Sonntag, 16. Oktober 2022

Top Gun: Maverick

Es hat über ein Jahrzehnt gedauert, um aus einer Idee einen Film zu machen. Ursprünglich hatte Paramount bereits 2010 die Absicht, mit dem Produzenten Jerry Bruckheimer und dem Regisseur Tony Scott Top Gun 2 zu realisieren. Scotts Selbstmord im Jahr 2012 und andere Schwierigkeiten legten das Projekt auf Eis. Erst 2015 ging es weiter mit dem Sequel, in dem Tom Cruise zunächst nicht einmal die Hauptrolle spielen sollte.
Am Ende war es dann doch die Hauptrolle und „Top Gun: Maverick“ schaffte es, der bislang erfolgreichste Kassenhit des Jahres zu werden. Fast 1,5 Mrd. US-Dollar hat der Film weltweit eingespielt – auch für Cruise ist es bislang der größte Box Office-Erfolg seiner Karriere. Dass ein Military Action-Film in diesen Zeiten abräumt, ist allerdings keine Überraschung, wenn die Welt gerettet wird und der Held am Ende wieder einmal sein Mädchen bekommt.

Halbgötter in ihren fliegenden Kisten

Wie in Tony Scotts „Top Gun” (1984) beschwören die ersten Bilder des Sequels eine Welt, zu der es nur für wenige einen Zutritt gibt. Da sind sie wieder, die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten, die auf einer Airbase landen oder starten. Helden, Teufelskerle. Alles im schummerigen Licht der Abendsonne. Eine Ästhetik wie in einem Werbeclip, und die verspricht, dass es richtige Kerle sind, die da fliegen. Mit viel Technik, aber ganz ohne KI. Denn es komme am Ende immer auf den Mann im Cockpit an, damit der Einsatz gelingt. Und auf Kameradschaft und Teamgeist. Das wird auch in Joseph Kosinskis Film „Top Gun: Maverick“ gebetsmühlenartig wiederholt. Es sind Piloten und Pilotinnen mit schrägen Codenamen wie „Rooster“, „Hangman“, „Fanboy“ oder „Phoenix“. Selbst die, die mittlerweile am Schreibtisch sitzen und eine steile Karriere hingelegt haben, tragen ihre Kampfnamen noch.

Einer von ihnen ist der Konteradmiral Chester „Hammer“ Cain (Ed Harris), der längst mit der mythenreichen Geschichte der Elitepiloten abgeschlossen hat. Für ihn sind die Fliegerasse, die weder Tod noch Teufel fürchten, einfach nur Relikte, die von ferngesteuerten KI-Drohnen ersetzt werden müssen. Und so will Cain die Testphase eines Hyperschallflugzeugs abbrechen, um die Geldmittel in sein Drohnenprojekt fließen zu lassen. Die „Darkstar“ habe nur Mach 9 erreichen können, nicht Mach 10, wie es vertraglich verlangt wurde. 
Aber prompt schwingt sich einer ins Cockpit, der den Admiral Mores lehrt: es ist der 60-jährige Tom Cruise, der den mittlerweile reif für die Rente gewordenen Captain Pete „Maverick“ Mitchell spielt. Und Maverick prügelt selbstverständlich das Flugzeug in einem Rutsch auf Mach 10, obwohl bereits Mach 9 der Bereich ist, in dem Sinne und Körper eines Kampfpiloten ihren Dienst einstellen. Nicht aber bei Maverick, der sich zwar mächtig anstrengen muss, aber noch ein bisschen mehr herauskitzeln will. Männer wie er haben halt Mach 11 im Visier. Es sind Halbgötter.
Die „Darkstar“ ist danach Schrott und Maverick rettete sich mit dem Schleudersitz. Und nun hasst sich der vorgeführte Cain dafür, dass er diesen Mann nicht feuern kann. Denn leider hat Vizeadmiral Admiral Tom „Iceman“ Kazansky (Val Kilmer) den Rulebreaker für einen ganz speziellen Job in die Naval Air Station North Island (NAS) in Californien beordert. Maverick soll die Besten der Besten unter den Top Gun-Piloten für eine Mission ausbilden, bei der im Rahmen eines NATO-Auftrags eine unterirdische Uran-Anreicherungsanlage zerstört werden soll. Selbst fliegen soll er nicht.

Die Konventionen des Genres werden eingehalten

Manche Fiktionen radieren alle Spannungsmomente aus. So stellt sich die Frage nicht, ob Maverick doch wieder ins Cockpit steigen wird und auch nicht die, ob er es schafft, die Welt zu retten. Natürlich geschieht beides, und das Spannende an der Geschichte ist eigentlich nur, wie finessenreich das in einem regelhaften Military-Actionfilm erzählt wird, wie dabei die Genremuster variiert werden und wie das Narrativ eine Geschichte weiterspinnt, die fast 40 Jahre früher begann.
Das hängt auch mit den Tropen zusammen, die zu jedem Film gehören wir die Butter zum Brot. Unter einer Trope (im Deutschen auch ‚Tropus‘) genannt, versteht man nicht nur Erzählmuster, sondern solche, die in ihrem Kern aus sich wiederholenden Motiven bestehen oder sich an die sattsam bekannten Konventionen halten. Im Genrefilm das A und O der Erzählung.
Wenn das Schlüsselthema aufgebaut wird, kommt man ohne dieses narrative Rüstzeug nicht aus. Und das geht in
„Top Gun: Maverick“ so: der übermächtige Held muss ganz unten aufschlagen, er muss verachtet, malträtiert und ins Abseits gestellt werden, damit er wider alle Erwartungen wie der Phönix aus der Asche „auferstehen“ kann.

Sergio Corbucci hat dies in „Django“ auf die Spitze getrieben, als seiner Hauptfigur die Hände verstümmelt werden. Für den Virtuosen mit dem Colt ein Todesurteil, aber Corbucci ließ Django nicht sterben. Selbst als Krüppel war Django im Showdown schneller als die Killer des Oberschurken. Corbucci hatte also ein Gespür für Tropen, er spitzte die Konventionen so zu, dass sie völlig absurd wurden, aber immer noch funktionierten. „Django“ wurde zu einem Kultfilm des Spaghetti-Western.
In „Top Gun: Maverick“ läuft es nicht anders ab. „Maverick“ wird mit von seinem neuen Vorgesetzten Vizeadmiral Beau „Cyclone“ Simpson, den Jon Hamm („Mad Men“) mit eisiger Verachtung spielt, nur so lange geduldet, bis „Iceman“ stirbt und sein Protegé nicht mehr schützen kann. Nach einem Zwischenfall während des extrem belastenden Trainings wird Maverick erneut gefeuert. Nun ist er ganz unten angekommen. Und danach kann es endlich losgehen.

Joseph Kosinskis Film erfindet das Rad also nicht neu. Im Gegenteil: Sein Film funktioniert in großen Zügen wie Tonys Scotts Geschichte über Bewährung und Heldentum, über Kameradschaft und Teamgeist. Immer die Tropen des Genres im Auge behaltend. Perfekt funktionieren kann dies aber nur, wenn es neben dem Thema auch einen emotionalen Schlüsselkonflikt gibt, der für die Hauptfigur kaum lösbar ist. Und der verknüpft den ersten Top Gun-Film mit seinem Sequel. In Mavericks Trainingsgruppe ist nämlich der von Miles Teller gespielte Lt. Bradley „Rooster“ Bradshaw, der Sohn seines alten Freundes „Goose“, der im 1984er-Top Gun bei einem Trainingsunfall ums Leben kam. Viele Jahre später versprach Maverick der Witwe seines Freundes, um jeden Preis zu verhindern, dass dieser Pilot wird. Dies gelang Maverick aber nur begrenzt – nun ist „Rooster“ im Team und alles droht sich zu wiederholen.
Thema und Schlüsselkonflikt laufen also genauso ab, wie es die Konventionen verlangen. Und jeder, der über etwas Phantasie verfügt, ahnt, dass er eigentlich keine braucht, denn mit naturgesetzlicher Kraft kann Maverick die Mission nur dann retten, wenn sein emotionaler Konflikt auch gelöst wird. So funktioniert Kino.
In Kosinskis Film geschieht dies wie bei Corbucci hart an der Grenze zur Absurdität und am Ende fühlt sich „Top Gun: Maverick“ so an, als würde man „Mission: Impossible“ sehen. Und irgendwie ist das keine Überraschung, denn das Drehbuch schrieb Christopher McQuarrie zusammen Ehren Kruger und Eric Warren Singer, und McQuarrie hatte bereits in einigen M:I-Filmen Regie geführt und das Drehbuch beigesteuert.

Guilty Pleasures

Man könnte gegen so eine Geschichte den Begriff „Klischee“ ins Feld führen. Oder Schlimmeres. Etwas milder könnte man dagegenhalten, dass der Film seine Konventionen ernst nimmt. Da gibt es den arroganten Piloten „Hangman“ (Glen Powell), der übergroß an den jungen Maverick erinnert. Und da ist auch die passende Love Affair für Maverick in Gestalt von Penelope „Penny“ Benjamin (Jennifer Connelly), die sich eigentlich nicht auf einen Verrückten einlassen will. Wiederholung oder Variation?
Der Zuschauer befindet sich auf jedem Fall auf bekanntem Erzählterrain, aber manche Filme funktionieren halt, weil sie Überraschungen vermeiden. Und das funktioniert auch in „Top Gun: Maverick“ - der Film ist eine pathetische Oper, die immer die gleiche Geschichte erzählt, aber man geht trotzdem hin, weil man sehen und hören will, wie die Sänger das Vertraute interpretieren.

Dass dies auch in Kosinskis Film klappt, ist keine Überraschung. Das hat zwei Gründe: die Action ist brillant, der Hauptdarsteller ist es auch. 
Im Gegensatz zu „Top Gun“, bei dem man im großen Finale die Orientierung verlor, weil man irgendwann nicht mehr wusste, wer da in welcher Maschine kämpfte, ist der Showdown im neuen Film perfekt choreographiert. Die Mission wurde zuvor so lang und breit erklärt, dass jeder Zuschauer genau wissen konnte, was in einer Mission, die nur wenige Minuten dauern würde, minuziös gelingen muss. Nämlich nicht weniger und nicht mehr als das Unmögliche.

Der Film funktioniert auch wegen seinem Hauptdarsteller. Tom Cruise spielt erkennbar gegen sein Alter an, aber noch nicht auf verzweifelte Weise. Denn die Art, wie Cruise diese ambivalente Figur mimt, ist faszinierend. 1984 war sein Maverick ein leicht narzisstischer und ziemlich ungezogener Egomane und Womanizer. Fast 40 Jahre später ist die Figur ein Relikt, Mavericks Tage sind gezählt, er ist aber reifer und reflektierter geworden. Und auch wenn seine Figur kein Halbgott ist, so spielt Cruise dieses Defizit mit jungenhaftem Charme so elegant weg, dass man sich am Ende nicht dafür schämt, diesen sauspannenden Film zu mögen.
Er gehört halt zu den Guilty Pleasures. Den
klammheimlichen Spaß, den man hatte, würde man vor anderen am liebsten verbergen. Aber es wäre daher unehrlich, ihn aus ideologischen Gründen zu verreißen. Auch wenn er dem Zuschauer die bekannten Sedativa verabreicht, um Kriegsfilme in diesen verrückten Zeiten überhaupt noch goutieren zu können.

„I fucking love Top Gun: Maverick. I thought it was fantastic”, hörte man von Quentin Tarantino, der den Film als „true cinema” erlebte. Wechselt man die Perspektive, dann ist Joseph Kosinskis Film nicht anderes als Kriegspropaganda, wie Ward Sutton im Boston Globe analysierte: „The most powerful propaganda is that which is not easily distinguished as propaganda. Movies like Top Gun: Maverick shape public perception of war, and the military has a hand in crafting these films." Recht haben sie beide.


Noten: BigDoc = 2


„Top Gun: Maverick“ – USA 2022 – Regie: Joseph Kosinski – Drehbuch: Christopher McQuarrie, Ehren Kruger und Eric Warren Singer – Laufzeit: 130 Minuten – FSK: ab 12 Jahren - D.: Tom Cruise, Miles Teller, Jennifer Connelly, Jon Hamm, Ed Harris, Val Kilmer, Glen Powell.