres, sondern die conditio sine qua non, ohne die keine Logik beim Betrachten entsteht.
In Source Code glauben die verantwortlichen Wissenschaftler, dass sie kaum mehr als eine Simulation betreiben, die auf ihren informativen Gehalt geprüft werden kann. Tatsächlich aber landet Colter Stevens immer wieder in Paralleluniversen, die real sind und in dem die Menschen wie auch der Körper von Stevens Alter ego real sterben, nur dass Stevens immer wieder per Reset aufs Neue in ein anderes Paralleluniversum geschickt wird, in dem sich alles auf ähnliche oder besser gesagt: auf wahrscheinlich gleiche Weise wiederholt.
Dass die Rückkehr in einen Tank tatsächlich eine Illusion, ein Fake ist, bildet die perfide Spitze des Eisberges, denn Stevens selbst ist bereits selbst bei einem Einsatz in Afghanistan gestorben, während die Reste seines Körpers künstlich am Leben erhalten werden, damit seine noch vorhandenen Hirnströme den Weg in eine andere, nur probalistisch zu beschreibende Realität finden.

Und da Kino keine Handreichung à la ‚Per Anhalter durch die Quantenphysik’ ist, sondern handfeste moralische und emotionale Konflikte benötigt, besteht die Quintessenz in Source Code darin, dass der sehr empathische Held am Ende die Versuchsanordnung besser versteht als seine gefühlskalten Schöpfer: Es war keineswegs irrelevant, die Opfer des Anschlags zu retten und am Ende ist es die instinktive moralische Integrität des Helden und seine messerscharfe Intuition, die ihm das Leben retten und ihn – so will es das Kino – am Ende auch die Frau erobern lässt, wobei ähnlich wie ihn Matrix der lange finale Filmkuss wieder einmal metaphysisch als Erlösung fungiert und den kalkulierenden Verstand in die zweite Reihe verweist. Aber das ist ein anderes Thema.

Thriller mit einigen Schwächen
So gesehen ist Source Code ein Film, der trotz der intellektuellen Raffinesse seines Plots einige handfeste Standardformeln benutzt, die man als ärgerlich oder als notwendiges Zugeständnis an das breite Publikum betrachten kann. Sie erlauben es, dass man den Film sehr emotional und auch durchaus legitim einfach nur als Thriller konsumieren kann. Und als solcher funktioniert Duncan Jones’ Film durchaus passabel, aber nicht immer gelungen.
Leise Kritik kommt auf, wenn man sich die Nebenfiguren genauer anschaut: Während Vera Farmiga Stevens’ primäre Bezugsperson durchaus glaubwürdig verkörpert, lässt ihr das sehr auf den Kernplot konzentrierte Script wenig Raum, um wirklich eine interessante Figur zu werden. Dagegen ist der für alles verantwortliche Versuchsleiter Dr. Rutledge (Jeffrey Wright) nicht anderes als das abgegriffene Klischee eines amoralischen ‚Mad Scientist’, der holzschnittartig konturiert wird. Leider gilt diese Nachlässigkeit bei der Figurenzeichnung auch für Christina, die schöne Unbekannte aus dem Zug, bei der das Potential von Michelle Monaghan (Gone Baby Gone) verschenkt wird.
Dies sind keine lässlichen Schwächen, denn Filme fesseln eben nicht dank brillanter intellektueller Spekulationen, sondern durch glaubwürdige und interessante Figuren. Der Rest kommt später. Und so hinterlässt Source Code zwar einen finessenreichen, letztlich sogar bestechend logischen Eindruck, bleibt aber im Umgang mit seinem Personal irgendwie etwas autistisch.

Einstein hat übrigens nicht besonders viel von Quantenphysik gehalten. Dass sich im Mikrokosmos Dinge nur noch im Rahmen von Wahrscheinlichkeitsaussagen beschreiben lassen, erschien dem an einen deterministischen Kosmos glaubenden Genie als uneleganter Gedanke („Gott würfelt nicht“), aber wenn der Zuschauer trotz dieser Vorbehalte einige essentielle Grundaussagen der Quantenphysik und der Stringtheorie kennt, wird er mehr als nur ahnen zu können, wie der Source Code funktioniert und dass sich hinter Duncan Jones’ faszinierender Fiktion letztlich die Frage verbirgt: Was ist eine Person?

Noten: der Film hinterließ im Filmclub gespaltene Fraktionen. Einzelne Statements zeigten deutlich, dass der Plot tatsächlich ohne einige Grundkenntnisse der Quantenphysik unverständlich bleibt oder falsch interpretiert wird. Auch der Verfasser dieser Zeilen konnte sich nur nach längerem Nachdenken dazu durchringen, seine spontan vergebene Note etwas aufzuwerten, Source Code ist eben ein Film mit Haken und Ösen.

Noten: Melonie, Mr. Mendez = 4, Klawer, BigDoc = 3

Vorgestellt wurde der Film auf Bluray. Im Gegensatz zu den euphorischen Kommentaren in einschlägigen Foren waren bei der KINOWELT-Edition leider erhebliche Mängel zu verzeichnen: das Bild ruckelte regelmäßig und der Schwarzwert begann in den dunklen Szenen grobflächig zu flackern. Insgesamt konnte das Bild aber durch exzellente Schärfe und gute Kontraste überzeugen, die allerdings die ärgerlichen Schwachpunkte nicht auszubügeln vermochten.