Dienstag, 12. Februar 2019

The Rider - einfühlsames Drama über einen Rodeo-Reiter

In ihrem zweiten Kinofilm nach „Songs My Brothers Taught Me“ erzählt die chinesische Regisseurin Chloé Zhao die Geschichte eines indianischen Rodeo-Reiters, der nach einem schweren Sturz Abschied von seinem alten Leben nehmen muss. Der mehrfach preisgekrönte Film ist ein Juwel des Independent-Kinos.

„The Rider“ erzählt vom jungen Indianer Brady Blackburn, der nicht nur ein einfühlsamer Pferdekenner ist, sondern auch ein erfolgreicher Rodeo-Reiter. Bis er während eines Bronc Riding-Wettbewerbs von einem buckelnden Pferd abgeworfen wird. Das ist tatsächlich passiert und der fiktive Brady sieht sich das Video vom realen Brady auf dem Smartphone an. Brady spielt also seine eigene Geschichte.




Verdrängen, Ignorieren, faule Kompromisse?

Das Ergebnis des Abwurfs ist ein Schädelbruch, die rechte Hand kann Brady wegen gelegentlicher Spasmen nicht mehr zuverlässig benutzen. Als er das Krankenhaus auf eigenen Wunsch verlässt, erleidet er während eines Ausritts einen Krampfanfall. Die Empfehlung der behandelnden Ärztin ist einfach wie vernichtend: Nie mehr Rodeo, nie mehr reiten. Es geht also darum, was man mit sich anfängt, wenn der perfekte Lebensentwurf in Trümmern liegt. Verdrängen, Ignorieren, faule Kompromisse machen?
Brady weiß nur eins: alles, was er kann, ist Reiten und Pferde verstehen.

Gespielt wird er von Brady Jandreau, der diese Geschichte selbst am eigenen Leibe erfahren hat. Auch die anderen Figuren werden von Laiendarstellern verkörpert, besser gesagt: von Bradys Familie. Tim Jandreau spielt sich selbst als Wayne Blackburn, auch Bradys Schwester Lilly ist mit von der Partie: die Leistung des autistischen Mädchens ist außergewöhnlich. 
Die Jandreaus gehören zum Stamm der Lakota-Indianer, die ihn South Dakota leben. Weder die realen Vorbilder noch die fiktiven Figuren sind also „White Trash“, wie es Tomasz Kurianowicz in der „Zeit“ behauptete. Und obwohl der spielsüchtige Vater Wayne alles andere als ein Lebenskünstler ist, funktioniert die mutterlose Familie mit einigen Abstrichen ganz gut. Das liegt auch an der jungen Lilly, die mit gnadenloser und unkomplizierter Ehrlichkeit für etwas Komik in der Tristesse sorgt. 


Die lastet aber nicht schwer auf dem Film, was auch Chloé Zhao konsequentem Verzicht auf melodramatische Schnörkel zu verdanken ist. Zhao, die auch das Drehbuch geschrieben hat, konzentriert sich einer fast dokumentarischen Bildsprache darauf, die Stationen einer Lebensbewältigung zu zeigen, ohne sie in bedeutungsschwangeren Dialogen zu erklären. Bradys Weg von der Desorientierung zur Neuorientierung ist nicht leicht. Zunächst arbeitet der junge Dakota als ungelernte Kraft in einem Supermarkt, dann versucht er sich sehr erfolgreich als Pferdetrainer, obwohl dies in letzter Konsequenz auch bedeutet, irgendwann in den Sattel steigen zu müssen. Also kein Melodram, aber Melancholie liegt schon über den ausdrucksstarken Bildern nächtlicher Lagerfeuer in der Prärie, wo die Freunde martialische Geschichten erzählen, oder wenn Brady mit seinem Lieblingspferd trotzig durch die meist karge Landschaft reitet.
Mal mehr, mal weniger wird Brady auch von seinen Kumpeln aufgefangen, die allerdings fest davon ausgehen, dass Brady irgendwann wieder bei einem Rodeo auftauchen wird. Brady nährt diese Hoffnung, ganz einfach, weil er es (noch) nicht besser weiß. Wichtiger ist ihm sein Freund Lane Scott (ebenfalls vom echten Lane Scott gespielt), der nach einem schweren Sturz (tatsächlich war es ein Autounfall) schwerbehindert im Rollstuhl sitzt und Buchstaben in die Luft malt, um zu kommunizieren. Bradys einfühlsame Loyalität gehört zu dem sorgfältig gezeichneten Milieu der Rodeo-Reiter wie auch zu seiner eigenen unverwechselbaren Individualität.


Beeindruckende Intimität

Authentizität im Kino, früher auch Realismus genannt, stellt sich nicht ein, wenn man faktengetreu eine Lebensgeschichte nacherzählt oder bis zum Überdruss langweilig auf dramaturgische und stilistische Mittel verzichtet und glaubt, dass kunstlose Bilder das echte Leben einfangen. Das tut Kino ohnehin nur mittelbar, und es gelingt nur dann, wenn die Geschichten von Menschen erzählen, deren Probleme und Dramen glaubwürdig und nachvollziehbar sind. Und dann kommen die schönen Bilder fast von selbst.
Zwei Szenen erhalten in diesem unaufgeregten Film dann doch noch die Qualität einer Parabel. Zum einen verliert Brady sein Pferd, das nachts in einen Stacheldraht galoppiert ist, jenen Stacheldraht, der in traditionellen Western in der Regel ein Symbol für die Grenzen der Landschaft und der Freiheit ist. Selbst erschießen kann er es nicht, das tut sein Vater, aber Brady realisiert, dass die vermeintliche „Erlösung“ wohl nur für Pferde gilt, nicht aber für Menschen, die ihr altes Leben verloren und das neue nicht gefunden haben.
 Zum anderen erzeugt Chloé Zhao eine beeindruckende Intimität, wenn sie zeigt, wie Brady einen Sattel ins Pflegeheim bringt, ihn über ein Gerüst wirft und seinem Freund buchstäblich in der Sattel hilft, um ihn die Bewegung spüren zu lassen. Das ist dann genauso schön wie die Szene, in der er Lane vom Reiten erzählt und vom Wind, der dabei über das Gesicht streicht. Dass dies jemand tut, der all dies verloren hat, ist dann eine fromme Lüge, die deshalb funktioniert, weil beide die Wahrheit kennen.

Chloé Zhao berührendes Drama entfaltet seine Wirkung sehr langsam, dann aber mit großer Wucht. Filme, die mit einer intimen Genauigkeit ihre Geschichten erzählen und ein Gefühl für die Besonderheiten sozialer Milieus entwickeln, sind Solitäre. Es gibt sie nicht oft. Vielleicht sind Independent Movies das letzte Reservat, in dem sie überleben können.


„The Rider“ wurde nicht nur 2017 in Cannes ausgezeichnet, sondern schaffte es 2018 auch in die meisten Top Ten Lists 2018 der US—Kritiker. Über 50% der Schreiber im Forum eines bekannten E-Tailers haben dagegen den schlechtesten Film aller Zeiten gesehen, sind eingeschlafen oder haben einen Film ohne Inhalt und mit hundsmiserablen Schauspielern über sich ergehen lassen müssen. Eine bessere Empfehlung gibt es nicht.


Noten: Melonie = 1, Klawer, BigDoc = 1,5


"The Rider" - USA 2018 - Drehbuch und Regie: Chloé Zhao - Länge: 103 Minuten - FSK: ab 12 Jahren - Darsteller: Brady Jandreau, Tim Jandreau, Lilly Jandreau, Lane Scott u.a.