Dienstag, 29. Dezember 2009

The Fall

Indien / Großbritannien / USA 2006 - Regie: Tarsem Singh - Darsteller: Lee Pace, Catinca Untaru, Justine Waddell, Julian Bleach, Leo Bill, Kim Uylenbroek, Ronald France, Sean Gilder, Andrew Roussouw, Michael Huff - FSK: ab 12 - Länge: 117 min. - Start: 12.3.2009

Es ist schon ungewöhnlich, dass der vorletzte Film der Jahres alles, was der FILMCLUB zuvor gesichtet hat, auf den Kopf stellte: Tarsem Singhs „The Fall“ katapultierte sich mit einer überwältigenden Benotung auf Platz 1 der Jahreswertung und dürfte (falls kein potenter Konkurrent in Sicht ist) auch Jahressieger 2009 werden.
Eine Überraschung? Auf jeden Fall, denn mit Singhs opulentem Film, für den die Totale erfunden werden müsste, falls es sie noch nicht gäbe, siegt in einer doch eher an guten Inhalten orientierten Zweckgemeinschaft die Form über den Inhalt, der Stil über die Botschaft. Etwas anderes scheint aber allerdings gute Tradition bei uns zu sein: es siegte der Außenseiter über den Mainstream. Vielleicht ist der Zeitpunkt nicht einmal schlecht gewählt, denn zu Beginn des neuen Jahrzehnts stellt sich das Kino mit James Camerons 3-D-Spetakel „Avatar“ wieder einmal neu auf, um den ewigen und von gleichzeitig auch von ökonomischen Interessen geleiteten Kampf zwischen fotografischer Abbildung und Traumwelt erneut auszutragen. Schön, dass man sich im Kino nicht dogmatisch verorten muss (hoffe ich jedenfalls) und sich in dreister Freiheit einfach alles anschauen kann.

Wider den Dogmatismus
Ein kurzer Rückblick zu den Anfängen: 1895 präsentierten die Brüder Lumière ihren Cinématographen – ihr erster Film Arbeiter verlassen die Lumière-Werke gilt vielen Kinohistorikern als Beginn des Dokumentarfilms, während der französische Theaterbesitzer Georges Méliès wenige Jahre später das fiktionale Potential des Films entdeckte und quasi den ersten Genrefilm drehte: für seine Die Reise zum Mond (1902) wurde die erste Tricktechnik des jungen Kinos erfunden – der Stoptrick. Das Kino scheint seitdem in zwei Lager gespalten zu sein: auf der einen Seite hält die Filmtheorie an der Nähe zur Fotografie und der Verpflichtung zum Realismus fest, auf der anderen Seite existiert das schöne Reich der Illusionen, oder etwas abfälliger: den Rummelplatz mit seinen Freaks. Zum Glück ist selten etwas durch saubere Grenzen getrennt, denn bereits im Lumière-Film wurde die Kamera an verschiedenen Stellen postiert, um ein narratives Element im Film zu etablieren, während Méliès mit theaterhaften Totalen auf eine explizite Erzählästhetik verzichtete und seine Effekte genüsslich zur Schau stellte.
Im Wesentlichen hat sich daran nichts geändert: das Kino mäandert zwischen Roland Emmerich und Ken Loach, zwischen David Lean und Lars von Trier, wobei das Rätselhafte (und mehr noch: der Spaß) nach über hundert Jahren Kinogeschichte darin besteht, dass man in diesem Kampf gar keinen Sieger sehen möchte. Und überhaupt: in Singhs bildgewaltigem Märchen zeigt sich ein Freude am Filmemachen und Geschichtenerzählen, wie man es selten gesehen hat, ein geschicktes Spiel zwischen narzisstischer Schaut-her-was-ich-kann-Ästhetik und einer einfühlsamen Geschichte, die uns daran erinnert, worum es im Kino eigentlich geht – nicht um’s Geschichtenerzählen per se, sondern darum, ob eine Geschichte uns packt. Und dafür gibt es tausend gute Gründe.

Los Angeles, 1915. Der Stuntman Roy Walker (Lee Pace) ist während der Dreharbeiten von einer Brücke auf ein Pferd gesprungen. Für das Pferd endete dies tödlich, für Walkers Seele wohl auch, denn er liegt gelähmt und mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus und hat zudem auch seine Freundin an den Star des Films verloren. Die kleine Mit-Patientin Alexandria (Catinca Untaru) findet den depressiven Anti-Helden bei ihren Exkursionen durch die endlosen Korridore in einem Nebentrakt des Gebäudes. Walker beginnt, dem Mädchen eine phantastische Geschichte über fünf mythische Helden zu erzählen, die gemeinsam einen Rachefeldzug gegen den korrupten Gouverneur Odious planen. Dabei spinnt er das Mädchen geschickt ein in das Netz einer Geschichte, die sich durchaus kalkuliert an den Interessen seiner Adressatin orientiert. Denn es geht um viel mehr: der lebensmüde Stuntman will, dass Alexandria ihm Tabletten besorgt, die ihm helfen sollen einzuschlafen. Es dreht sich allerdings nicht um Schlaftabletten, sondern um eine tödliche Dosis Morphium, die das ahnungslose Mädchen aus dem Medizinschrank stehlen soll.

So etwas hat man noch nie gesehen
Wie in „The Cell“ ist die Geschichte für den indischen Werbefilmer zunächst nur ein Vorwand, um seine Lust an bizarren und traumschönen Bildern zu befriedigen. Wüstenlandschaften verwandeln sich in magische Orte, wie zeitlos wirken die Orte, an denen die Helden prachtvolle Schlösser oder ein "Labyrinth der Verzweiflung" finden. Und obwohl Alexander der Große vorkommt und Charles Darwin sowie ein italienischer Anarchist und Explosionsexperte zu den fünf Helden gehören, die den bösen Gouverneur töten wollen, sind ihre Kostüme ziemlich unhistorisch und Ausdruck einer Fabelwelt, die aus allerlei willkürlich zusammengefügtem Patchwork besteht. Kein Wunder, denn genauso wie Roy Walker den immer wieder unterbrochenen Gang der Geschichte den Bedürfnissen seiner kleinen Freundin anpasst, besetzt diese (oder ist es doch Roy?) die Figuren mit Personen aus ihrer Umgebung, bis der Erzähler und sein Publikum eine Art von Amalgam herstellen, das uns von Singh als grandioses Fantasy- und Märchen-Spektakel vor’s Auge gestellt wird.
Über vier Jahre hat der Werbe- und Musikvideofilmer Tarsem Singh während seiner kommerziellen Einsätze die Locations ausrecherchiert und später mit seinen Darstellern häppchenweise in 18 verschiedenen Ländern gedreht. Eine globale Aktion, die von den Fidschi-Inseln über Chile bis nach Kambodscha reichte und geheimnisvolle Märchenlandschaften schuf, in denen eine geheimnisvolle blaue Stadt, ganze Heerscharen mysteriöser Krieger und schwimmende Elefanten auf die Helden warten. Kaum zu glauben, dass Singh (man muss es ihm wohl glauben) dabei auf digitale Tricks verzichtete und sozusagen einen phantastischen Realismus schuf, wie man ihn selten zuvor im Kino gesehen hat. Um ehrlich zu sein: man hat einen Film wie „The Fall“ eigentlich noch nie gesehen.
Finanzieren wollte dies niemand und so zahlte Singh alles aus eigener Tasche, mit dem Ergebnis, dass er heute pleite, aber nach eigener Aussage glücklich ist. Bereits 2006 stellte Tarsem Singh den Film auf dem Toronto Film Festival vor, aber erst Anfang 2009 kam er in einigen deutschen Kinos auf die Leinwand. „The Fall“ wird mangels Resonanz allerdings alles auf die Karte Nachverwertung setzen müssen, damit sein Macher nicht bis ans Ende seiner Tage den Produktionskosten nachtrauert. Und hier zeigt sich auch, dass der eine oder andere Kritiker, der den Film als Leinwandepos feiert, offenbar an den ökonomischen und technischen Alternativen des Marktes vorbeigedacht hat. „The Fall“ ist trotz seiner Opulenz ein versponnener Nischenfilm, der sich seine Anhänger vermutlich ähnlich wie bei „Donnie Darko“ über die DVD und die Bluray erobern wird. Ersteres würde dem Film nicht einmal zur Ehre gereichen, denn nur die technischen Qualitäten der in einer umfangreichen 3er-Set-Edition auf den deutschen Markt gekommenen Bluray zeigen, dass „The Fall“ ein Referenzfall für’s gehobene Heimkino ist.

Erlösungsgeschichte mit augenzwinkerndem Charme
Walker, der seinen Selbstmordversuch überlebt hat, rächt sich zunächst an den fatalen Umständen, indem er seine Geschichte immer grausamer werden lässt. Ein Held nach dem anderen muss sterben, obwohl Alexandria um ein Happy-end bettelt. Als Roy feststellt "Es ist meine Geschichte", entgegnet sie: "Meine auch!" Ganz am Ende demonstriert uns Singh, dass er uns mehr als ein infantiles Bilderrauschen vorgesetzt hat, sondern vielmehr eine Hommage an das Kino. Und so muss sich der Geschichtenerzähler den lebensbejahenden Wüschen seines Publikums stellen, das nur in begrenzter Dosierung aussichtslose Verzweifelung und tiefe Depression hinnehmen kann. „The Fall“ ist so gesehen wie „The Cell“ eine mythische Geschichte von der Erlösung. Während Jennifer Lopez in „The Cell“ den traumatisierten Serienkiller in dessen Traumwelt nicht besiegen kann und ihn in ihre eigene Phantasielandschaft holen muss, um ihn dort zu töten und gleichzeitig zu erlösen, muss sich der Erzähler in „The Fall“ ganz pragmatisch den Wünschen seiner Zuhörerin stellen, um erlöst zu werden und sein eigenes Leben zurückzugewinnen. Das geschieht trotz aller Dramatik mit einem augenzwinkernden Charme, denn so funktioniert halt Kino dann doch wohl in den meisten Fällen.
Am Ende sitzen die Patienten des Krankenhauses vor einer Leinwand, über die schwarz-weiße Stummfilmbilder flimmern und uns in die Welt des jungen Kinos versetzen. Wir sehen gelungene Stunts und überraschende Tricks, verblüffende Wendungen und bescheuerte Ideen, auch der offenbar genesene Roy Walker ist unter den Akteuren. Wir sehen, wie weit wir die alte Stummfilm-Welt hinter uns gelassen haben und wir verstehen, dass das vielleicht doch nicht so ganz stimmt. Und wir sehen einen Bilderreigen, mit dem sich Tarsem Singh doch eher auf die Seite von Georges Méliès schlägt, wobei wir hoffentlich nicht vergessen werden, dass auch die Arbeiter vor der Fabrik zum Kino gehören, und zwar weil „The Fall“ trotz seiner außergewöhnlichen Qualitäten nur ein Mosaiksteinchen in unserer kinematographischen Kopflandschaft bleiben wird. Also kein Fall für Dogmatiker.

Nachlese
Die Filmkritik (das ist wohl bei außergewöhnlichen Filmen hierzulande nicht zu vermeiden) reagierte schwelgerisch und angesäuert auf den Film. Magali-Ann Thomas schreibt für das Bayerische Fernsehen: „Herausragendes Kinospektakel für alle, die in einem Film Abenteuer, Liebe, Geschichte, Drama und großartige Bilder finden wollen. Mit einer kleinen Hauptdarstellerin, die alle Herzen erreicht: pummelig, neugierig und unheimlich tapfer.“
Gut zu wissen.
Sascha Keilholz sieht auf critic.de nur „Mumpitz in schönen Bildern“ und spielt Singhs Film gegen die (auch meiner Meinung nach gelungeneren) Filme The Devil’s Backbone (2001) und Pans Labyrinth (El Laberinto del Fauno, 2006) von Guillermo del Toro aus: „Während die beiden genannten Filme del Toros dem Zuschauer inhaltliche und ästhetische Dichte bieten, ist Tarsem Singhs Bilderrevue trotz aller vorgeschobenen erzählerischen Komplexität völlig leer und hohl. Der Blick des Kindes weicht hier einer Kindlichkeit und schließlich dem Hang zum Kindischen. Eindeutigkeit ist ein Merkmal dieser Kinoform. Damit steht ‚The Fall’ tatsächlich beispielhaft für eine Tendenz in den USA produzierter Mainstreamfilme. Der Blick auf ein immer jünger werdendes, filmhistorisch und ästhetisch anspruchsloses, die Sensationen suchendes Publikum, führt zu Ausmaßen an Beliebigkeit, technischer Ungenauigkeit und letztlich Geistlosigkeit, die in dieser Form neu ist.“
Ob dies Mumpitz in schönen Worten ist, mag jeder für sich entscheiden. Die Erfolglosigkeit von Singhs Films an den Kassen deutet eher nicht daraufhin, dass das anspruchslose Publikum erreicht wurde. Woran das wohl liegt?
Auch Daniel Sander sieht in SPIEGEL-ONLINE neben der Magie eher Wahnsinn am Werke: „Anders als Guillermo del Toros artverwandter Glücksgriff ‚Pans Labyrinth’ bietet Tarsem keinen intelligenten und spannenden Kontext für seine traumhaften Bilder, der Film erstickt ohne glaubwürdige Ebene fast in Magie und Wahnsinn. Doch wer an die Macht der Bilder glaubt und das Kino liebt, weil es Welten erschaffen kann wie kein anderes Medium, der ist in "The Fall" richtig. Einfach fallen lassen und genießen.“ Das hat doch einen versöhnlichen Ausklang, oder?
Birgit Roschy sieht in epd-Film genau das Gegenteil. Wie schön. „Mit buchstäblich traumwandlerischer Sicherheit setzt Singh seine Fata Morgana ins Bild, mit Landschaftspanoramen im Stil alter Postkarten, Puppentheater und Stummfilm-Sequenzen. Gedreht wurde das entspannte Werk, das sichtlich keinen kommerziellen Erwägungen geschuldet ist, während mehrerer Jahre, in denen Singh als Werbefilmer um den Globus reiste. Es verwundert nicht, dass diese L’art-pour-l’art-Spinnerei von den ehemaligen Werbefilmern David Fincher und Spike Jonze mitproduziert wurde.“
Dagegen entdeckt Mary Keiser im gewiss nicht distanzlosen SCHNITT die gelungene Parabel: „Alexandria stemmt sich mit dem natürlichen Gerechtigkeitsbedürfnis eines Kindes gegen Roys hoffnungslosen Pessimismus. Für beide ist die Geschichte zu einer Parabel über ihr Leben geworden. Genau das entspricht dem ursprünglichen Zweck von Geschichten, ob Mythen, Märchen oder Sagen. Singh führt fast alle Formen menschlichen Erzählens als kulturelle Universalie auf, von einfachen Ritualen über klassisches Theater bis zum Film… Der indische Regisseur erinnert mit seinem …Film daran, dass alle Menschen Geschichten brauchen – besonders in Form von solchen Filmen.“
Rüdiger Suchsland sieht in „The Fall“ einen wunderschönen Film über das Erzählen, kann sich in seiner sehr lesenswerten Kritik aber einen kritischen und ideologiekritisch geschulten Seitenhieb nicht verkneifen: „Aber wirklich überzeugend sind Singhs Bilder trotzdem nicht. Über ihnen liegt etwas seltsam Steriles. Zu sehr ähneln die Wow-Bilder vor allem jenen sündteuren Werbeclips, in denen Autohersteller ihre Fahrzeuge in Wüsten und Vulkanlandschaften, vor das Taj Mahal oder zwischen tanzende afrikanische Eingeborene platzieren, um dann weltrettende, kulturverbindende oder gar philosophische Messages zu verzapfen, obwohl sie doch eigentlich nur Autos verkaufen wollen.“ Oups, daran hatte ich gar nicht gedacht.
Am besten gefällt mir Marc Olsens Fazit in der Los Angeles Times:„‚The Fall‘ erweckt nie den Eindruck, als hätte er eine andere Daseinsberechtigung, als schön anzuschauen zu sein.“
Für unsentimentale Cinephile sicher ein Graus. Mir reicht dies durchaus.

Noten: Mr. Mendez = 2, Klawer = 1, BigDoc = 1, Melonie = 1