Samstag, 26. Januar 2019

Roma

Alfonso Cuaróns bildmächtige Reise in die eigene Kindheit gehört zu aussichtsreichsten Kandidaten für mehr als einen Oscar. Sollte es dazu kommen, wäre dies ein verblüffender Triumpf des Autorenkinos. „Roma“ ist eine Hommage an Cuaróns Kindheit in Mexico. Das Erinnerte wird nicht einfach bebildert, der Film will auch ein ästhetisches Programm sein.
„Roma“ wurde bereits bei den Golden Globe Awards als Bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet. Alfonso Cuarón („Children of Men“, 2006, „Gravity“, 2013) erhielt zudem die Auszeichnung als bester Regisseur. Das waren längst nicht alle Preise, den Goldenen Löwen von Venedig gab es auch, der Zuspruch überraschte auch nicht. 


Szenen einer Kindheit

In „Roma“ inszeniert Cuarón eine Liebeserklärung an seine Kindheit in Mexiko-Stadt in berauschenden und entschleunigten Schwarz-Weiß-Bildern. Cuarón, der das Drehbuch schrieb, hinter der Kamera stand und auch für den Schnitt verantwortlich war, bezeichnete den Film als seinen einzigen, der wirklich autobiografisch ist: „Alle Filme, die ich gemacht habe, auch Gravity, sind auf ihre Weise persönlich, aber eher indirekt. In Roma kommen 90 Prozent der Szenen aus meiner eigenen Erinnerung. Ich reproduzierte das Zuhause meiner Kindheit, ich trug sogar einen Großteil der originalen Möbel zusammen, ich castete die Schauspieler so, dass sie so gut wie identisch mit meiner Familie zu Beginn der Siebzigerjahre wirken - bis hin zur Hauptfigur des Films, dem Kindermädchen Cleo.“

Szenen einer Kindheit können traumatisch sein, man kennt solche Filme. Der kleine Alfonso hatte es besser, seine glückliche Kindheit verdankt er auch seinem Kindermädchen. „Roma“ ist daher eine Rekonstruktion dieser glücklichen, behüteten Welt Anfang der 1970er Jahre. Und das auch, weil die Sozialisation in der wohlhabenden Familie im Stadtteil Roma in zwei Welten stattfindet. Zum einen sind da Sofia (Marina de Tavira) und ihr Mann Antonio (Fernando Grediaga), die zusammen mit ihren vier Kindern und Sofias Mutter Teresa (Verónica García) in einem luxuriösen Anwesen leben. Und dann sind da noch die Dienstmädchen - Cleo (Yalitza Aparicio), das Kindermädchen, und Adela (Nancy García García), die Köchin. Beide gehören zur indigenen Minderheit der Mixteken. Besonders Cleo kümmert sich liebevoll um die Kinder, eine Erfahrung, die Cuarón mit den fiktiven Kindern seines Films teilt.

„Roma“ beginnt unspektakulär, aber autobiografisch geleitet mit Szenen des Alltags. Gedreht wurde überwiegend mit Laiendarstellern. Wäsche wird von den Bediensteten gewaschen, Essen zubereitet, die Kinder spielen im Garten. Es sind Bilder, die fast dokumentarisch sind und sich erst langsam zu einer Geschichte zusammensetzen. 

Dabei triggert der Film durchaus Erwartungen, die man üblicherweise hat, wenn in einem Film das soziale Gefälle auf Klassenschranken hinweist. Cleo und Adela arbeiten rund um die Uhr, teilen sich ein Zimmer und scheinen wenig Freizeit zu haben. Sozialkritisches wird nicht direkt erkennbar und wenn Cuarón später die Elendsviertel der Stadt zeigt, hat man als Zuschauer sogar den Eindruck, dass die beiden Dienstmädchen das bessere Los gezogen haben.
Denn Gewalt ist in „Roma“ immer latent spürbar. Sie ist wie ein Echo von den Straßen, das nur leise in die wohlbehütete Welt der Kinder vordringt, etwa, wenn man Nachrichten im TV sieht oder davon hört, dass ein Kind wegen eines banalen Vorfalls erschossen wurde. Davon wird Cuarón auch erzählen, aber erst einmal richtet sich die Perspektive des Films auf Cleo. Die lernt Fermin (Jorge Antonio Guerrero) kennen, einen jungen Mann, der aus den Slums kommt und asiatischen Kampfsport betreibt. Als Cleo schwanger wird, verschwindet ihr Geliebter. Nun hat sie Angst, ihren Job zu verlieren, aber Sofia zeigt sich solidarisch mit ihrer Angestellten. Aber auch die Hausherrin hat Probleme mit ihrer Beziehung. Bald stellt sich heraus, dass ihr Mann bereits seit langem fremdgeht. Seine Abwesenheit verwandelt sich in ein Faktum: Antonio verlässt die Familie, die nun auf sich gestellt ist.



„Roma“ ist auch ein ästhetisches Diktum

Wenn man die langen Plansequenzen in „Roma“ sieht, fällt einem unwillkürlich André Bazin ein. Der französische Filmkritiker (1918-1958) mag heute vergessen sein, aber Bazins Einfluss auf die Kinotheorie und auch auf die französische Nouvelle Vague ist unbestritten. Bazin war nicht nur Filmtheoretiker und -kritiker, sondern in bester französischer Tradition auch ein brillanter Essayist, der anders etwa Siegfried Kracauer keiner strengen Methodik folgte, sondern ein Autor, der sich in seinen zahlreichen Aufsätzen entfaltete, die immer wieder – quasi evolutionär – unterschiedliche Perspektiven auf das Kino ermöglichten.

Fasst man Bazins zusammen, so ergibt sich eine Mischung aus ontologischen Hypothesen und exzellenten Filmkritiken, die heute die mittlerweile völlig anders sozialisierten Filmstudenten in eine Art von Schockstarre versetzen würde. Anders formuliert: Leicht zu lesen ist er nicht. Trotzdem sollte man es.
Denn Bazin ging es um die Freiheit des Zuschauers. Schlicht auf den Punkt gebracht: der Kinogänger sollte sich im Bild umschauen können und nicht durch die Montage der Bilder gelenkt werden, wie sie bereits in den 1930er Jahren im amerikanischen Studiosystem dank einer standardisierten Szenenauflösung perfektioniert worden war. 

Sich umschauen, das bedeutet: lange, ungeschnittene Einstellungen (Plansequenzen), in denen nicht der Bildschnitt mit Master Shot, Halbttotalen und Gegenschüssen die Ereignisse segmentiert, sondern die Figuren, ihre Beziehung und überhaupt die Handlung räumlich im Bild arrangiert wird. Mise en Scène nannte Bazin dieses ästhetische Programm, das er zum Beispiel in Orson Welles‘ Filme mustergültig umgesetzt sah. In der Praxis bedeutete dies, dass im Vordergrund des Kaders etwas geschah, im mittleren Bereich etwas anders und ganz hinten jemand den Raum betritt. Ohne Schnitt, nur als Arrangement der Ereignisse in den Achsen des Raumes. Natürlich tiefenscharf aufgenommen.


Bazin bewegte sich aber auch zwischen zwei anderen Polen. Einerseits geprägt von der tiefen Verbundenheit zum fotografischen Charakter des Bildes, also seiner realistischen (oder naturalistischen) Natur, andererseits erkennend, dass Kino auch immer einen Illusionscharakter zu erzeugen weiß, Bilder, die aussehen wie die Wirklichkeit, im Kern aber höchst artifiziell sind.
Die Psychologie wurde für Bazin ein Vehikel, dass diesen Riss kitten konnte. Der Zuschauer sollte, befreit von den Fesseln der Montage, (s)eine neue Aufmerksamkeit entdecken. Dass Bazin seine Probleme mit Alfred Hitchcock hatte, dem Meister der Montage, war nicht überraschend. In den Cahiers du cinéma gab es immerhin ein Sonderheft über Hitchcock, den die jungen Regisseure der Nouvelle Vague liebten. Zum Glück war Bazin kein Ideologe, seine wunderbaren Texte blieben immer offen für unterschiedliche Deutungen. Er starb mit 40 Jahren an Leukämie und so verpasste man, was ihm zu
„Psycho“ und zum Kino der 1970er Jahre eingefallen wäre.

Tatsächlich ist André Bazins Rede von der Sprache des Kinos noch etwas komplizierter, als es meine kurze Zusammenfassung erkennen lässt. Man könnte noch einiges darüber schreiben, wie Ingmar Bergman die Mise en Scène genial interpretierte. Aber im Wesentlichen ist Alfonso Cuaróns „Roma“ das beste Anschauungsmaterial fürs Bazins Thesen. Und wenn man will, kann man in „Roma“ durchaus auch an den italienischen Neorealismus erinnert werden, dem sich Bazin ebenfalls nahe fühlte. Dies Sache hat nur einen Haken. Dazu später mehr.



Die Digitalisierung schrottet den Filmrealismus

Kino funktioniert heute anders als vor einem Dreivierteljahrhundert, als Fotografie und Montage die Themen der Filmtheorie maßgeblich beeinflussten. Die Illusionen des Blockbusterkinos haben garantiert keinen Bezug zur Realität, wirken aber mittlerweile genauso realistisch wie die Bilder von tatsächlichen Ereignissen. 

Die Technik wurde entgrenzt. Dinge, die die man mit der hochauflösenden Video-App seines Smartphones machen kann, hätten vor einigen Jahrzehnten professionelle Filmemacher fassungslos gemacht. Steven Soderbergh ist konsequent einen Schritt weitergegangen und hat seinen Film „Insane“ gleich mit einem iPhone gedreht.
Hobbyfilmer, die früher mit einer 8mm-Kamera herumwerkelten, besitzen heute also das technische Potential, einen Kinofilm zu machen. Allein die Ästhetik und die Kunst des Geschichteerzählens setzen ihnen Grenzen.

Alfonso Cuaróns „Roma“ hat ein ästhetisches Programm, erzählen kann der Film auch. „Roma“ ist im positiven Sinne ein visueller Affront, er kollidiert mit all den Bildwelten, die uns im Kino des neuen Jahrhunderts überwältigen. Dort wurde die angestaubte Bluescreen-Technik mittlerweile durch den „Greenscreen“ abgelöst. Die analogen Darsteller stehen vor grünen Leinwänden, die Kulissen werden im digitalen Compositing eingefügt. Der photorealistische Eindruck entsteht dann im Computer, die reale Welt dient bestenfalls noch als Teilkulisse. 

Auch dies bleibt kein Privileg der Profis. Software-Entwickler bei Google ließen bereits die Greenscreen-Technik alt aussehen, als sie von einer KI die Hintergründe von Smartphone-Videos in Echtzeit durch beliebige Hintergründe ersetzen ließ. Das Compositing vollzieht sogar die Kamerabewegung mit. Wie bei jeder technologischen Revolution erkannten die User sogleich den immensen Nutzwert: sie ersetzten die Gesichter von Pornodarsteller durch andere (Face Swaps). Die Geburtsstunde der sogenannten „Deepfakes“ ist der letzte Schritt, um die Magie des Fotorealismus zu zerstören und damit auch alle ästhetischen Programme zu schrotten, die damit verbunden sind.


Die Frage, ob Bazin dies gemocht hätte, ist überflüssig. Nach einer Antwort zu suchen ist es nicht. Hört sich paradox an, ist es aber nicht. Es kommt halt auf die Perspektive an. Auf unsere. „Welche kritischen Einwände wir auch immer haben mögen“ schrieb Bazin in „Die Ontologie des fotografischen Bildes“, einem maßgeblichen Aufsatz aus „Qu’est-ce que le cinéma?“ (Was ist Kino?), „wir sind gezwungen, an die Existenz des repräsentierten Objektes zu glauben, des tatsächlich re-präsentierten, das heißt, des in Zeit und Raum präsent gewordenen. Die Fotografie profitiert von der Übertragung der Realität des Objektes auf seine Reproduktion.“ Mit Ähnlichkeit hat dies nichts zu tun, der wahre Realismus ist „die signifikante Darstellung alles Konkreten und zugleich Essentiellen der Welt“, erklärte Bazin.

Das Essentielle der Welt dürfte auch Cuarón gesucht haben, aber auch die Ähnlichkeit. Aber den mexikanischen Regisseur nur gleich zum Apologeten der Bazin’schen Ästhetik zu erklären, geht aus einem Grund kräftig in die Hose: Alfonso Cuarón hat durchaus Gefallen an den technischen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters gefunden. Bereits in „Children of Men“ ließ er eine Plansequenz drehen, die nicht der Kunst seines Kameramannes Emmanuel Lubezki zu verdanken war, sondern einer aufwendigen mechanischen Konstruktion - und CGI! Tatsächlich setzte sich die Plansequenz aus sechs verschiedenen Takes zusammen, die von einer VFX-Firma perfekt zusammengesetzt wurden (mein Dank gilt der Filmemacherin Friederike Anders, die das herausgefunden hat). Und in „Roma“ wurden nicht nur Straßenzüge, sondern auch Stadtpanoramen mit CGI auf den Stand der 1870er Jahre gebracht. Man sieht: die Realität ist auch nicht mehr das, was sie mal war…



Die Geschichte muss gut sein

Wie auch immer man das Kino betrachtet, über das nach Bazin die Semiotiker, die Strukturalisten und die Konstruktivisten hergefallen sind, es läuft immer auf eins hinaus: entweder findet man sich auf dem Rummelplatz wieder oder in einer Geschichte, in die sich die Realität irgendwie durch die Hintertür eingeschlichen hat. 

In „Roma“ ist das auch der Fall. Der Film erzählt wird nicht durchgehend eine Geschichte über Kindheit und nette Kindermädchen oder über zwei Frauen, die an die unpassenden Männer geraten sind. Das Echo von den Straßen wird lauter, der Lärm der Gewalt ist nicht mehr zu überhören und so wird Cuarón explizit politisch, meinetwegen auch historisch. Denn Cleo, der Fermin nicht aus dem Kopf gehen will, findet hochschwanger den Vater ihres Kindes inmitten eines ruppigen Trainings einer paramilitärischen Einheit. Fermin bedroht Cleo brutal, sie weiß nun, woran sie ist, aber entscheidend ist, dass sie Fermin bald wiedersieht, als dieser in einem Kaufhaus an der Ermordung von zwei Studenten beteiligt ist. Auf den Straßen greifen paramilitärische Einheiten demonstrierende Studenten an, es herrscht Chaos – und Zuschauer, die nicht in mexikanischer Geschichte auskennen, verstehen nur Bahnhof.

Die von Cuarón erzählte Hintergrundgeschichte ist auch die einzige Schwachstelle dieses außergewöhnlichen Films. Was Cuarón zeigen wollte, ist einfach: zu seinen Kindheitserinnerungen gehört eben auch die, die er als Neunjähriger so intensiv miterlebte, dass er sie nicht vergessen konnte: das sogenannte Fronleichnam-Massaker im Jahre 1971, das ein Teil des sogenannten „schmutzigen Krieges“ war, bei dem bis Anfang der 1980er Jahre Tausende Linke, aber auch Arbeiter und Bauern gefoltert und ermordet wurden.
So verständlich Cuarón Bedürfnis ist, diese Gräuel nicht vergessen zu wollen, so fragwürdig ist die Vermittlung dieser Erinnerungskultur für jene, denen der Film kaum hinreichende Informationen über die gezeigten Ereignisse liefert. Es ist eben nicht so, dass sich jeder Kinogänger umgehend in der Wikipedia schlau liest. Auch ich kannte den „Guerra Sucia“ nicht, fühlte aber beim Hinsehen, das der Film an dieser Stelle unschlüssig ist. Einerseits nimmt er die Perspektive Cleos an, die vermutlich keine politisch gut informierte Frau ist, andererseits ist es eine rein pragmatische Notwendigkeit, den historischen Hintergrund eines Ereignisses verständlich zu machen – erst recht in einem Film, der nur in wenigen Kinos zu sehen war und stattdessen von NETFLIX global vermarktet wird. Und das ist wichtiger als die Frage, ob ein Film noch Kino ist, wenn er bei einem Streaming-Anbieter zu sehen ist.

Nachdem Alfonso Cuarón weit die Tür geöffnet und einen Blick auf ein bis heute politisch fragiles Land geworfen hat, bekommt die ästhetische Intimität eines kleinen Familiendramas völlig unerwartet Risse. Es gibt keine friedliche Kindheit mehr, wenn die Welt im Terror versinkt. Und auch die verstörenden Erfahrungen von Cleo und Sofia relativieren sich, wenn in den Straßen Tote liegen.
„Roma“, und das ist die Stärke des Films, marginalisiert die deprimierenden Erfahrungen der Frauen zwar nicht, stellt sie aber in einen neuen Kontext. Dass die nunmehr männerlose Patchwork-Familie aus diesen Erlebnissen Kraft gewinnt und auch eine andere Beinahe-Katastrophe für mehr Zusammenhalt sorgt, führt zu einem Filmende, das einerseits den richtigen Ton trifft, andererseits aber auch à la carte serviert wird wie in einem Hollywoodfilm, von dem auch nichts anderes als einen Hauch Versöhnung erwarten würde.
Aber mehr als durch die Geschichte wird „Roma“ durch die magische Kraft seiner Bilder überdauern, die den Zuschauer das Hinsehen lehren, das einem durch die modernen Schnittgewitter des Blockbuster-Kinos beinahe ausgetrieben wurde. Ästhetisch kann man „Roma“ daher als gelungenen Exorzismus betrachten. 


Roma – Mexiko, USA 2018 – Regie, Buch, Kamera: Alfonso Cuarón – Verleih: Netflix – Laufzeit: 134 min – FSK: ab 12 Jahren – D.: Yalitza Aparicio, Marina de Tavira, Nancy García García, Verónica García, Jorge Antonio Guerrero u. a.

Noten: Melonie, Klawer, BigDoc = 2

 

Quellen: