Samstag, 24. September 2022

Ambulance - Michael Bays Film ist cinéma pur

Michael Bays Actionthriller ist das Remake des dänischen Films „Ambulancen“. 2005 erzählte der Regisseur und Autor Laurits-Munch-Petersen die Geschichte zweier Brüder, die nach einem Banküberfall mit einem entführten Krankenwagen fliehen. Das Problem: im Wagen befindet sich eine Krankenschwester, die um das Leben eines herzkranken Patienten kämpft.
Michael Bay erzählt die gleiche Geschichte, aber es geht weniger ums Narrativ. Bay lotet in seinem Remake „Ambulance“ auf spektakuläre Weise vielmehr die visuellen Grenzen des Genres aus. In seinem sehenswerten Heist Movie führt er vor, wie die völlige Befreiung der Kamera von den Gesetzen der Physik aussehen kann. Dies definiert die Bildsprache des Genres neu und lässt den Zuschauer am Ende der furiosen Bilderorgie völlig betäubt zurück.

Höllenfahrt durch L.A.

Will Sharp (Yahya Abdul-Meteen II, bekannt aus der HBO-Serie „Watchmen“ und als Morpheus/Agent Smith in „The Matrix Resurrections“) benötigt dringend Geld, um eine experimentelle Behandlung seiner krebskranken Frau Amy (Moses Ingram) zu bezahlen. Als seine Krankenversicherung sich weigert, wendet sich Will an seinen Stiefbruder Danny (Jake Gyllenhaal), einen notorischen Bankräuber. Doch der bietet statt Geld einen Job an: Dannys Bande will 34 Mio. US-Dollar erbeuten. Natürlich sei die Sache todsicher.
Das kann man durchaus wörtlich nehmen. Der Coup läuft völlig aus dem Ruder, als der LAPD-Officer Zach (Jackson White) sich einmischt – und draußen vor der Bank warten schon die Cops. Danny und Will überleben den wüsten Schusswechsel und fliehen mit Zach als Geisel, aber auf der Flucht durch eine Tiefgarage wird der Polizist bei einem Handgemenge von Will angeschossen. Ausgerechnet der Krankenwagen, mit dem die Krankenschwester Camille „Cam“ Thompson (Eisa González) den schwerverletzten Zach ins Krankenhaus bringen will, wird wenig später von Danny und Will gekapert. Verfolgt von Dutzenden Wagen der von Captain Monroe (Garret Dillahunt, „Fear the Walking Dead“) geleiteten Special Investigation Section (SIS) rasen sie durch L.A., während Cam um Zachs Leben kämpft.

„Ambulance“ bedient sich bei Jan de Bonts „Speed“ (1994) und Michael Manns „Heat“ (1995) und wer noch ein wenig weiter in die Geschichte des Actionthrillers zurückblickt, wird sich auch an „Bullitt“ (1968) erinnern. In Peter Yates‘ Film legte Steve McQueen in einem 1968er Ford Mustang fest, wie eine Autoverfolgungsjagd aussehen muss. Der Kultklassiker setzte Maßstäbe für die nächsten Jahrzehnten. 
Und irgendwie ist „Ambulance“ auch eine auf den Kopf gestellte Version von Martin Scorseses „Bringing out the Dead“, allerdings ist in Bays Film die Krankenschwester Cam alles andere als der von Nicholas Cage gespielte depressive Rettungsfahrer, der durch die Nacht rast, um Leben zu retten und kurz vor dem psychischen Zusammenbruch steht. Cam ist schlagfertig, mental stark und eine der Powerfrauen, wie man sie immer häufiger sieht.

Die Ästhetik des Films ist innovativ – dank moderner Technik

Aber für Michael Bay stehen nicht filmische Referenzen und die Story im Mittelpunkt seines Films, auch wenn er sich auf die Schippe nimmt: Auf der Flucht erinnert Will seinen Bruder an die gelungene Flucht in „The Rock“ (Bays zweiter Film, 1996), aber Danny kennt nur den gleichnamigen Wrestler. Kino ist vergänglich.
Nein, es ist die ausgefeilte Kameraarbeit, die den Mehrwert des Films ausmacht. Alles ist in Bewegung, aber nicht nur dank Kamerakran und Steady-Cam. Die digitalen Kameras in Bays Film fliegen über die Stadt, gleiten und stürzen sich in die Tiefe. Es sind First Person View-Drohnen, die von Jordan Temkin und Alex Vanover perfekt gesteuert wurden, zwei Profis aus der amerikanischen Drone Racing-League. Während die beiden Brüder in der wohl längsten Autoverfolgungsjagd der Filmgeschichte durch Los Angeles brettern, wird die Action aus Perspektiven gezeigt, die man so im Kino noch nicht gesehen hat. Für Adrenalin-Junkies ein gefundenes Fressen.

Dabei ist Bilderorgie, die über den Zuschauer heranbricht, bei der Montage nicht in die Knie gegangen. Zwar sind die Takes nicht episch lang, aber die Cutter Pietro Scalia (u.a. Oscars für „JFK“ und „Black Hawk Down“), Doug Brandt und Calvin Wimmer haben kein Schnittgewitter inszeniert, obwohl das Tempo hoch ist. Der Film ist brillant geschnitten, zwar mit Speed, aber man weiß immer, wo sich die Protagonisten befinden - die Sequenzen folgen logisch der Handlung. Unterm Strich ist Bays Film ein Technikevent, aber die Bilder lassen den Aufwand vergessen, die Kameras gleiten wir selbstverständlich an den Protagonisten vorbei. Das wirkt fast wie ein Betäubungsmittel.

Guter Cast mit flottten Onelinern

„Ambulance“ ist ein Echtzeit-Actionthriller. 136 Minuten überschlägt sich die Handlung mit immer neuen Volten, etwa wenn Cam um Zachs Leben kämpft, dabei eine zweite Schusswunde entdeckt und angeleitet von zwei Trauma-Spezialisten per Zoom Video-Konferenz und mit Wills Hilfe eine Not-OP vornehmen muss. 
Spätestens hier sollte man als Zuschauer belastbar sein, denn Zachs Körper wird quasi geöffnet und mit beiden Händen wird im Bauchraum nach dem Projektil gewühlt. Natürlich fällt mittendrin der Akku des Laptops aus und als eine Arterie der Milz platzt, wird sie kurzerhand mit einer Haarklemme geschlossen. Der Film ist von der FSK ab 16 Jahren freigegeben worden, Amazon Prime hat dagegen die Altersfreigabe auf 18 Jahre angehoben. Nicht grundlos. Abgesehen von diesen Splatter-Einlagen folgt Bays Film aber weitgehend den Konventionen des Genres – Psychologie ist weniger wichtiger als die Professionalität, mit der man seinem Beruf nachgeht.

Aber irgendwann reicht es auch Danny. „Wir sind nicht die Bösen, wir sind die Jungs, die einfach nur nach Hause wollen!“, erklärt er seinem Bruder kurz vor dem Ende.
Jake Gyllenhaal spielt in dem Heist-Movie diesen Gangster nicht als skrupellosen Soziopathen, sondern mit der Leichtigkeit des typischen Gyllenhaal-Charmes. Eine grandiose Performance, gegen die Yahya Abdul-Meteen II als moralischer Widerpart nicht ankommt, ganz einfach, weil es die Rolle nicht hergibt. Will ist der empathische Ganove wider Willen, aber mit moralischem Kompass. Das besitzt nicht die Chuzpe, mit der Gyllenhaal seine Rolle interpretieren kann. Leichter hat es Eisa González als couragierte Krankenschwester, die nicht ihren Codex aus den Augen verliert und um jedes Leben kämpft, auch wenn es sich um jemand handelt, der eben nicht zu den Guten gehört. Am Ende wird sie auf tragische Weise von der Waffe Gebrauch machen.
Die Nebenrollen wurden durchweg gut gecastet. Die nicht ganz so bekannte Olivia Stambouliah (u.a. als Lucy in „The Walking Dead“) macht mit einigen beinharten Onelinern als LAPD Lieutenant Dhazghig eine gute Figur. Überhaupt sind in Bays Film fast alle Figuren auf spezielle Weise cool, was bei einem Michael Bay-Film auch nichts anders zu erwarten war.

Auch der minimalistische und streckenweise an Horrorfilme erinnernde Filmscore von Lorne Balfe ist auf seine Weise cool, eben weil er die bei Bay sonst üblichen und ziemlich pathetischen Musiktexturen konterkariert. Für etwas Ironie sorgen Covertitel wie „California Dreamin‘“ von The Mamas & The Papas oder das sentimentale „Sailing“ von Christopher Cross, die in nun wirklich sehr unpassenden Szenen zu hören sind.
Aber der musikalische Grundton von „Ambulance“ ist eher tragisch. Und das hat einen Grund. Ganz am Ende zeigt ein Flashback in Dannys und Wills Kindheit ein Duell der beiden mit Spielzeugpistolen – guter Sheriff gegen böser Gunslinger. Wie das Duell, so endet auch Michael Bays Geschichte. Und da hält sich auch Michael streng an die Konventionen des klassischen Western. Das ist auf technische Weise cinéma pur, aber keine Kino, das sich auf seine Mittel beschränkt, sondern Kino, das seine Mittel erweitert.

Note: BigDoc = 2


Ambulance - USA 2022 – nach dem Film Ambulancen (2005) von Laurits-Munch-Petersen – Regie: Michael Bay – Buch: Chris Fedak – Kamera: Roberto de Angelis – Schnitt: Pietro Scalia, Doug Brandt und Calvin Wimmer – Musik: Lorne Balfe – D.: Jake Gyllenhaal, Yahya Abdul-Meteen II, Eisa González.