Dienstag, 24. Januar 2017

Sing Street

Gute Künstler beschreiben das, was sie kennen. Und John Carney kennt die Musik der Achtziger und Neunziger, er war Bassist in der irischen Rockband „The Frames“. Carney kennt aber auch Irland. Der Musiker und Filmregisseur wurde 1972 in Dublin geboren, jener Stadt, die nicht nur wegen James Joyce zu einem magischen Ort der Kunst wurde. In seinem neuen Musikfilm „Sing Street“ geht es nicht nur um Rock’n Roll und Pop, sondern auch um Herzschmerz und um Revolte. Beides spielt sich eine von Außenseiter-Kids gegründete Band mit viel Power von der Seele – in einem Film, in dem einfach alles stimmt.

„Can a Song Save Your Life?“ fragte John Carneys 2013 gedrehter Musikfilm. Ja, das kann er. Und das muss er auch, wenn man seine große Liebe erobern will. 
Wir sind im Dublin der 1980er Jahre und der 15-jährige Conor (großartiges Leinwanddebüt: Ferdia Walsh-Peelo) hat es auch sonst nicht leicht. Gerade hat er von seinen Eltern (Maria Doyle Kennedy und Aidan Gillan: „Petyr Baelish“ in „Game of Thrones“) erfahren, dass nicht mehr genug Geld für die teure jesuitische Privatschule da ist. Er muss auf eine deutlich günstigere staatliche Schule wechseln. Die ist auch katholisch und es gibt strikte Regeln und ein merkwürdiges Verständnis von Männlichkeit. 


Dass schwarze Schuhe alternativlos sind, merkt Conor, als er vom Dekan Brother Baxter (Don Wycherley) gezwungen wird, mit Socken am Unterricht teilzunehmen – Conors braune Schuhe sind ein No Go, auch dann, wenn für neue schwarze Schuhe kein Geld übrig ist. Und da ist auch der grobe Bully der Schule, Barry (Ian Kenny), der dem Schulneuling handfest klar macht, wo er in der ruppigen Hierarchie der Schule gelandet ist. Nämlich ziemlich weit unten. „Handle wie ein Mann“, fordert Brother Baxter. Das ist nicht leicht.

Conor,  zwar empfindsam, aber keineswegs unsicher, flüchtet vor diesen schroffen Verhältnissen in die Liebe, und das ist eine Blitzentscheidung. Er trifft sie, als er auf dem Schulhof plötzlich Raphina sieht (Lucy Boynton). Wie macht man aber ein etwas älteres Mädchen an, das einem erzählt, dass sie ein Model ist, dabei cool und lässig Zigaretten raucht und auch noch absolut sexy aussieht? Klar, man heuert sie für das Promo-Video der eigenen Rockband an. Dumm ist nur, dass man nicht singen und nur ein wenig auf der Gitarre herumklimpern kann. Noch dümmer: es gibt auch keine Rockband.


Zwischen Duran Duran und Tristesse in Dublin

Die schrägen Achtziger zwischen Spandau Ballet, Pet Shop Boys und Culture Club sind die musikalische Backstory einer zunächst spontanen Liebesgeschichte. John Carney, der auch das Script für seinen neuen und nach „Once“ (2006) und „Can a Song Save Your Life?“ nunmehr dritten „Musikfilm geschrieben hat, lässt „Sing Street“ dabei bereits nach der ersten Viertelstunde ins Märchenhafte abdriften. Conor schafft es nämlich im Handumdrehen, eine eigene Band zusammenzustellen. Da ist der kleine Darren, der (Ben Carolan), der sich als cleverer Manager outet. Beide treiben, es grenzt an ein Wunder, das musikalische Multi-Talent Eamon (Mark McKenna) auf, der so ziemlich jedes Instrument spielen kann, gut textet und auch sonst recht cool ist. Ein Farbiger muss auch her, das gehört sich so für eine Rockband.
An realistischer Glaubwürdigkeit ist John Carney auch später nicht so richtig interessiert, denn natürlich gelingt es der Band im Höllentempo, einen eigenen Sound zu finden. Und Conor kann urplötzlich auch verdammt gut singen. Und bei dem, was er nicht kann, hilft ihm sein großer Bruder Brendan (Jack Reynor erhielt für diese Rolle bei den Irish Film und Television Awards die Auszeichnung als Bester Nebendarsteller), ein exzellenter Rock- und Pop-Kenner, der früher ein talentierter Musiker war, nun aber arbeitslos und bekifft zuhause abhängt. Ein Spiritus Rector, der als emotionales und motivierendes Zentrum des Films immer dann zur Stelle ist, wenn es Probleme gibt, die kaum zu lösen sind.

Das hört sich ein wenig nach Alan Parkers „The Commitments“ (1991) an, aber John Carney hat sich von solchen Vergleichen distanziert: das Einzige, was beide Filme verbindet, sei, dass man Songs in ihnen hört. In Parkers Film, so Carney, drehe sich alles um eine Coverband, die am Ende implodiert. „But we’re telling the story of a creative process, and of fashioning and shaping and hammering love songs to get the girl to improve your life, to get off the island, and to be a success. And what’s great about The Commitments is that the band isn’t a success. (..) Sing Street is a fantasy film about the American Dream, in a sense.“

„Sing Street“ erzählt also nicht von einer Band, die sich mühsam nach oben arbeiten muss und schließlich scheitert, sondern von der Magie der Musik, die allen, die bedingungslos an sie glauben, das Wunder der Kreativität und Inspiration in die Wiege legt.
Ästhetisch sollen in Carneys Film Story und Musik auf perfekte Weise in eine  Symbiose eintreten – da ist für dilettantisches Üben keine Zeit. Die Kids treibt etwas anderes an, denn natürlich will man auch Erfolg. Der wirklich magische Ort für die Kids ist nicht das reich mit kulturellen Traditionen aufgeladene Dublin, sondern London, die Hauptstadt von Rock, Pop und New Wave.
Ziemlich konsequent läuft daher die musikalische Evolution der Band in flottem Tempo ab. In
„Sing Street“, so nennt sich auch die Gruppe, geht es aber auch um die Dissonanzen zwischen Romantic Feelings und der irischen Lebensrealität, die irgendwo zwischen Sehnsucht und Traurigkeit festgemacht werden kann. Es geht daher erst recht um alles, was einem hilft, dieser Tristesse zu entkommen - also um die Synthese von Mode, Hair Styling, Musik und neuen medialen Ausdrucksformen. Dazu gehört auch der Siegeszug von Videoclips wie The Wild Boys von Duran Duran, die auch Conor fasziniert in sich aufsaugt. Es gibt also doch ein richtiges Leben im falschen.

Im Mittelpunkt steht der Sound der Eighties

„Sing Street“ will die schrillen und extravaganten 80er Jahre auch deswegen nicht als nostalgischen Abklatsch Revue passieren lassen. Steril gewordene Klischees umschifft der Film mit bewundernswerter Lockerheit. „Sing Street“ ist kein formelhaftes Feel-Good-Movie. Wichtiger war es für John Carney, das authentische Bild einer musikalischen Epoche schaffen, die sehr eng mit ihren sozialen Settings verbunden war. Und so erscheinen auch in „Sing Street“ abseits der romantischen Konnotierung der Songs und Texte immer wieder Anknüpfungspunkte an die soziale Realität Irlands, die lange genug geprägt wurde durch Armut und Arbeitslosigkeit. Stellvertretend dafür steht Raphinas Traum von einer Model-Karriere in London. Sie schafft es zwar zwar in die britische Hauptstadt, kehrt aber nach wenigen Tagen völlig enttäuscht nach Dublin zurück.
Diese sozialen Referenzen schieben sich thematisch zwar nicht in den Vordergrund, sind aber immer präsent und sorgen für einen authentischen Touch, der von der ersten bis zur letzten Minute mitreißend zwischen Love Interest, Träumen und Hoffnungen, aber auch zwischen Revolte und dem unbedingten Anspruch auf ein eigenes, glaubwürdiges Leben changiert.

Carney, der auch viele Songs für „Sing Street“ geschrieben hat, gelingt dies auch deshalb so unwiderstehlich, weil er einer sentimentalisierenden Erzählweise konsequent den Riegel vorschiebt. Die wichtigsten Rollen wurden mit Laien besetzt, professionelle Kinderdarsteller hält John Carney nicht für ausreichend authentisch. „Apart from musical skill, which was important, I was looking for somebody that would make me laugh“, beschrieb Carney sein Casting.

„Sing Street“ ist vielleicht auch deshalb so schnell, so witzig und so sarkastisch geworden. Das gilt nicht nur für die bissigen und pointierten Dialoge, sondern auch für den Charme, mit dem Carney seine Protagonisten in Szene setzt. Zum Beispiel bei den holperigen Versuchen der Band, ihre eigenen Musikvideos zu drehen, die aber – wieder wie durch ein Wunder – trotz laienhafter Improvisation herrlich gelingen. Wohl auch weil Conors große Liebe bei den Dreharbeiten tatsächlich ins Wasser eines Hafenbeckens springt, anstatt die dramatische Aktion nur vorzutäuschen. Natürlich deswegen, weil Enthusiasmus entscheidend ist, wenn man will, dass aus einer guten Idee etwas wirklich Grandioses wird. Und natürlich springt Conor, der mittlerweile den Künstlernamen Cosmo trägt, ebenso enthusiastisch hinterher, während ihm Raphina zuruft, er solle bloß nicht aufhören zu singen. Das ist umwerfend komisch und es trifft auch den Kern: Leben und Musik sollen nicht getrennt werden.

Im Mittelpunkt des Films steht auch deshalb der Sound der Eighties. Und das sind nicht nur die für den Film komponierten Songs der fiktiven Band „Sing Street“, sondern auch einige Klassiker der Dekade, die bis heute zu den einflussreichsten Hits der Musikgeschichte gehört: „Maneater“ von Drayl Hall und John Oates, „Town Called Malice“ von The Jam,
Inbetween Days“ von The Cure, „Steppin’ Out“ von Joe Jackson. Eigentlich hätte man noch mehr davon hören mögen, aber auch die Songs der Band „Sing Street“ müssen sich nicht verstecken: „Girls“ entpuppt sich ebenso als echter Ohrwurm wie „Drive it Like You Stole It“, das Conor und seine Band für eine Schulveranstaltung proben und das John Carney in eine grandiose Traumchoreographie verwandelt. Und letztlich geht es ja bei all den Songs auch darum, dass man mit ihnen das sagen kann, was man sonst nicht in Worte fassen kann.


In den 106 Minuten des Films gibt es keinen einzigen Misston. Irgendwo zwischen Duran Duran und The Cure sind die Jungs von „Sing Street“ am Ende aufgeschlagen und natürlich gewinnt auch Conor nach einigen Ups an Downs Raphinas Herz und sogar die pragmatische Freundschaft des Schulschlägers Barry. Auch der Auftritt der Band wird ein Erfolg, als die Band in dem Song
Brown Shoesmit dem autoritären Dekan Baxter abrechnet. Und wenn Raphina und Conor ganz am Ende in einem garantiert nicht seetauglichen Kutter zum Sehnsuchtsort London aufbrechen, dann würde diese Reise in einer schwankenden Nussschale auf hoher und stürmischer See in jeder denkbaren Lebensrealität ganz gewiss tödlich enden. John Carney zeigt stattdessen in der letzten Einstellung Conors nasses Gesicht. Und der fühlt nur das Momentum. Etwas unwiderrufliches Schönes, das morgen bereits Erinnerung sein wird.

Noten: Melonie, BigDoc = 1


(„Sing Street“ ist in unserer Jahresauswertung damit der bislang erfolgreichste Film. Ich habe bislang „La La Land“ nicht gesehen, aber mir wurde nachdrücklich versichert, dass „Sing Street“ mindestens eine Klasse besser ist)


Pressespiegel

  • „...bleibt Carneys Geschichte (...) süßlich und eindimensional. (...) Talentierter Junge liebt hübsches Mädchen, er beeindruckt, sie lächelt, und beide flüchten zusammen gen Sonnenuntergang. Eigentlich ist das eher Fünfziger“ (Jenni Zylka: SPIEGEL ONLINE).
  • „Den pubertierenden Bandmitgliedern beim Finden einer eigenen künstlerischen Stimme und bei der Verwirklichung ihrer Träume zuzuschauen, macht großen Spaß und lässt „Sing Street“ zu einem der Feel-Good-Highlights des Kinojahres werden“ (Andreas Cordes: Filmstarts).
  • „Mit skurrilem Charme und trockenem irischem Humor beschwört »Sing Street« die Kraft der Musik in Zeiten pubertärer Ausweglosigkeit. Dabei ist der Film fest verankert im Rhythmus der 80er Jahre, in denen die Lust an der Melancholie und eine wenig zielgerichtete Lebensgestaltung zum Zeitgeist gehörten“ (Martin Schwickert: epd film).


Irland, Großbritannien, USA 2016 – Buch, Regie, Songs: John Carney – Musik: Gary Clark – Darsteller: Ferdia Walsh-Peelo, Lucy Boynton, Aidan Gillen, Maria Doyle Kennedy, Jack Reynor, Kelly Thornton, Mark McKenna - Länge: 106 Minuten - FSK: ab 6 Jahren - Start: 26. Mai 2016 – DVD/Bluray-Release: Oktober 2016